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02. März 2018

Unscharfe rote Linien

Syrien ist ein Schlachtfeld der Regional- und Großmächte

Sieben Jahre schon dauert der Krieg in Syrien; fast eine halbe Million Menschen starben. In dem eskalierenden Vielfrontenkrieg spielt Wladimir Putin die Interessen Israels, der Türkei und der USA geschickt gegeneinander aus. Eine gefährliche Kombination militärischer Vorstöße und Gegenschläge bestimmt über künftige Demarkationslinien.

Sieben Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Baschar al-Assad kehrt der Syrien-Konflikt an seine Ursprünge zurück: in das Dreiländereck Syriens mit Israel und Jordanien. Hier, in Daraa nahe der jordanischen Grenze, gingen im März 2011 über die Brutalität des Regimes empörte Familienväter gegen die Diktatur auf die Straße. In dieser Region fand nun auch die neueste Wendung des Krieges statt. Am zweiten Februar-Wochenende schoss die syrische Luftabwehr dort einen israelischen Kampfflieger vom Typ F-16 ab; Pilot und Navigator konnten sich aus dem brennenden Flugzeug per Schleudersitz auf israelisches Territorium retten.

Die Maschine bildete die Vorhut eines acht Kampfjets starken Luftgeschwaders, das später am Tag Dutzende Stellungen in der Nähe der Hauptstadt Damaskus sowie den Luftwaffenstützpunkt T4 in der antiken Oasenstadt Palmyra bombardierte. Nicht nur syrische Militäreinrichtungen waren das Ziel, sondern auch Stützpunkte der iranischen Revolutionsgarden Pasdaran. Der seit Jahren geheim betriebene Krieg Israels gegen Vorposten der Islamischen Republik in Syrien wurde damit erstmals offen ausgetragen. Auslöser war das Eindringen einer iranischen Drohne in den israelischen Luftraum am 10. Februar, die danach von einem israelischen Apache-Kampfhubschrauber abgeschossen wurde.

Die Eskalation zwischen Israel und dem Iran kommt nicht von ungefähr. Bereits seit Beginn des Syrien-Konflikts greift Israel immer wieder ein, um Rüstungsproduktionsstätten und Waffenkonvois der libanesischen, vom Iran unterstützten Hisbollah auf syrischem Territorium zu zerstören. Seit 2013 hat die israelische Luftwaffe mehr als Hundert Luftschläge gegen Irans Boden­truppen an der Grenze zum Heiligen Land ausgeführt. Ihr Ziel ist die schiitische Parteimiliz unter Führung von Hassan Nasrallah, die seit 2012 mit Tausenden von Mann in Syrien präsent ist.

Das Vorgehen erinnert an die israelische Politik während des Bürgerkriegs im Libanon. Israel drang während dieser Zeit zweimal in den Libanon ein, 1978 und 1982, um seine Nordgrenze zu schützen und palästinensische Milizen zu zerschlagen. Im Gegenzug gründeten die iranischen Pasdaran 1982 im Libanon die Hisbollah, um die israelische Besatzungsmacht im Süden des Landes in einem Guerillakrieg zu zermürben. Mit Erfolg: Im Mai 2000 zog die Regierung in Jerusalem ihre Bodentruppen aus dem Libanon ab. Aber auch in den Jahren nach dem Ende der Besatzung griff die israelische Luftwaffe immer wieder Ziele in der Zedernrepublik an, um ein Erstarken der Hisbollah zu verhindern. Die Vereinten Nationen haben diese Angriffe wiederholt verurteilt.

Anders als der Stellvertreterkrieg im Libanon, der während des Kalten Krieges begann und mit dem Ende der Blockkonfrontation 1990 endete, findet der Syrien-Krieg unter den Bedingungen eines im Umbruch befindlichen internationalen Systems statt. Die Vereinigten Staaten ziehen sich seit der Regierungszeit Barack Obamas aus dem Nahen Osten zurück; Russlands Staatschef Wladimir Putin drängt mit Macht in das Vakuum. Im September 2015 trat sein Land in den Krieg ein. Die klaren roten Linien, die die militärische Konfrontation der beiden langjährigen ­Libanon-Besatzungsmächte Syrien und Israel auch nach dem Ende der Systemkonfrontation bestimmten, müssen im Syrien-Konflikt erst noch gefunden werden.

