„Unsere Kommunikation ist mangelhaft“
Nur auf Regierungsebene mit Athen zu sprechen, ist nicht genug
Ein Besuch in Moskau zur Unzeit, Reformpläne, die den Grundübeln Griechenland nicht wirklich zu Leibe rücken – die Arbeit mit der Syriza-Regierung gestaltet sich alles andere als leicht. Aber auch die EU könnte Einiges wesentlich besser machen: Dazu gehört, den Dialog mit der griechischen Bevölkerung zu suchen. Denn es geht nicht nur um Zahlen.
IP: Herr Brok, hat der griechische Staatschef Alexis Tsipras neue Freunde in Moskau gefunden?
Brok: Der Form nach scheint es nichts Kritikwürdiges während seines Besuchs in Moskau gegeben zu haben. Tsipras hat gesagt, dass er sich nicht aus der EU-Außenpolitik lösen wolle und er hat keine Verabredungen getroffen, die ihn in der Schuldenkrise in ein anderes Camp hineinbrächten. Ob es hinter den Kulissen Absprachen beispielsweise über die Sanktionen der EU gegen Russland gibt, weiß man natürlich nicht. Vor allem weiß man noch nicht, wie man die verabredeten Infrastrukturprogramme einschätzen soll. Sie sind ja auch machtpolitische Instrumente. Das Land hat schon wegen seiner Lage eine besondere geopolitische Bedeutung. Sollte es für den Energietransfer eine Schlüsselrolle spielen und gemeinsam mit der Türkei Russland helfen, die Ukraine zu umgehen, wird es kritisch, wobei solche Projekte der Genehmigung durch die EU bedürfen.
IP: Was treibt Tsipras denn an, die russische Karte zu spielen?
Brok: Es gibt in seiner Partei jene, die verärgert über die Lage sind und dies gerne der Europäischen Union anlasten, was in der Sache falsch, aber aufgrund der sozialen Lage nachvollziehbar ist. Jene, die versuchen, für das Land mehr herauszuholen, was auch irreal ist. Und dann gibt es den Flügel der orthodoxen Kommunisten. Leute, die nie mit dem Bürgerkrieg zu Ende gekommen sind, die immer gegen die West-Option, die NATO-Mitgliedschaft, den EU-Beitritt gekämpft haben. Ich glaube nicht, dass Tsipras heute noch zu dieser Gruppierung gehört. Aber das ist die „politische Schule“, aus der er stammt. Da gibt es einige, die aus Überzeugung die politische Nähe zu Russland suchen.
IP: Es geht nicht nur um die Euro-Krise, sondern auch um die Vergangenheit?
Brok: In den Jahren 1946 bis 1949 sind bis zu 150 000 Menschen in den Bürgerkriegen Griechenlands umgekommen. Das sind Traumata, viele Kommunisten sind in die DDR gegangen, auch nach Russland. Das alles ist ein noch immer wirksames Erbe in Griechenland.
IP: Auch in Griechenland kommt also die Geschichte mit Macht zurück?
Brok: Ja, wir lagen falsch, als wir glaubten, dass mit dem Fall der Mauer eine völlig neue Welt entstanden ist. Damit haben wir alte Wunden, kulturelle und religiöse Hintergründe und Kontinuitäten unterschätzt. Diese Ereignisse sind tief verankert – und wir machen in der Außenpolitik den Fehler, dass wir uns immer nur die Zahlen, Daten, Fakten ansehen und nicht die tiefen kulturellen und historischen Zusammenhänge. Solche Kontinuitäten sind aber wesentlich tiefgreifender für das Verhalten von Gesellschaften als augenblickliche Wirtschaftszahlen.
IP: Welche Mittel hätten wir denn, wenn ein EU- und Eurozonenmitglied in die Arme eines Landes fallen will, das sich die Spaltung der EU zum Ziel gesetzt hat?
