Internationale Presse

29. Juni 2018

„Unsere Eliten schlagen um sich“

Polens Medien blicken sorgenvoll auf das Verhältnis zu Deutschland

Schroffe Widersprüche zwischen West und Ost prägen die Situation in der EU, auch und gerade zwischen Deutschland und Polen. In Deutschland betrachtet man vor allem den drastischen politischen Zugriff der in Warschau regierenden Nationalkonservativen der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf die Judikative, der die Dreiteilung der Staatsgewalt aus den Angeln hebt.

Kritisch sieht man auch die wenig kooperative Haltung Warschaus bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, die nationalistische Geschichtspolitik der PiS und die diskriminierenden Äußerungen polnischer Nationalkonservativer über Muslime und andere Menschen, die nicht katholischen Glaubens sind.

Dieses Vorgehen ruft aber auch in Polen kritische Reaktionen hervor. So veröffentlichten die linksliberale Wochenzeitung Polityka (1. Juni) und andere Medien kurz vor dem Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Warschau eine Erklärung von 30 ehemaligen polnischen Botschaftern, in der die Politik der Regierung scharf verurteilt wurde. Darin hieß es: „Das Handeln der gegenwärtigen Regierung, welches gegen die Grundsätze des Rechtsstaats verstößt, fördert Xenophobie sowie Antisemitismus und gefährdet die demokratische Struktur des Staates. So entsteht auch Schaden für den Status, die Glaubwürdigkeit und die Position Polens in der Welt.“

Am ersten Besuchstag des Bundespräsidenten veröffentlichte die linksliberale Tageszeitung Gazeta Wyborza (5. Juni) einen Appell von 120 polnischen Nichtregierungsorga­nisationen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, gegen die geplante Gleichschaltung des Obersten Gerichts einzuschreiten. In dem Appell betonten die Unterzeichner, ein Urteilsspruch des Gerichtshofs „wäre äußerst wichtig für die Zukunft des Rechtsstaats in Polen, da die Regierung per Parlamentsbeschluss am 3. Juli annähernd 40 Prozent der Richter des Obersten Gerichts zwangsweise in vorgezogenen Ruhestand schicken will“.

Andererseits kritisieren die in Polen regierenden Nationalkonservativen eine angebliche Russland-Hörigkeit westlicher Eliten, eine Vorherrschaft Deutschlands in der Europäischen Union sowie Großprojekte wie die geplante Erdgaspipeline Nord Stream 2, die ihrer Meinung nach die Energiesicherheit in Europa und auch den Transit russischen Gases durch die Ukraine gefährde.

Vergleichsweise moderat

In dieser Situation fand der Besuch des Bundespräsidenten große Beachtung in den polnischen Medien. Steinmeiers Rede zum 100-jährigen Jubiläum der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit im November 1918, das in diesem Jahr umfangreich begangen wird, fiel vergleichsweise moderat aus. Der Bundespräsident warb für ein gemeinsames Europa und ermahnte Polen gleichzeitig, Demokratie und Rechtsstaat zu achten. Dass Polen und Deutschland heute Partner in der EU seien, sei ein „Wunder“, das angesichts der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg lange unvorstellbar gewesen und nur durch die „aktive Bereitschaft Polens zur Versöhnung“ möglich geworden sei.

Ein gemeinsames Europa, betonte der Bundespräsident, sei die Voraussetzung dafür, wirtschaftlich und politisch handlungsfähig zu bleiben und international „überhaupt noch Einfluss nehmen zu können“. Aber er fügte hinzu, die Souveränität nach außen habe „Voraussetzungen im Inneren: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Souverän sind wir Europäer ja nicht, weil wir uns, wo es gerade passt, willkürlich zusammenraufen, sondern weil wir nach Werten und Regeln handeln, die wir uns selbst gegeben haben. Innerhalb dieser Grundregeln gestaltet jede Nation ihre Demokratie und ihren Rechtsstaat selbst – aber wo die Grundregeln infrage ­stehen, sind alle anderen betroffen.“

Konkreter wurde Steinmeier nicht. Aber deutsche Diplomaten bestätigten, dass der Bundespräsident im persönlichen Gespräch mit seinem Amtskollegen Andrej Duda deutlicher geworden sei.

