IP

01. Juni 2009

Turbulenzen in Grenzen

Nicht überall, wo "Osten" draufsteht, ist "Krise" drin

In Tschechien stürzt eine Regierung während der EU-Präsidentschaft, Lettland steht vor dem Staatsbankrott, slowakische Nationalisten mobilisieren gegen die ungarische Minderheit: 20 Jahre nach der friedlichen Revolution herrscht in Osteuropa nicht gerade Festtagsstimmung. Wie robust sind Demokratie und Marktwirtschaft in den postkommunistischen Staaten?

„Lange Zeit habt ihr alle Staaten der Region in einen Korb geworfen und Russland und Kasachstan dazu getan, mit fatalen Folgen gerade für die Währungen. Zum Glück ändert sich das langsam“: Mit Recht beschwert sich Jan-Krzysztof Bielecki, Präsident von Polens größter Bank „Pekao“, über typisch westliche Sichtweisen, wenn es um Osteuropa geht. Besonders die Medien zeichnen gern das Bild einer Region, die ökonomisch und politisch gleichermaßen vor dem Kollaps steht. Ein vereinfachtes Bild, ein Zerrbild.

Beispiel Weltwirtschaftskrise: Natürlich, einzelne Staaten der Region rutschen in eine tiefe Rezession oder gar Depression ab. In Ländern wie Estland, Lettland oder Litauen wird das reale Bruttoinlandsprodukt nach einem Wachstum von zehn bis zwölf Prozent im Jahr 2007 und einem Rückgang um etwa ein Prozent im Jahr 2008 in diesem Jahr um zehn bis 15 Prozent absinken. Auch die tschechische Wirtschaft schrumpft im laufenden Jahr um ein Prozent, nachdem sie in den Jahren 2007 und 2008 noch um sechs bzw. drei Prozent zugelegt hatte. Die Slowakei und Polen dagegen bleiben auch 2009 leicht im positiven Bereich, nachdem beide Länder 2007 und 2008 Wachstumsraten zwischen fünf und zehn Prozent erzielt hatten.

Die Party ist vorbei

Nachlassendes Wachstum sorgt immer auch für einen Rückgang der Steuereinnahmen des Staates. Ohne zusätzliche Einsparungen wird sich also ein Anstieg des Defizits in den Staatshaushalten im Jahr 2009 nicht vermeiden lassen. Dabei haben Länder wie Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Bulgarien durchaus die Chance, unterhalb der Maastricht-Grenze von drei Prozent des BIP zu bleiben, während Ungarn, Litauen, Lettland, Estland und Rumänien dieses Limit erheblich überschreiten werden. Ein Staatsbankrott droht nach Lage der Dinge allenfalls in den baltischen Staaten, in Ungarn und in Rumänien, weshalb diese Länder auch vorrangig Ziel internationaler Finanzhilfe sind. Lettland etwa wurden von IWF und EU bereits 7,5 Milliarden Euro zugesprochen, wobei sich das Land verpflichtet hat, erhebliche Einsparungen im Staatshaushalt vorzunehmen. „Die Party ist vorbei“, kommentierte Zentralbankchef Ilmars Rimsevics die Lage.

Wenn die Wirtschaft der östlichen EU-Staaten unterschiedlich von der Krise getroffen wird, dann liegt das auch am jeweiligen Grad ihrer Exportabhängigkeit. So hat Ungarn eine extrem offene, auf den Weltmarkt ausgerichtete Volkswirtschaft und ist deshalb besonders anfällig bei Konjunkturschwankungen oder Rezessionen in den westlichen EU-Ländern. Demgegenüber verfügt ein Land wie Polen zusätzlich über einen großen Binnenmarkt, der einen erheblichen Teil der wirtschaftlichen Produktion absorbieren kann. Der wichtigste Grund für den konjunkturellen Absturz der baltischen Staaten liegt darin, dass ihr Wachstum der vergangenen Jahre auf steigendem Konsum basierte, der mit Krediten insbesondere in Fremdwährungen finanziert wurde. Da der Schuldendienst gerade bei Krediten in Euro oder Schweizer Franken inzwischen extrem teuer geworden ist und neue Kredite höher verzinst werden oder überhaupt nicht mehr zu bekommen sind, fehlt der wesentliche Antrieb für Wachstum. Insbesondere Estland und Lettland verfügen im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Staaten der Region kaum über moderne Produktionskapazitäten, deren Einsatz Wachstum stimulieren könnte.

