Verantwortliche Souveränität
Ein Orientierungsprinzip für das 21. Jahrhundert
Die Politik des Containment war eine Grand Strategy, die den USA und ihren Verbündeten Orientierung bot. Die dynamischen Machtverhältnisse dieses Jahrhunderts aber erlauben keine Grand Strategy mehr. Ein Konzept der „verantwortlichen Souveränität“, das sich auf effektive Regierungsführung konzentriert, wäre ein hilfreiches Orientierungsprinzip.
Eine Grand Strategy entwirft ein Bild, wie die Welt ist, entwickelt eine Vorstellung, wie sie sein sollte und benennt Richtlinien, wie diese Vorstellung umgesetzt werden könnte. Grand Strategies dienen dazu, das internationale Umfeld zu gestalten, um mit ihrer Hilfe die Architektur einer internationalen Ordnung zu prägen, auf die außenpolitischen Entscheidungen anderer Staaten einzuwirken und den Systemcharakter anderer Staaten zu beeinflussen oder sogar zu bestimmen. Eine erfolgreiche Grand Strategy sollte eindrücklich argumentiert sein. Sie bietet einen Referenzrahmen, der hilft, Leitlinien für die unterschiedlichsten politischen Bereiche zu entwickeln und über die Bereitstellung diplomatischer, institutioneller, ideeller, militärischer und wirtschaftlicher Ressourcen zur Umsetzung dieser Politik zu entscheiden. Sie genießt die Unterstützung anderer Akteure im internationalen System, die diese Vision teilen, auch wenn deren materieller Beitrag bescheiden bleibt.
Eine Grand Strategy zu entwickeln gelingt nur selten, ist es doch äußerst kompliziert, eine Vision, politische Leitlinien und die notwendigen Ressourcen in Einklang zu bringen. Manche scheitern, weil deren Entwurf einer Welt, wie sie sein sollte, nicht realisierbar ist. Anderen sind institutionelle Grenzen gesetzt oder es fehlt ihnen an nationaler wie internationaler Unterstützung.
Selten liegt der Entwicklung einer Grand Strategy eine klar formulierte Vision zugrunde. Für einen derart rationalen Prozess ist das internationale Umfeld mit seinen vielfältigen Akteuren, gegensätzlichen Interessen, einer sich stetig verändernden technologischen Dynamik und der permanenten Möglichkeit plötzlich eintretender unerwarteter Ereignisse zu komplex. Meist kristallisiert sich eine Erfolg versprechende Grand Strategy erst nach ausgiebigen Diskussionen und mehreren Rückschlägen heraus, wenn schließlich doch grundsätzliche politische Leitlinien, die dafür notwendigen Ressourcen und eine allumfassende Vision zu einem Überbau zusammengefügt werden können. Die besten Voraussetzungen für einen solchen Prozess sind gegeben, wenn die beiden wichtigsten Variablen des internationalen Systems – nämlich Macht und Überzeugungen – ähnliche Bruchstellen aufweisen. Am deutlichsten war dies während des Kalten Krieges der Fall, als die Welt in zwei von Supermächten geführte Teile zerfiel, die auch eine bestimmte Überzeugung beziehungsweise Ideologie repräsentierten.
Die erfolgreichste Grand Strategy der vergangenen 200 Jahre war dann auch die Politik der Eindämmung. Bismarcks Dreikaiserbund wiederum ist ein Beispiel für das Auseinanderklaffen der beiden Variablen Macht und Überzeugungen an unterschiedlichen Schnittstellen. Das im Juni 1881 abgeschlossene geheime Neutralitätsabkommen zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Russland war zwar ein beeindruckender Versuch Bismarcks, Deutschlands territoriale und politische Gewinne nach dem französisch-preußischen Krieg von 1871 zu sichern. Aber am Ende scheiterte der Dreikaiserbund nicht nur an Bismarcks impulsiven Nachfolgern. Ausschlaggebend war die Tatsache, dass sich Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland zwar in ihrem politischen Charakter und damit auf dem Sektor „Überzeugungen“ ähnelten. Nicht zuletzt wegen der wachsenden Macht Deutschlands näherte sich Russland aber doch Frankreich an, mit dem es schließlich ein festes Bündnis einging. Die von Bismarck so gefürchtete Zweifrontenlage für das Deutsche Reich war damit Realität geworden.