Duda betonte seinerseits, dass Polen und Deutschland einander respektieren und zuhören müssten. Als Replik auf Steinmeier formulierte er: „Aber wir werden nur in der Lage sein, die europäischen Errungenschaften des Friedens und der Kooperation zu bewahren, wenn wir die Bürger sowie deren Wahl und Bedürfnisse achten. Wenn Institutionen der EU statt zu kooperieren vielmehr bestrafen, anprangern und ausschließen, dann bereiten sie damit den Boden dafür, dass die gewinnen, die die EU zerschlagen wollen.“ Duda meinte damit die „antieuropäischen Populisten, die in vielen Ländern Westeuropas ihre Chance wittern“. Polen, so der Präsident, liege an einer Diskussion über die Zukunft Europas – einer Zukunft, in der aber niemand dominieren dürfe.

In seiner Bewertung des Steinmeier-Besuchs schrieb der außenpolitische Kommentator der liberal-konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita (6. Juni) Jerzy Haszczynski, auf der pragmatischen Ebene seien Polen und Deutschland eng miteinander verbunden, etwa bei den Wirtschaftsbeziehungen. Schwieriger sei es auf der psychologischen Ebene: „Die polnischen Eliten schlagen um sich. Die einen verfallen in antideutsche Hysterie, die anderen lassen postkoloniale Abhängigkeit von Berlin erkennen. Die Deutschen wiederum tun sich schwer, sich mit den polnischen Wahlen (von 2015, als die Nationalkonservativen gewannen) abzufinden, während sie für Wahlergebnisse im alten Europa ein gewisses Verständnis zeigen.“

An anderer Stelle zitierte das Blatt einen namentlich nicht genannten deutschen Diplomaten: „Es kann keine Rede davon sein, dass sich in Berlin die negativen Urteile über die gegenwärtige Regierung in Warschau geändert hätten. Aber in einer Situation, in der sich große Herausforderungen für die EU im Süden Europas zeigen, ist Berlin nicht daran interessiert, die Spannungen in den Beziehungen zu Polen zu erhöhen.“ Der Diplomat, so heißt es weiter, sei davon überzeugt, dass die Strategie der Regierung Merkel gegenüber Polen zunächst einmal auf Abwarten basiere.

In derselben Ausgabe veröffentlichte die Rzeczpospolita ein Interview mit dem Berliner Politologen Kai-Olaf Lang. Die deutsch-polnischen Beziehungen seien noch weit von einer Idylle entfernt, so Lang, aber man habe die Phase der Konfrontation überwunden; es gebe eine gewisse Dialogbereitschaft. Es mangele allerdings an gemeinsamen politischen Projekten.

Im Rahmen der Diskussion über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union erklärte der polnische Außenminister, Jacek Czaputowicz, in einem Interview mit der Rzeczpospolita (14. Mai), seine Regierung befürworte eine breite Debatte über die Zukunft der EU, von der aber niemand ausgeschlossen werden dürfe, auch nicht EU-skeptische Kräfte. Czaputowicz: „Frankreich ist Anhänger der Vision einer souveränen EU. Wir verteidigen das liberale Europa, das Konkurrenz untereinander zulässt. Unserer Meinung nach muss Europa in kultureller Hinsicht pluralistisch sein. Jeder Staat soll die Möglichkeit haben, seinen eigenen Weg einzuschlagen, wenn es um die Frage geht, welche Werte für ihn wichtig sind.“

Deutschland, so Czaputowicz weiter, vertrete eine andere Position als die Franzosen. „Wir als Polen sind für Deutschland wichtig, wenn es darum geht, ein Gegengewicht zu den französischen Überlegungen zu bilden.“ Konkrete Vorschläge für die künftige politische und ökonomische Gestalt der EU blieb Czaputowicz schuldig. Überhaupt gibt es bislang keine diesbezüglichen Überlegungen der polnischen Regierung – zumindest keine, die man der Öffentlichkeit mitgeteilt hätte.