So unterschiedlich wie die Auswirkungen der Krise sind die Hilfsprogramme der Regierungen. Während Länder wie Lettland und Ungarn schmerzhafte Sanierungsschritte ergreifen müssen, etwa im Sozialen, ist das Konjunkturprogramm etwa der polnischen Regierung eher moderat. Es umfasst im Wesentlichen Kredithilfen und Steuererleichterungen für kleine und mittelständische Unternehmen, eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarkts sowie eine effektivere Verwendung von EU-Geldern. Parallel dazu wurden die Staatsausgaben insbesondere für das Militär gekürzt. Ähnliche Schritte ergriff man in Tschechien. In der Slowakei wiederum legte die Regierung ein Programm auf, das vor allem staatliche Hilfen für die Schaffung und den Erhalt von Arbeitsplätzen, Projekte zur weiteren Modernisierung der Infrastruktur sowie eine Senkung der Energiepreise umfasst.

Von Krise zu Krise stolpern

Die Wirtschaftskrise trifft in Osteuropa auf ganz unterschiedliche politische Rahmenbedingungen. So existieren in einigen Ländern stabile Regierungen, die auf der Basis eindeutiger Wahlergebnisse entstanden sind, während die Kabinette in anderen Staaten von Krise zu Krise stolpern, weil ihnen klare Mehrheiten im Parlament fehlen. Auch um die Stabilität der Parteistrukturen in Ostmittel- und Südosteuropa ist es sehr unterschiedlich bestellt. Allen Ländern gemein ist, dass die ökonomische Krise die Schwächen des jeweiligen politischen Systems stärker hervortreten lässt. Das gilt besonders für Lettland, wo seit Jahren Regierungskoalitionen an der Macht sind, die von Parteien mit äußerst schwacher Verankerung in der Gesellschaft getragen werden. Die politische Krise spitzte sich zu, nachdem am 13. Januar dieses Jahres eine Demonstration Zehntausender mit schweren Krawallen in der Altstadt von Riga geendet hatte. Unter dem Druck des Protests gegen das angekündigte drastische Sparprogramm brach die Koalition aus „Volkspartei“ und dem Bündnis „Bauernunion und Grüne“ unter Premier Ivars Godmanis auseinander. Inzwischen hat der neue Regierungschef Valdis Dombrovskis von der rechts-populistischen „Neuen Ära“ ein Sparprogramm verkündet, das noch über die Pläne von Godmanis hinausgeht.

Laut Umfragen haben mehr als 90 Prozent der Bürger kein Vertrauen in die Parteien, im Gegenteil: Sie verachten sie als politisches Instrument korrupter Wirtschaftsoligarchen. Käme es derzeit zu Neuwahlen, würden fast alle Parteien an der Fünfprozenthürde scheitern. Die politisch-gesellschaftliche Schwäche der Parteien fördert ihren Hang zum Populismus. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, dass vergleichsweise häufig Volksbefragungen durchgeführt werden. Die letzten dieser Art blieben freilich mangels Wählerbeteiligung ohne Folgen, woraus der in Riga lebende deutsche Politikwissenschaftler Axel Reetz folgert: „Entweder ist das ein Zeichen für eine ins Bodenlose gehende Politikverdrossenheit oder aber die Menschen haben verstanden, dass mit Populismus nichts zu bewerkstelligen ist.“

Erbitterte Rivalität

Ungarn wiederum leidet seit Jahren unter einer starken Polarisierung zwischen den großen Parteien des Landes. Die erbitterte Rivalität zwischen der sozialdemokratischen Partei MSZP des im März als Partei- und Regierungschef abgetretenen Ferenc Gyurcsány und der Bürgerbewegung „Fidesz“ des früheren Premiers Viktor Orban lässt kaum einen Winkel im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben unberührt. Antikrisenpolitik läuft daher stets Gefahr, parteipolitisch instrumentalisiert zu werden.