Eine erfolgreiche Grand Strategy erfordert neben all den oben genannten Merkmalen auch eine staatliche Organisationsstruktur, die die vorgezeichneten Leitlinien umsetzen kann und nicht zuletzt innenpolitische Unterstützung, die es erst erlaubt, die für die Umsetzung notwendigen finanziellen Ressourcen bereitstellen zu können. Eine solche Unterstützung in der eigenen Gesellschaft wird wahrscheinlicher, wenn die Variablen Macht und Überzeugung wie im Kalten Krieg an klaren, identifizierbaren Bruchlinien liegen.
Kooperation oder Eindämmung?
Mit der Politik der Eindämmung entwickelten die USA eine Grand Strategy, die die Außenpolitik Amerikas bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion bestimmte und alle oben genannten Kriterien erfüllte. Sie bot eine schlüssige und weitgehend stimmige Analyse der Welt, ermöglichte der Politik in vielen Bereichen eine Orientierung, gebot eine mit diesem Ziel notwendig gewordene Neustrukturierung des Regierungsapparats und wurde in den USA selbst und von Verbündeten in der ganzen Welt unterstützt. Auch diese Grand Strategy war anfangs kein systematischer, rationaler Neuentwurf der Weltordnung. Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde in den USA eine hitzige Debatte darüber geführt, wie denn eine Nachkriegsordnung zu gestalten wäre. Franklin D. Roosevelt, dessen gesundheitlicher Zustand sich im Laufe des Jahres 1944 ohnehin rapide verschlechterte, hatte sich nie zu einer abschließenden Einschätzung Stalins oder der Sowjetunion durchringen können. Als Harry S. Truman Präsident wurde, besaß er ebenfalls keinerlei klare Zukunftsvision. Selbst als er 1947 seine Truman-Doktrin verkündete, die versprach, „allen Völkern Beistand zu leisten, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist“, und auch noch, nachdem US-Außenminister George C. Marshall 1948 ein „European Recovery Program“ in die Wege leitete, war man sich in den USA noch immer nicht über Charakter und Absichten der Sowjetunion einig. Dass man auch Moskau anbot, am European Recovery Program teilzunehmen, zeugt vom Fehlen einer übereinstimmenden Einschätzung. Diese Einladung, wie auch die Mitgliedschaft der Sowjetunion im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, war eher mit einer Strategie der Koexistenz und Kooperation vereinbar als mit einer Politik der Eindämmung. Truman förderte zwar die Gründung der NATO und die Vereinigung der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands zur Bundesrepublik – vor 1950 jedoch war diese Politik noch keinem eindeutigen Ziel zugeordnet.