Brok: Erstens muss man der griechischen Bevölkerung deutlich machen, was dieser harte kommunistische Flügel möchte. Die Mehrheit der Griechen will ja sicherlich nicht in das russische Camp wechseln.
IP: Machen wir das nicht deutlich?
Brok: Nein, das tun wir nicht. Wir reden über Institutionen oder über die Troika und was da konkret gemacht werden muss. Aber das Übergreifende machen wir nicht deutlich im Dialog mit der griechischen Bevölkerung. Das ist ein großer Fehler. Wir haben meines Erachtens auch nicht erkannt, dass innerhalb einer Demokratie die Anforderungen an eine Bevölkerung nur begrenzt sein können. Man müsste auch nicht über die dritte Rentenkürzung reden, sondern über andere Reformprogramme. Auf diese Weise hätten wir glaubhaft machen müssen, dass wir doch Empathie mit den Griechen haben.
IP: Hätte die Kanzlerin sehr viel früher nach Griechenland reisen müssen?
Brok: Aber das hat sie doch gemacht. Es geht ja nicht nur um Staatsbesuche. Unsere Kommunikation war grundsätzlich mangelhaft. Wir äußern uns meist in den Minutenclips fürs Fernsehen – was notwendigerweise unvollständig bleibt. Daraus kann keine Argumentationslinie entstehen, die wir so notwendig bräuchten. Und daraus entsteht eine Konfrontation, denn die Zusammenhänge werden ja gar nicht mehr beschrieben.
IP: Gibt es da nicht einen strukturellen Fehler – Populisten arbeiten gerne mit einfachen „Wahrheiten“, denen man aber komplizierte Zusammenhänge entgegen-setzen muss.
Brok: Das ist ja der Punkt. Wir dürfen nicht nur einen Dialog mit der Regierung führen, der ohnehin schwierig genug ist. Diese Regierung scheint ja im Amt nicht vernünftiger geworden zu sein. Zudem bekommt man den Eindruck, dass Tsipras nicht einmal eine Mehrheit in der eigenen Partei hinter sich hat und dass da Einiges nur deshalb so gesagt wird, damit er sich in der eigenen Partei halten kann. Wir brauchen eine Kommunikation mit der Gesellschaft.
IP: Und wie soll man die in Gang bringen?
Brok: Wir müssten erstens mit der griechischen Bevölkerung den Dialog führen und sehr viel deutlicher machen, welches denn die Alternativen wären. Es gibt eine Reihe von Infrastrukturprogrammen im Tourismussektor und in vielen anderen Bereichen, die außerordentlich positiv sind, aber noch nicht greifen, weil Investoren nicht die politische und rechtliche Sicherheit haben, die nötig ist, um Stabilität wieder herzustellen. Das ist aber entscheidend, auch, um Reformmaßnahmen durchzusetzen. Wir müssen auch klar vermitteln, dass es bei den Spar- und Reformmaßnahmen nicht immer nur um den sozialen Bereich gehen kann, sondern dass wir Wachstum fördernde Maßnahmen ergreifen müssen und auch wollen. In Irland und Portugal hat das funktioniert, dort gibt es bis zu 5 Prozent Wirtschaftswachstum. Portugal bittet gerade da-rum, seine Kredite vorzeitig zurückzahlen zu dürfen.
IP: Warum ist Griechenland so ein schwieriger Fall?
Brok: Seit 35 Jahren gibt es in Griechenland eine Haltung des „Alle, besonders die Europäische Union, sind gegen uns“. Dennoch, oder gerade deshalb, brauchen wir den Dialog, um dieses so tief verwurzelte „Die ganze Welt ist gegen uns, aber wir haben Recht“ zu durchbrechen. Das äußert sich ja auch in dem Gefühl, Griechenland sei am schlimmsten vom Zweiten Weltkrieg betroffen worden. Diese Art von Selbstmitleid ist natürlich ein Hemmschuh, denn es entspricht einer Grundhaltung: Nicht wir müssen dazu beitragen, uns aus dieser Krise hervorzuarbeiten; alle anderen sind dafür zuständig.