Immerhin unternahm Gyurcsány mehrfach den Versuch, die öffentlichen Finanzen durch ein drastisches Sparprogramm in Ordnung zu bringen. Doch das wurde per Volksabstimmung abgelehnt. Die Mehrheit der Gesellschaft entzog Gyurcsány das Vertrauen. Nach neuesten Umfragen kommt die oppositionelle „Fidesz“ von Orban inzwischen auf eine Zustimmungsrate von etwa 60 Prozent. Der neue, von den Sozialdemokraten installierte Premier Gordon Bajnai hat ebenfalls ein hartes Sanierungsprogramm angekündigt, will aber auf jeden Fall nur bis zur Parlamentswahl im Jahr 2010 im Amt bleiben. Mit Bajnai und seinem Programm hat die Führung der Sozialdemokraten die Flucht nach vorne angetreten. Das ist staats- und wirtschaftspolitisch verantwortungsbewusst, wird ihr aber für 2010 den sicheren Gang in die Opposition einbringen. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteimitglieder dürfte zu den Leidtragenden der von Bajnai gerade im Sozialen anvisierten Einsparungen gehören.

Auch in der Tschechischen Republik wird das politische Geschehen durch die Rivalität zwischen der Bürgerpartei ODS des gerade abgewählten Premiers Mirek Topolánek und der oppositionellen Sozialdemokratie CSSD des früheren Regierungschefs JiŢí Paroubek dominiert. Dritter wesentlicher Machtfaktor ist Staatspräsident Václav Klaus, der zwar verfassungsrechtlich nicht sonderlich stark ist, aber doch immer versucht, das politische Geschehen so weit wie möglich zu kontrollieren. Das teils gewollte, teils ungewollte Zusammenspiel von Klaus, den Sozialdemokraten und den Kommunisten der KSCM brachte im März dieses Jahres die seit Januar 2006 amtierende Dreierkoalition aus ODS, der christdemokratischen KDU-CSL und den Grünen per Misstrauensvotum zu Fall, nachdem diese gerade mal drei Monate lang die EU-Ratspräsidentschaft ausgeübt hatte. Klaus hatte Topolánek als Führungsfigur der von ihm einst gegründeten ODS nie akzeptiert, und in den letzten Monaten kam noch hinzu, dass sich der Premier aus Sicht des Präsidenten allzu EU-freundlich verhielt.

Daneben litt die abgewählte schwarz-grüne Dreierkoalition aber auch stark an inneren Widersprüchen. Die Liste der Streitpunkte reichte vom Lissabon-Vertrag über die US-Raketenabwehr bis hin zu krisenbedingten wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Entscheidungen. Im Parlament verfügte die Koalition zuletzt nur noch über 98 von 200 Abgeordneten, sodass sie für jeden Beschluss Partner bei der Opposition oder unter unabhängigen Abgeordneten suchen musste. Bis zu vorgezogenen Neuwahlen im Oktober soll nun ein Kabinett von „Experten“ regieren, auf das sich die Bürgerlichen und die Sozialdemokraten verständigt haben. Das Amt des Ministerpräsidenten übernahm der Direktor des Statistischen Amtes, Jan Fischer. Unter unabhängigen Beobachtern in Prag findet sich niemand, der diesem Kabinett große Gestaltungskraft zutraut – weder im Kampf gegen die Krise noch bei der Ausübung der EU-Präsidentschaft.

Musterschüler mit Makeln

Weitaus stabiler als die Regierungen in Lettland, Ungarn und Tschechien ist die seit 2006 amtierende Links-Rechts-Koalition von Premier Robert Fico in der Slowakei, die von Ficos linkspopulistischer Partei „Smer“, der rechtsradikalen Slowakischen Nationalpartei und der kleinbürgerlich-volkstümlichen „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ des früheren Premiers Vladimir Me‹iar getragen wird. Trotz wiederholter Reibereien hält das Bündnis, weil allen Beteiligten die Nähe zu den staatlichen Fleischtöpfen wichtiger ist als der parteipolitische Alleingang. Ficos Stärke resultiert daraus, dass er einerseits die erfolgreichen marktwirtschaftlichen Reformen der christlich-konservativen Vorgängerregierung unter Premier Mikulaš Dzurinda kaum verwässerte, andererseits aber auch einige sozialpolitische Korrekturen einleitete, die den Bürgern mit geringem Einkommen zugute kamen – also dem Teil der Bevölkerung, der von den Reformen besonders hart getroffen wurde.