Allianzen, Auslandshilfe, Interventionen
Erst der 1950 verfasste National Security Council Report Nr. 68 (NSC 68) schrieb die Politik des Containment fest und wurde zum wesentlichen Strategiepapier der Vereinigten Staaten. Das Memorandum enthielt alle konzeptionellen Elemente, die eine Grand Strategy ausmachen: eine kohärente Weltsicht, das Bestreben, eine internationale Ordnung zu gestalten sowie den Ansporn, die innenpolitischen Strukturen anderer Staaten zu verändern. Der Bericht konstatierte, dass die Sowjetunion von einem „neuen fanatischen Glauben geleitet werde“ und dass die Probleme, vor denen die USA stünden, von außerordentlicher Tragweite seien. Es ginge nämlich „nicht nur um Erfolg oder Scheitern dieser Republik, sondern der gesamten Zivilisation“. Einen Krieg lehnten die Verfasser ab, da sich beide Supermächte im Besitz von Atomwaffen befanden. Doch sollten die osteuropäischen Satellitenstaaten dem Einfluss Moskaus so weit entzogen werden, dass sie sich vielleicht gänzlich lösen könnten. Zusammenfassend stellten die Autoren fest, dass „eine schnelle und nachhaltige politische, wirtschaftliche und militärische Stärkung der freien Welt und eine klar formulierte eigene Politik es uns ermöglichen sollten, der Sowjetunion die Zügel aus der Hand zu nehmen; wir müssen zeigen, dass die freie Welt die Entschlossenheit und Fähigkeit besitzt, um den Kreml daran zu hindern, die Welt nach seinen Vorstellungen zu prägen. Jenseits einer kriegerischen Auseinandersetzung ist das die einzige Möglichkeit, die den Kreml dazu bringen könnte, seinen derzeitigen Kurs zu ändern und in wichtigen Bereichen akzeptable Kompromisse zu verhandeln.“
Die Strategie der Eindämmung prägte die amerikanische Politik von den fünfziger bis zum Ende der achtziger Jahre. Sie führte zu einer Veränderung in der institutionellen Struktur der Regierung in Washington: Das Verteidigungsministerium und der Nachrichtendienst CIA, beide in den späten vierziger Jahren gegründet, wurden mit größeren Kompetenzen ausgestattet. Die United States Information Agency (USIA) wurde 1953 etabliert, die Behörde für Internationale Entwicklung (USAID) im Jahre 1961.
Um den Einfluss der Sowjetunion zu beschränken, setzten die USA einige recht ambitionierte Vorhaben um. Sie schmiedeten Allianzen in Europa, Asien, dem pazifischen Raum und Lateinamerika. Sie unterstützten die europäische Integration. Sie förderten den Einfluss der beiden „Bretton-Woods-Schwestern“ Weltbank und Internationaler Währungsfonds, die Washington in den vierziger Jahren noch vernachlässigt hatte. Auslandshilfe wurde ein Instrument der Außenpolitik. Die Vereinten Nationen, deren organisatorische Struktur eher Roosevelts Vorstellung von Kooperation widerspiegelte als eine Politik des Containment, wurden weitgehend ignoriert, mit Ausnahme der Resolutionen des Sicherheitsrats, die das militärische Eingreifen in den Korea-Krieg legitimierten. Sie wurden nur verabschiedet, weil die Sowjetunion zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs den Sicherheitsrat boykottiert hatte.
Alle heimlichen und offenen Interventionen der USA während des Kalten Krieges waren von der Sorge über eine Ausbreitung des Kommunismus geprägt. In Korea und Vietnam kämpfte man offen gegen Kommunisten. Aber auch die verdeckten Interventionen der USA im Iran und in Guatemala, im Kongo, auf Kuba, in der Dominikanischen Republik, in Chile, Nicaragua und Granada dienten dazu – das jedenfalls glaubten (manchmal auch irrtümlich) die dafür Verantwortlichen –, einem kommunistischen Gegner oder zumindest einem Sympathisanten der Sowjetunion Einhalt zu gebieten. Die Intervention in Panama vom Dezember 1989 war die einzige, die nicht von der Furcht vor dem Kommunismus geprägt war. Damals hatte der Zerfall der Sowjetunion bereits begonnen.
Die Politik des Containment wurde großzügig finanziert. Die Verteidigungsausgaben stiegen während des Korea-Krieges von fünf auf 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, pendelten sich dann bis 1970 bei acht bis zehn Prozent ein, sanken nach dem Vietnam-Krieg auf etwa fünf Prozent und wurden in den achtziger Jahren wieder auf etwa sechs Prozent erhöht. Außer in „echten“ Kriegszeiten waren die Verteidigungsausgaben der USA nie so hoch wie in diesen Jahren. Auch die Innenpolitik war von der Strategie des Containment beeinflusst. 1956 wurde der hauptsächlich von Washington finanzierte „National Interstate and Defense Highways Act“ verabschiedet – der Bau eines landesweiten Autobahnnetzes, das unter anderem auch schnellere Truppenbewegungen ermöglichte. Der „National Defense Education Act“ wurde 1958 auf den Weg gebracht, um dem erfolgreichen sowjetischen Raumfahrtprogramm etwas entgegensetzen zu können.