Zur Debatte über den künftigen EU-Finanzrahmen betonte Czaputowicz, sein Land werde in der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) dafür kämpfen, das Ausmaß der Finanzhilfe im Rahmen der Kohäsionsfonds der EU an diese Länder so weit wie möglich zu erhalten. Die Gazeta Wyborcza (28. Mai) schrieb in diesem Zusammenhang, dass Polen mit einem Einschnitt zwischen 11 und 23 Prozent rechnen müsse. In Berlin dagegen, spekulierte das Blatt, befürworte man eine Vergabe der Kohäsionsfonds nach dem jeweiligen Pro-Kopf-Einkommen in den Regionen. „Das würde für Polen einen Einschnitt von 23 Prozent bedeuten, für Süditalien dagegen einen Zuwachs von 20 Prozent.“

Pipeline als Waffe

Rund um den Besuch des Bundespräsidenten in Polen geriet auch das Projekt der Nord Stream 2 wieder in den Fokus der Diskussion. Durch ­diese Röhre sollen noch größere Mengen russischen Gases nach Deutschland und nach Mittel- bzw. Westeuropa geleitet werden. Zugleich würde die Ukraine mit dieser zweiten Leitung durch die Ostsee als Transitland weitgehend überflüssig. Das ökonomisch schwache Land verlöre dadurch seine Einnahmen aus den Durchleitungsgebühren, die mit etwa drei Milliarden Euro pro Jahr einen beträchtlichen Teil des Staatshaushalts ausmachen. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bezeichnete den Bau der Pipeline als „Bedrohung für die Energiesicherheit und Solidarität Europas“ sowie als „neue hybride Waffe Russlands“ (so die national-konservative Gazeta Polska Codzienna am 29. Mai).

Aufmerksam betrachtete man in Warschau in diesem Zusammenhang die veränderte Tonlage in Deutschland. Hatte Bundeskanzlerin Merkel bis vor einigen Wochen noch regelmäßig betont, das Projekt sei rein ökonomischer Natur, weshalb sich die Bundesregierung nicht einmischen werde, so erklärte sie in einem Gespräch mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin in Sotschi, dass der Bau der Pipeline kein Ende des Gastransits durch die Ukraine bedeuten dürfe (Gazeta Polska Codzienna, 22. Mai). Schon zuvor hatte Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Rahmen von Gesprächen in Wa­shington betont, die Europäische Union müsse dafür sorgen, dass die Ukraine auch weiterhin Einnahmen aus dem Gastransit erhalte (so die liberale Gazeta Prawna.pl vom 18. Mai).

Hintergrund dieses Sinneswandels ist die Tatsache, dass das Pipelineprojekt auch ins Fadenkreuz des US-Präsidenten Donald Trump geraten ist und damit die Gefahr besteht, dass Unternehmen wie BASF, Wintershall und ÖMV, die am Bau der Gasleitung beteiligt sind, mit amerikanischen Sanktionen belegt werden. So war Nord Stream 2 auch das wichtigste Thema des Gesprächs, das Außenminister Czaputowicz am 22. Mai in Washington mit seinem Amtskollegen Mike Pompeo führte. Das Treffen kommentierte die Gazeta Polska Codzienna (23. Mai) mit den Worten: „Auch die USA halten Nord ­Stream 2 für ein politisches Projekt, das Europa bedroht. Sanktionen gegen die beteiligten Firmen schließen die USA nicht aus.“

Die Rzeczpospolita (5. Juni) publizierte ein Interview mit dem Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei in EU-Parlament, Manfred Weber, in dem dieser die Zustimmung der Bundesregierung zum Bau von Nord Stream 2 als Fehler bezeichnete: „Das ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein politisches Projekt, das Russland dazu dient, die Abhängigkeit Europas von russischem Gas zu erhöhen. Das aber widerspricht den Interessen der Europäischen Union. Eine Entscheidung über das Projekt muss auf europäischer Ebene getroffen werden.“

Reinhold Vetter lebt als Publizist in ­Berlin und Warschau.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 130 - 133

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