So erweist sich die Slowakei nicht nur als vergleichsweise widerstandsfähig gegenüber der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, das Land hat auch eine handlungsfähige Regierung. Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass die rechtsradikale „Slowakische Nationalpartei“ und besonders ihr Vorsitzender Jan Slota durch die Regierungsbeteiligung hoffähig geworden sind und damit die offizielle Bühne für ihre Tiraden gegen die ungarische Minderheit und andere nutzen können. Premier Fico verfolgt die Taktik, sich von einzelnen rechtsradikalen Äußerungen Slotas zu distanzieren, ohne die Koalition aufzukündigen. So schwieg er, als Slotas Partei den 70. Jahrestag der Gründung des slowakischen Marionettenstaats von Hitlers Gnaden im März 1939 feierte.

Auch in Polen sitzt die seit Ende 2007 amtierende Regierung von Premier Donald Tusk fest im Sattel. Seniorpartner der Zweierkoalition ist Tusks „Bürgerplattform“ (PO). Sie ist es, die im Wesentlichen die Regierungsarbeit vorantreibt, während die „Bauernpartei“ (PSL) eher als passives Anhängsel fungiert. In den Umfragen liegt die PO mit Werten um die 50 Prozent weit vor den „Nationalkonservativen“ (PiS) der Brüder Kaczynski. PiS kommt auf Werte um die 28 Prozent, während die postkommunistischen Sozialdemokraten etwa zehn Prozent erhalten und die „Bauernpartei“ um die fünf Prozent schwankt.

Die Zahlen verdeutlichen das Dilemma des derzeitigen Parteienspektrums in Polen. Da PO, PiS und PSL sich nur im Grad ihrer patriotischen oder nationalistischen Ambitionen unterscheiden, dominiert das konservative Lager das politische Leben des Landes. Dies aber bedeutet, dass es gegenwärtig keine liberale Mitte gibt und die organisierte Linke zu schwach ist, um das konservative Lager unter Druck zu setzen. „Es gibt heutzutage keine polnische Linke, welche die Erfahrungen der Krise nutzbar machen könnte“, meint Sławomir Sierakowski, Chefredakteur der linken Krytyka Polityczny.

Strategisch wichtige Reformvorhaben etwa im Sozialen scheitern nicht selten an der erbitterten Rivalität zwischen Premier Tusk und Staatspräsident Kaczynski, der konsequent die Interessen der oppositionellen PiS vertritt. Verschiedentlich traten beide sogar mit unterschiedlichen Konzepten und Personalvorschlägen auf – wie zuletzt beim NATO-Gipfel, als es auch um den Posten des Generalsekretärs ging. „Ein ähnliches Chaos, das gleichermaßen von Präsident und Premier verursacht wurde, hat es in der polnischen Außenpolitik der letzten 20 Jahre nicht gegeben“, meint die populäre TV- und Radiojournalistin Monika Olejnik.

Das unwürdige Schauspiel wird durch die mangelnde Präzision der polnischen Verfassung ermöglicht. Zwar zählt das Grundgesetz die Außenpolitik zu den Kompetenzen der Regierung, aber gleichzeitig benennt es den Staatspräsidenten als obersten Repräsentanten des Landes, wenn es um die Souveränität und Verteidigungsbereitschaft Polens geht. Und Kaczynski nutzt den entsprechenden Verfassungsartikel immer dann, wenn wesentliche politische, wirtschaftliche und militärische Probleme der NATO und der EU auf der Tagesordnung stehen.

Bedrohliche Verbindung

Dass in schwierigen Zeiten das Bewusstsein für die eigene Nation wächst, ist keine ganz neue Erkenntnis. Sie lässt sich derzeit im östlichen wie im westlichen Europa beobachten – nicht nur bei den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft. Gerade in der Krise kann es darüber hinaus zum Auftrieb eines aggressiven Nationalismus kommen, der sich in Propaganda und Übergriffen gegen nationale Minderheiten und Ausländer entlädt.