Nicht jede Politik im Rahmen des Containment war erfolgreich. Der Korea-Krieg endete mit der Teilung des Landes und einer Pattsituation. Die Idee, den sowjetischen Einfluss nicht nur einzudämmen, sondern zurückzudrängen, erwies sich spätestens 1956 als inhaltsleer, als der Westen während des Einmarschs der Sowjetunion in Ungarn untätig blieb. Fidel Castros Revolution in Kuba musste Washington akzeptieren und den Vietnam-Krieg verloren die USA. Trotzdem war die Politik der Eindämmung am Ende ein Triumph.
Von der Grand Strategy zu Orientierungsprinzipien
Nur selten und nur in den wenigsten Ländern lag der jeweiligen Außenpolitik eine Grand Strategy zugrunde. Die offensichtlichste Alternative zu einer Grand Strategy ist es, überhaupt keine Strategie zu haben. Politische Entscheidungsträger versuchen dann, weniger ideologische oder von Überzeugungen geprägte, sondern wirtschaftliche und Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Das Umfeld, in dem dies stattfindet – die internationale Ordnung oder die inneren Machtstrukturen anderer Länder –, wird als gegeben hingenommen.
Sich auf ein oder mehrere Orientierungsprinzipien zu verlassen, wäre eine zweite Alternative zu einer Grand Strategy. Eine Außenpolitik, die auf einem oder mehreren Orientierungsprinzipien beruht, unterscheidet sich in vier Punkten von einer Grand Strategy: Erstens konzentrieren sich diese Prinzipien auf bestimmte Aspekte oder Bereiche. Weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene gibt es eine übereinstimmende Analyse des gegenwärtigen Zustands der Welt oder wie dieser Zustand verändert werden könnte. Es ist folglich alles andere als gewiss, welche Politik die effektivste wäre und dementsprechend kann es auch keine klaren Entscheidungen über die Bereitstellung notwendiger Ressourcen geben. Beispiele für Orientierungsprinzipien wären die Reduktion von Treibhausgasen, Stabilität im Finanzsektor, Handelsfreiheit oder auch das Prinzip der Schutzverantwortung. Eine auf Orientierungsprinzipien beruhende Außenpolitik berücksichtigt zweitens mehr als kurz- und mittelfristige Interessen und unterscheidet sich deshalb von einer nur ad hoc handelnden Politik. Sie hat drittens größere Chancen, mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet zu werden. Und viertens können Orientierungsprinzipien dazu dienen, weit reichende innenpolitische Unterstützung zu generieren, auch wenn es nicht gelingt, einen Konsens auf internationaler Ebene zu erzeugen.
Einbindung und Erweiterung
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Kommunismus als konkurrenzfähigem ideologischen Gegenentwurf zum demokratischen Westen bedeutete das Ende der Eindämmungspolitik. Seit 1990 vermochten die USA keine erfolgreiche Grand Strategy mehr zu formulieren. Amerikas Außenpolitik beruhte auf Orientierungsprinzipen, nicht auf einer Grand Strategy. Die erste Nationale Sicherheitsstrategie der Clinton-Regierung mit dem Titel „Eine Sicherheitsstrategie der Einbindung und Erweiterung“ (A National Security Strategy of Engagement and Enlargement) formulierte als Ziel, Demokratie zu fördern, die Architektur der internationalen Ordnung – vor allem im Bereich der Wirtschaft – zu renovieren, und andere Länder in diese Architektur einzubinden. Die Erweiterung der NATO und der Europäischen Union spiegelt diese Orientierungsprinzipien ebenso wider wie die Gründungen der Welthandelsorganisation und der Abschluss des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). Die Anzahl demokratischer Staaten stieg von etwa 60 auf 80.