IP: Gehört zum Dialog mit der Bevölkerung auch ein Wort über die griechische Elite, die offensichtlich keine Verantwortung für ihr Land übernehmen will und Steuerzahlungen grundsätzlich für eine Zumutung hält?
Brok: Wohl in keinem anderen europäischen Land haben die Eliten während der vergangenen fast vier Jahrzehnte ihre Bevölkerung wirtschaftlich und politisch so betrogen wie in Griechenland. Auch das muss man gegenüber der Bevölkerung ansprechen. Ihr gilt ja auch unsere Solidarität. Außerdem müssen wir deutlich machen, dass diese horizontale Steuerpolitik, an der man seit Jahren festhält, ganz falsch ist. Wo wäre denn da der Solidarbeitrag der Reichen? Auch Syriza hat die horizontale Steuerpolitik mit ihren Programmen zur Verlängerung von Rückzahlungen bei Steuerhinterziehungen wieder festgeschrieben. Der Kleinstschuldner wird also genauso belangt wie derjenige, der dem Staat Millionen schuldet. Wir müssen klipp und klar sagen, dass das nicht der europäische Wille ist, sondern dass wir die Reicheren mehr zur Kasse bitten möchten als die Ärmeren.
IP: Herr Brok, Sie sind ja linker als die Syriza! Warum fällt es einer linken Partei wie Syriza so schwer, die Reichen zu besteuern?
Brok: Wäre ich gemein, würde ich jetzt sagen: Weil Finanzminister Varoufakis Angst um sein schönes Penthouse hat? Aber das gibt es ja in vielen Parteien, dieses Phänomen – links reden und rechts leben.
IP: Mit einer wirklich linken Politik könnte Syriza doch punkten?
Brok: Offensichtlich ist es aber leichter, die EU zu bezichtigen, dass wir Sozialkürzungen wollen. Und hier kann ich wieder nur sagen: Das ist eine Frage der Kommunikation. Wie wäre es denn, wenn alle vier Wochen ein EU-Kommissar in jedes EU-Mitgliedsland reisen und dort die Kommunikation mit der Öffentlichkeit oder den Medien suchen würde? Brüssel muss die politische Diskussion offensiv in den Mittelpunkt zwingen.
IP: Das ist nicht einfach für einen eher beamtischen als politischen Apparat …
Brok: Das mag stimmen, aber jetzt haben wir eine politische Kommission. Eine Kommission, deren Präsident gewählt wurde. Und da muss sich eben auch die Kommunikationskultur ändern. Sie muss schneller und direkter werden. Es reicht doch nicht mehr, ein Informationsbüro zu haben, in dem hübsche Broschüren in Vierfarbdruck ausliegen – aber wenn es einer Richtigstellung von Medienberichten bedarf, dann vergehen sechs Wochen, bis irgendetwas kommt.
IP: Finanzminister Schäuble hat jüngst in New York noch einmal betont, er sähe keine „finanzielle“ Ansteckungsgefahr eines „Grexit“. Wie aber steht es mit der politischen Ansteckungsgefahr? Könnte ein Grexit den populistischen Parteien Europas noch mehr Aufwind verschaffen?