So sind Fremdenhass und Antisemitismus etwa in Ungarn schon seit einiger Zeit Gegenstand der Debatte. Der Budapester Soziologe Pál Tamás hat in einer repräsentativen Studie nachgewiesen, dass rechtsradikale Ideologie nicht nur von Randgruppen wie „Jobbik“ und „Ungarischer Garde“ verbreitet wird, sondern in Teilen der ungarischen Gesellschaft tief verankert ist: „Wir finden solche Denkmuster in allen politischen Lagern.“ Knapp 16 Prozent der von Tamás und seinen Mitarbeitern Befragten meinten, dass sie in ihren politischen Auffassungen „extrem rechts“ orientiert seien. Weitere 29 Prozent definierten ihren Standpunkt als weit rechts von der Mitte. In der Studie wird auch nachgewiesen, dass gerade Teile der Wählerschaft der beiden größten Parteien des Landes für Fremdenhass und Antisemitismus anfällig sind. Im Zentrum der radikalen Ideologie steht der Hass auf die Roma. 69 Prozent der Befragten nannten diese gerade in Ungarn recht große Minderheit „asozial“ und „ungarnfeindlich“. Virulent, so ein weiteres Ergebnis der Studie, ist auch der Antisemitismus. Tamás kommt zu der Einschätzung, dass jeder dritte Ungar judenfeindliche Meinungen vertrete. Eine Bewertung, die auch von den Wissenschaftlern anderer Budapester Forschungsinstitute geteilt wird.

Da viele Wähler, die für rechtsex-tremes Gedankengut anfällig sind, in der Regel den großen Parteien treu bleiben, hatten die radikalen Gruppen wie „Jobbik“ und „Ungarische Garde“ bisher keine Chance, ins Parlament einzuziehen. Die bürgerliche „Fidesz“ verfolgt die Taktik, sich einerseits von solchen Gruppen zu distanzieren, andererseits aber das rechte Wählerpotenzial möglichst umfassend anzusprechen. „Es ist genau diese Verbindung, die die ungarische Rechte derzeit zu einer echten Bedrohung macht“, so der Budapester Politologe Máté Szabó.

In der Slowakei wiederum sind es neben den Roma vor allem die Angehörigen der ungarischen Minderheit, die in jüngster Zeit ins Fadenkreuz rechtsradikaler Gruppierungen geraten sind. Im Wahlkampf um das Amt des Staatspräsidenten warf der alte und neue Amtsinhaber Ivan Gašparovic der ungarischen Minderheit zu Unrecht vor, sie wolle eine weitgehende nationale Autonomie erkämpfen. Der Präsident wurde dabei massiv von der rechtsradikalen „Slowakischen Nationalpartei“ und auch der linkspopulistischen „Smer“ von Premier Robert Fico unterstützt; eine Kampagne, die dazu beitrug, antiungarische Ressentiments in der Gesellschaft zu schüren.

Auch andere EU-Staaten Ostmittel- und Südosteuropas sind nicht frei von Nationalismus und Phobien gegenüber Ausländern und nationalen Minderheiten. Wie die Roma in Tschechien und Rumänien, so sind in Bulgarien die türkische Minderheit und in Lettland die dort lebenden Russen Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung. Latent virulenten Antisemitismus gibt es etwa in Polen. Gerade in der Krise ist die Propagierung solcher Feindbilder ein beliebtes Mittel, um die wahren Hintergründe für Missstände zu verschleiern.

Die Liste der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den östlichen EU-Staaten ließe sich fast beliebig verlängern. All die genannten Probleme müssen angegangen werden, sollen sie nicht eines Tages die Grundpfeiler von Demokratie und Marktwirtschaft zum Einsturz bringen. Doch gefährden sie nicht direkt das geltende System. Denn die Konflikte, die aus diesen Problemen resultieren, bewegen sich in der Regel im Rahmen der nach 1989 etablierten parlamentarischen Demokratie und Marktwirtschaft. Das gilt für die Wahl und Abwahl von Regierungen, die Schwäche der Parteien, die Politikverdrossenheit und die mangelnde Reife von Verfassungen ebenso wie für die Korruption, die Gängelung der Justiz, die Instrumentalisierung der Medien sowie die Ausgrenzung von Minderheiten und die Spaltung der Gesellschaften. Politische Kräfte, die eine Rückkehr zum Sozialismus, einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus oder undemokratische, autoritäre Staatsmodelle propagieren, bleiben eher Randerscheinungen.

REINHOLD VETTER ist Korrespondent des Handelsblatts für Ostmittel- und Südosteuropa.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 72 - 78.

Teilen

Mehr von den Autoren