Das Prinzip der Einbindung und Erweiterung scheiterte jedoch, weil es die Gefahr eines international agierenden Terrorismus verkannte. Die amerikanische Öffentlichkeit ließ sich damit nicht mobilisieren; folglich konzentrierte sich die Clinton-Regierung auf innenpolitische Angelegenheiten. Nachdem im Oktober 1993 zwei amerikanische Helikopter bei dem Versuch abgeschossen wurden, enge Vertraute des somalischen Kriegsherrn Mohammed Farah Aidid in Somalias Hauptstadt Mogadischu gefangen zu nehmen und dabei 18 Soldaten getötet wurden, zog Washington seine Truppen aus Somalia ab. Die Luftangriffe gegen Serbien wurden aus sehr großen Höhen geflogen, um die Wahrscheinlichkeit amerikanischer Todesopfer so gering wie möglich zu halten. Es ist wenig überraschend, dass die Verteidigungsausgaben in den neunziger Jahren auf drei Prozent des BIP fielen, das niedrigste Niveau seit 60 Jahren. Ein bezeichnendes Beispiel für die unzureichende Ausstattung mit Ressourcen war der Rückgang von Auslandshilfen, die auf 0,22 Prozent des Haushalts und damit um zwei Drittel im Vergleich zu den achtziger Jahren reduziert wurden.
Präventive Präemption und Demokratisierung
Jegliche Vorstellung, die man sich in den USA über die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges gemacht hatte, geriet mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Wanken. Die Nationale Sicherheitsstrategie von 2002 griff dieses Problem auf und stellte einen kohärenten Ansatz vor, wie der Bedrohung eines international agierenden Terrorismus zu begegnen wäre. „Das Zusammenspiel von Radikalismus und Technologie“ identifizierten deren Verfasser als die „Besorgnis erregendste Bedrohung“ der Sicherheit Amerikas. Daraus müsse folgen, dass die USA und deren Verbündete ihre bisherige Auffassung einer unmittelbaren Bedrohung und folglich auch eines Präventivkriegs revidieren müssten. Terroristen, die über nationale Grenzen hinweg aktiv seien, würden ihre bewaffneten Kräfte schließlich nicht sichtbar mobilisieren. In seinem Vorwort zur Sicherheitsstrategie schrieb Präsident George W. Bush: „Die Ereignisse des 11. September 2001 haben uns gelehrt, dass schwache Staaten wie Afghanistan unsere nationalen Interessen ebenso sehr bedrohen wie starke Staaten.“ Wie alle ihre Vorgänger betonte auch die Bush-Regierung, dass die USA für die Förderung von Freiheit und Demokratie stünden. Anders als ihre Vorgänger aber brachte sie diese Förderung in einen direkten Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit Amerikas. Sie betrachtete den islamistischen Radikalismus als direkte Folge politischer Unterdrückung vor allem in der arabischen Welt. Auf lange Sicht könnte man dieser Herausforderung nur mit der Verbreitung von Demokratie und Frieden begegnen. Demokratisierung und die Neudefinition einer „unmittelbaren Bedrohung“ sind die Kernelemente der Bush-Doktrin.
Als Grand Strategy ist die Politik der Bush-Regierung gleich in dreierlei Hinsicht gescheitert: Der Begriff „preventive preemption“ hat in anderen Staaten eher Beunruhigung ausgelöst als Unterstützung hervorgerufen. Es gab keine Einigkeit über das Ausmaß der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Viele traditionelle Verbündete der USA begriffen den Terrorismus als kriminellen Akt, dem mit klassischen Mitteln des Strafrechts beizukommen sei, und nicht als eine neue Form des Krieges, der auch außergewöhnliche politische und rechtliche Maßnahmen erlaube wie Auslieferungen von Verdächtigen an Staaten, in denen Folter praktiziert wird, oder Internierungen auf unbestimmte Zeit. Es sei „die Politik der Vereinigten Staaten, die Verbreitung demokratischer Bewegungen und Institutionen in jeder Nation und Kultur anzustreben und zu stärken mit dem höchsten Ziel, die Tyrannei in dieser Welt zu beenden“, verkündete George W. Bush 2007 in seiner zweiten Rede zur Lage der Nation. Aber auch derart hochtrabende Ziele waren kaum in die Realität umzusetzen. Die Strahlkraft der bunten Revolutionen in Osteuropa des Jahres 2005 war zwei Jahre später bereits verblasst.