Brok: Die populistischen Parteien sind in und durch die Krise gewachsen – das ist ein normales Phänomen. Nur antworten wir nicht in ausreichendem Maß darauf. Wir sehen, wie Putins Politik einer Betonung von „russischen und religiösen Werten“ versus dekadenter Westen in großem Umfang greift und Verbindungen zwischen ganz linken und ganz rechten Gruppierungen herstellt. Beide können sich ja auf eine Gegnerschaft gegen die liberale Demokratie einigen. Hier findet schon eine ideologische Auseinandersetzung statt, während wir uns immer noch mit den Wirtschaftszahlen der Euro-Krise oder dem – ja durchaus – existierenden Völkerrechtsbruch auf der Krim und in der Ukraine beschäftigen. Die ideologische Auseinandersetzung bleibt dabei unterbelichtet. Wir dachten wohl wirklich, dass der Systemstreit nach 1989 für immer gewonnen worden sei. Und wir haben offensichtlich große Schwierigkeiten, dieser Propaganda von einem angeblich so schwachen und korrupten Parlamentarismus dagegenzusetzen, dass parlamentarische Demokratie, Pluralismus, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit Werte an sich sind. Es ist doch nicht nur die soziale Marktwirtschaft, die das eindeutig bessere System ist. Es gehören genau diese Werte dazu. Und das sollten wir doch offensiver vorbringen.
IP: Bleibt Griechenland im Euro?
Brok: Ich weiß es nicht. Alle ökonomische und politische Vernunft spricht dafür. Aber ich weiß, dass Brüssel alles tut, was möglich ist – wenn Griechenland selbst daran mitwirkt – das Land auch im Euro zu halten. Der entscheidende Punkt ist, dass am Ende der Verhandlungen Reformbemühungen deutlich werden, die eine Perspektive auf strukturelle Änderungen, Wachstum, ein Angehen der Grundübel aufzeigen. Über Details kann man dann ja reden.
IP: Trauen Sie der jetzigen Regierung die notwendige Ernsthaftigkeit zu?
Brok: Das ist die große Unsicherheit. Wir wissen nicht, ob Tsipras noch ausreichend Rückhalt in seiner eigenen Partei hat. Es ist für ihn wohl schwerer, ein Ergebnis in der eigenen Partei zu bekommen als in Brüssel. Vielleicht will man einfach nur Schwarzer Peter spielen. Dann müssen wir klarmachen, dass in diesem Fall eine Einigung an Griechenland scheitert und dass wir es nicht akzeptieren, wenn man das auf die bösen Europäer schiebt. Deshalb sollten wir uns – selbst im Fall eines Scheiterns – so anstrengen, der griechischen Bevölkerung zu vermitteln, dass wir solidarisch sind.
IP: Würde ein „Grexit“ die Fundamente der EU beschädigen?
Brok: Ökonomisch würde es wohl keinen „finanziellen Dominoeffekt“ mehr geben, den wir vor zwei, drei Jahren noch erwartet und gefürchtet haben. Über die geopolitischen Dimensionen habe ich ja schon gesprochen. Dazu kommt: Würde Griechenland zum Failed State, dann würden andere dieses Vakuum nutzen, was auch nicht in unserem Interesse läge. Und dann müssten wir doch schon aus humanitären Gründen dort die Renten und Gehälter bezahlen. Auch die Energiekosten wird Russland wohl kaum begleichen.
IP: Gleich, was passiert – Europa wäre für Griechenland zuständig?
Brok: Schon aus humanitären Gründen. Sollen wir in einem europäischen Land Leute hungern lassen? Welche Konsequenzen hätte das denn? Wir müssen ganz deutlich machen, dass wir in einem historischen Prozess sind und dass dieses Europa dieses Land und diese Bevölkerung nicht fallen lässt – auch wenn man es mal mit einer verrückten Regierung zu tun bekommt. Es ist mir klar, dass es Grenzen des politisch Vertretbaren für die Geberländer gibt. Aber es gilt doch zu bedenken: Das bereits gegebene Geld wäre weg, wir bekämen es mit einer global-strategischen Katastrophe zu tun und wir müssten dennoch aus humanitären Gründen Hilfeleistungen zahlen. Wie weit also wollen wir da gehen? Das ist jetzt kein Angebot an die Griechen, alles machen zu dürfen – das wäre die falsche Botschaft. Aber diese Faktoren sollte man schon abwägen.
Die Fragen stellte Sylke Tempel
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 14-18