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01. Jan. 2017

Unter dem Pflaster – die Repression

Brief aus … Ho-Chi-Minh-Stadt

Wirtschaftswachstum und Parteiwillkür im ehemaligen Saigon

Westeuropäische Studenten, die in den Jahren um 1968 mit „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen ge­gen den Vietnam-Krieg protestierten, hatten damals noch eine weitere Referenz: „Unter dem Pflaster – der Strand“. Macht die 1975 von Saigon in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannte südvietnamesische Metropole diesen Traum jetzt womöglich wahr?

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vieles radikal verändert: Politiker und Wirtschaftsdelegationen aus aller Welt suchen in „HCM City“ Investitionsmöglichkeiten, der Tourismus ist neben dem ­Export landwirtschaftlicher Güter eine der wichtigsten Einkommensquellen des sich ökonomisch rasant öffnenden ­Vietnam. Rund um die überlebensgroße Ho-­Chi-Minh-Statue am Nguyen-Hue-Boulevard sind keine grimmig dreinblickenden Uniformierten mehr postiert, und ihre zivil camouflierten Kollegen ­haben nichts dagegen, wenn südkoreanische, malaysische oder japanische Touristen vor der Onkel-Ho-Statue mit lustigen Schmollmündern Selfies machen oder regionstypisch das V-Zeichen in die Horizontale kippen lassen – Cheeese!

Ist dies nun Subversion quasi von oben her, da doch im Hintergrund des Denkmals weithin sichtbar der Rote Stern auf dem Dach des „Volkskomitee“-Gebäudes weht, eines 1908 von den Franzosen im Stil des Pariser Hôtel de Ville erbauten architektonischen Schmuckstücks? Versucht die Einheitspartei, ihre Onkel-Ho-Ideologie nun via Facebook und Instagram in die Nachbarländer sickern zu lassen? Eher nicht. Die seit Frühjahr 2016 amtierende neue Führungsriege unter KP-Chef General Nguyen Phu Trong will alles andere als den Export einer kommunistischen Lehre, die ohnehin seit dem Reformprogramm von 1986 immer weiter entkernt worden ist. Was bleibt, ist eine folkloristisch-antikolonialistische, bei Bedarf auch gern neonationalistische Herrschaftsideologie, die rote Fahnen und postmoderne Glasbetonwolkenkratzer mühelos vereint.

Und das erträumte Pflaster? Ist seit einiger Zeit zur real existierenden ­Fußgängerzone geworden, zu einer trendigen südostasiatischen Aus­gehmeile, bevölkert von Fashion-­Beautys beiderlei Geschlechts, Straßenmusikern, offensichtlich privaten Fleischspieß­verkäufern und Touristen. Welch schönes Bild. Wäre da nur nicht diese Skandalsache mit dem Fisch. Noch ist nicht sicher, welche Dimension die so genannte ­Formosa-Affäre wirklich hat. Was im April 2016 vor der vietnamesischen Küste passierte und bis heute nachwirkt, hat die Informationspolitik der Regierung unglaubwürdig gemacht. Auf einer Länge von 200 Kilometern war das Meer vergiftet, verendeten Fische, Fischer wurden arbeitslos. Der Schuldige, das taiwanesische Stahlunternehmen Formosa Steel Company, das Schadstoffe ins Wasser geleitet hatte, wurde wochenlang durch Schweigen geschützt, ehe es zu einer lauen Entschuldigung kam. Hatten womöglich, wie auch in anderen Fällen, hohe Parteifunktionäre Schmiergelder erhalten? Die Krise dauert an – und da hilft es auch nicht, Demonstrationen von Umweltaktivisten zu verbieten oder mit Polizeiknüppeln aufzulösen.

Wem kann man trauen?

„Mein Bruder war einer der friedlichen Demonstranten, die wohlweislich nur Fragen auf ihre Transparente geschrieben hatten und vor allem Formosa anklagten. Dennoch hat man ihn kurzzeitig verhaftet und unser Haus durchsucht. Die Geheimdienstleute suchten Beweismaterial; dabei ist keiner von uns ein Oppositioneller, schon gar kein Blogger, denn die begeben sich echt in Gefahr.“ Das Verblüffende hierbei: Gespräche dieser Art, halblaut in schicken Restaurants oder Bars geführt, sind möglich – und zwar bereits nach dem ersten Kennenlernen, wobei man aber immer wachsam bleibt.

Denn wem kann man trauen in einer Stadt, die sich auf trügerische Weise derart liberal gibt, dass inzwischen sogar ein Gay Spa existiert, ein Ort nichtkäuflicher, promiskuitiver Begegnungen in einem charmant kolonial-asiatischen Design-Ambiente? Wie passt all das zusammen? „Solange du konsumierst“, erzählen einheimische Studenten dem auswärtigen Besucher, „ist alles in Ordnung. Sogar im Freundeskreis kannst du die Regierung kritisieren. Aber wehe, du kommst auf die Idee, an der Uni eine Gruppe zu gründen, um gegen den Formosa-Skandal zu protestieren. Oder gegen die Verschandelung unserer Stadt, in der pittoreske Altstadtquartiere Hochhäusern und oft leer stehenden Protzhotels weichen müssen, hochgezogen zur Geldwäsche von Freunden und Strohmännern der Regierung.“

Und der westliche Traum vom Strand unter dem Pflaster? Ha, ein kurzes, zynisches Auflachen der Kommunikativsten aus der jungen Generation. „Hast du in der Fußgängerzone die im Laub der Baumkronen versteckten Videokameras gesehen? Sobald auf dem Boulevard irgendetwas passieren würde, was übers Flanieren hinausginge, kämen aus dem Untergrund die Ordnungskräfte. Untertage haben sie nämlich genau dort ihr Kontrollzentrum, voller Monitore und Bewaffneter“. Unter dem Pflaster – die potenzielle Repression.

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schrift­steller in Berlin. Soeben erschien sein ­Erzählband „Umsteigen in Babylon“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 128-129

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