Die Nationale Sicherheitsstrategie der Regierung Obama vom Mai dieses Jahres gibt sich bescheidener als die der beiden Vorgängerregierungen. Eine Grand Strategy ist auch sie nicht. Sie wurde inmitten einer wirtschaftlichen Rezession verfasst und während die USA im Irak und in Afghanistan Kriege führen, deren Ausgang ungewiss ist. Dementsprechend betonen die Verfasser auch, wie wichtig es für die USA sei, zunächst ihre nationale Stärke durch innenpolitische Maßnahmen wie einer Reform des Gesundheitssystems oder Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie wieder zu erlangen. Als einziges Orientierungsprinzip dieses Memorandums darf ein neuer Multilateralismus gelten.
Verantwortliche Souveränität
Alle Versuche der vergangenen beiden Jahrzehnte, eine Grand Strategy für die Vereinigten Staaten zu entwickeln, blieben bescheiden – oder wurden gar nicht erst unternommen. Das sagt mehr über die Schwierigkeit der Aufgabe als über die (In-)Kompetenz dreier amerikanischer Regierungen. Die Zersplitterung und die Ungewissheiten des internationalen Umfelds machen es derzeit unmöglich, eine erfolgreiche Grand Strategy zu erarbeiten. Das Konzept einer „verantwortlichen Souveränität“ jedoch hat das Potenzial für ein Orientierungsprinzip, auf dem die Politik der USA oder anderer großer Staaten aufbauen könnte. Es besagt im Grunde, dass stabil geführte Staaten die Grundvoraussetzung für inner- und zwischenstaatlichen Frieden und Wohlstand sind. Nur wenn einzelne Staaten imstande sind, ihre Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen, ist auch auf internationaler Ebene mehr Ordnung und Gerechtigkeit möglich – sowohl durch ein funktionierendes Gewaltmonopol innerhalb dieser Staaten als auch als Garant für die Einhaltung zwischenstaatlicher Abkommen.
Das größte Sicherheitsrisiko vergangener Jahrhunderte – ein Krieg zwischen Großmächten – ist passé. Die Zerstörung, die ein Atomkrieg anrichten würde, hat jede Kosten-Nutzen-Rechnung eines Krieges ad absurdum geführt. Weil aber Massenvernichtungswaffen auch in die Hände islamistischer Terroristen geraten können, sind schlecht regierte, schwache und zerfallende Staaten heute die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten, die Stabilität der derzeitigen Weltordnung und die politische Kultur der großen demokratischen Industrieländer. Der jährlich vom Magazin Foreign Policy erstellte „Failed-States Index“ listet in diesem Jahr unter den 15 Staaten mit den schlechtesten Werten neun Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit auf. Simbabwe, das nach Somalia, dem Tschad und dem Sudan einen unrühmlichen vierten Platz einnimmt, kann man als sicheren Hafen für Terroristen wohl eher vernachlässigen. Somalia, Pakistan und den Jemen hingegen nicht. Die Biografien der Dschihadisten mögen unterschiedlich sein: Unter ihnen findet sich der Enkel eines jüdischen Arztes, der bei Hippie-Eltern im vornehmen Riverside County westlich von Los Angeles aufwuchs und heute Sprecher von Al-Kaida ist ebenso wie ein US-Bürger pakistanischer Herkunft mit College-Ausbildung, der eine Autobombe am Times Square zu zünden versuchte. Doch zerfallende Staaten, in denen viele junge Männer ohne Perspektive leben, sind ideal, um Terroristen zu rekrutieren, sie in eigens dafür errichteten Lagern auszubilden und damit die Wahrscheinlichkeit eines „erfolgreichen“ Attentats um einiges zu erhöhen. Attentate mit Massenvernichtungswaffen wären verheerend; die Herstellung biologischer Waffen wird immer einfacher und sogar Nuklearwaffen sind nicht zuletzt aufgrund der Atomprogramme in Pakistan, Iran, Nordkorea und anderen Staaten nicht unerreichbar für Al-Kaida. Mehrfach-Anschläge selbst mit konventionellen Mitteln, denen hunderte oder tausende Menschen zum Opfer fielen, würden mit hoher Wahrscheinlichkeit die politische und die Rechtskultur der betroffenen Länder erheblich verändern – und das wohl kaum zu Gunsten einer freiheitlichen Grundordnung.
Unterschiedliche Überzeugungen
Trotz dieses Bedrohungsszenarios wird im gegenwärtigen internationalen Umfeld aus folgenden Gründen keine erfolgreiche Grand Strategy zu entwickeln sein: Die Machtverhältnisse sind unsicher und unterliegen beständiger Veränderung. Zwar verfügen die USA immer noch über eine Machtfülle, die nach allen bisherigen Maßstäben unerreicht ist. Die anhaltende wirtschaftliche Stagnation in Japan, das schwache Wirtschaftswachstum in Europa und besonders der Aufstieg Chinas und Indiens könnten diese Situation aber schlagartig ändern.
Zweitens stehen die größeren Mächte für völlig unterschiedliche Überzeugungen. Die USA bleiben dem Locke’schen Ideal individueller Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft verbunden und sind entsprechend ihrer Stärke bereit, militärische Gewalt einzusetzen, um sowohl materielle wie ideologische Ziele zu erreichen. Die großen europäischen Staaten teilen das Bekenntnis der USA zur Demokratie, setzen aber größeres Vertrauen in das Völkerrecht und internationale Organisationen und sind eher zögerlich, auch militärische Gewalt bei der Durchsetzung ihrer Interessen anzuwenden. Russland hat keine klare außenpolitische Vision, außer seine Einflusszone in der unmittelbaren Nachbarschaft zu erweitern und zu festigen. Indien oder zumindest einige indische Politiker sehen eine besondere Rolle für ihr Land aufgrund seiner einzigartigen Kultur und weil es in einer Welt, die zwischen reichen und armen Staaten geteilt ist, eine wichtige Vermittlerrolle spielen könnte. China versucht vor allem, seine eigenen kurz- und mittelfristigen materiellen Interessen möglichst erfolgreich durchzusetzen und vermeidet es deshalb, global Verantwortung zu übernehmen; außerdem kann es der europäischen und amerikanischen Demokratiebegeisterung nur wenig abgewinnen. Japan leidet nicht nur schwer unter zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher Flaute, sondern auch darunter, dass es seine geografische Lage kaum erlaubt, sich von der amerikanischen Schutzmacht zu lösen.
Drittens fehlt es den mächtigeren Staaten an einem gemeinsamen Verständnis zentraler Merkmale des internationalen Umfelds. Insbesondere sind sie sich uneins über Art und Ausmaß der Bedrohung, die aus der Verknüpfung von internationalem Terrorismus und Massenvernichtungswaffen erwächst. Dass die Bedrohung existiert, steht fest. Was jedoch nicht feststeht ist, ob und wann die Bedrohung tatsächlich in Form von Terroranschlägen mit tausenden oder zehntausenden Toten in die Tat umgesetzt werden könnte. Ist die Wahrscheinlichkeit so gering, dass sie zu vernachlässigen wäre? Liegt sie bei einem Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre? Bei zehn oder gar 50 Prozent? Hinzu kommen unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie der Bedrohung begegnet werden sollte. Die Antworten reichen von Vertrauen in das bestehende Strafrecht bis hin zu bewaffneter Intervention und Internierung von Terrorverdächtigen auf unbestimmte Zeit.
Angesichts dieser Ungewissheiten wäre es angebrachter, ein Orientierungsprinzip zu entwickeln, das es erlaubt, für eine gewisse Zeit Richtlinien auf bestimmten Gebieten zu entwickeln, anstatt eine Grand Strategy zu entwerfen. Das Prinzip einer „Responsible Sovereignty“ wäre eine der besten Optionen. Deren zentrales Ziel wäre es, zunächst einmal eine Welt zuverlässig regierter Staaten anzustreben. Diese Staaten wären in der Lage, Recht und Ordnung innerhalb ihrer Grenzen und darüber hinaus zu gewährleisten und eine Grundversorgung für ihre Bürger bereitzustellen. Sie würden nach dem Prinzip handeln, dass jede Politik, die auch jenseits der nationalstaatlichen Grenzen Konsequenzen zeitigt, in Verhandlungen abzustimmen ist, aber dass es keine Garantien geben kann, dass solche Verhandlungen auch zum Erfolg führen. Das Prinzip einer „verantwortlichen Souveränität“ wäre – und wenn nur als Lippenbekenntnis – für die politischen Entscheidungsträger sowohl schlecht wie gut regierter Staaten attraktiv: Politischen Führern in schwachen Staaten geht es um die Autonomie ihrer Länder, die Führer starker Staaten ziehen es vor, nicht intervenieren zu müssen. Einbindung und Erweiterung, die beiden Leitbegriffe der vergangenen 20 Jahre, sind ohne halbwegs funktionierende Staaten nicht umsetzbar.
Als ein Orientierungsprinzip und nicht als Grand Strategy wäre der Begriff der verantwortlichen Souveränität geeignet, einige Aspekte der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und anderer führender Länder zu bündeln, wenn auch nicht alle. Doch selbst wenn man sich wenigstens rhetorisch darauf einigen könnte, dass funktionierende Staaten wünschenswert sind, so herrscht doch Uneinigkeit darüber, wie man Staaten zum Funktionieren bringt. Es gibt keinen Konsens über wirksames Statebuilding. Man hat es mit wirtschaftlicher Förderung versucht, mit dem Aufbau politischer Institutionen oder mit klügerer Unterstützung für lokale Führungskräfte. Als notwendige Übergangslösung haben einige Beobachter auch eine neue Form einer treuhänderischen Verwaltung vorgeschlagen oder ein „Outsourcing“ staatlicher Dienstleistungen. All diese Maßnahmen stünden aber im Gegensatz zu einer verantwortlichen Souveränität, die davon ausgeht, dass Regierungsfunktionen frei von externer Kontrolle ausgeübt werden sollten.
Es gibt hier keinen Königsweg; die Wirksamkeit politischer Strategien hängt von konkreten lokalen Gegebenheiten ab. In Kolumbien war Statebuilding erfolgreich, in Somalia ist es komplett gescheitert. Für den Krieg in Afghanistan haben die USA und ihre Verbündeten ebenfalls substanzielle Ressourcen bereitgestellt. Dennoch bleibt der Kriegsausgang ungewiss.
Die Uneinigkeit unter den mächtigeren Staaten, unterschiedliche Sichtweisen, dynamische Machtverschiebungen und politische Unsicherheiten machen den Entwurf einer Grand Strategy selbst für die Vereinigten Staaten unmöglich. Eine Einigung auf ein Prinzip, das wichtige außenpolitische Aspekte für die USA und andere große Staaten bündelt, ist gegenwärtig die bestmögliche Option. Der Terminus „verantwortliche Souveränität“ hätte rhetorische Zugkraft; er würde auf ein Ziel verweisen, für das Ressourcen eingesetzt werden sollten; er würde lokal wie international unterschiedliche Sichtweisen auf die Art der Sicherheitsbedrohungen erlauben und er würde alternative politische Strategien und Einstellungen zu Statebuilding miteinander in Einklang bringen. Das alles wäre derzeit schon eine enorme Errungenschaft.
© Eine englische Version dieses Artikels wird in der Ausgabe Oktober/November 2010 von Policy Review erscheinen.
STEPHEN D. KRASNER ist Graham H. Stuart Professor für Politische Wissenschaften an der Stanford University.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 10 - 20