Mitte Februar 2018 versuchte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu, dem Iran seine roten Linien in Syrien aufzuzwingen – mit den heftigsten Militärschlägen Israels seit der Libanon-Invasion 1982. Doch inwieweit die Machthaber um Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei in Teheran dies akzeptieren, ist zu Beginn des achten Konfliktjahrs völlig offen. Denn noch etwas unterscheidet die Situation heute von der vor 40 Jahren: Nicht in Washington muss Amerikas wichtigster Verbündeter im Nahen Osten um grünes Licht für sein militärisches Vorgehen ersuchen, sondern in Moskau.

Nach dem Abschuss der israelischen Militärmaschine im Februar schlug Russlands Präsident Wladimir Putin Netanjahu dessen Wunsch nach einer Ausweitung der Luftschläge in Syrien aus. Dass auch die USA der Forderung Netanjahus nicht nachkamen, eine Präsenz von Hisbollah-Kämpfern und iranischen Offizieren auf den Golanhöhen zu verhindern, zeigt, wie gering das Interesse des einstigen Weltpolizisten an einer Konfrontation mit Russland in dem Konflikt ist.

Kämpfe um eine neue Ordnung

Nicht nur im volatilen Dreiländer­eck zwischen Syrien, Jordanien und Israel stecken die Groß- und Regionalmächte ihre Einflusssphären in diesen Monaten neu ab. Auch im Norden des Landes, wo die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) mit ihren Volksverteidigungseinheiten (YPG) die stärkste lokale Militärmacht bildet, wird um die Neuordnung Syriens gekämpft. Und wie auf den Golanhöhen gilt: Rote Linien gibt es noch nicht. Ein gefährliches Spiel militärischer Vorstöße und Gegenschläge bestimmt über die künftigen Demarkationslinien. Russische, amerikanische und türkische Interessen prallen dabei weitgehend unkontrolliert aufeinander.

Doch anders als im Süden Syriens machen die USA an den Grenzen zum Irak und zur Türkei Russland die Vorherrschaft streitig. Hier hatte die Terrororganisation Islamischer Staat ihre Hochburgen. Bereits 2017 hatte US-Präsident Donald Trump rund 2000 Spezialkräfte in die ölreiche Region zwischen Euphrat und Hasakah entsandt, um die Dschihadisten aus ihren syrischen Hochburgen zu vertreiben. US-Einheiten bildeten auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) aus, die bis zum Euphrat vorrückten. Seit die Stadt Deir al-Zor vom IS zurückerobert wurde, bildet der Fluss die Grenze zwischen den kurdisch dominierten Einheiten und Assads Regierungstruppen.

Hier kam es im Januar 2018 zum Konflikt: Afghanische Schiitenmilizionäre, die mit Assads Regime verbündet sind, griffen einen SDF-Stützpunkt am Nordufer des Euphrats an. Daraufhin schlug die amerikanische Luftwaffe zu. Mehr als hundert Tote forderte der Einsatz – ein deutliches Signal der Trump-Regierung, dass sie nicht bereit ist, einen Verlust dieses Grenzgebiets hinzunehmen. So verlaufen die neuen Grenzen des amerikanischen, von Zehntausenden SDF-Kämpfern gehaltenen Sektors entlang des Euphrats und des Nordirak. Dort stehen nach Sezession von Bagdad strebende kurdische Peschmerga, am südlichen Ufer des Euphrats in Deir al-Zor syrische Regierungseinheiten – und in Manbij, westlich des Euphrats nahe der türkischen Grenze, möglicherweise bald türkische Truppen.

Operation „Olivenzweig“

Denn der Vielfrontenkrieg ohne klare rote Linien hat nun auch die ­NATO-Verbündeten Türkei und USA gegeneinander aufgebracht. Weil ­Präsident Recep Tayyip Erdogan die syrische Kurdenmiliz YPG zu Recht als verlängerten Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet, ließ er seine Truppen im Januar bereits zum zweiten Mal in den Norden des Nachbarlands einmarschieren. „Olivenzweig“ nannten türkische Militärs die Operation, die den Aufbau eines zusammenhängenden kurdischen Au­to­nomiegebiets an der türkischen Südflanke verhindern soll.

Schon der erste türkische Einmarsch, die Operation „Schutzschild Euphrat“ im August 2016, bedeutete eine Zäsur in dem Krieg, dem bis Anfang 2018 fast eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Unterstützt von Kampffliegern hatten türkische Panzer damals die Grenze bei Dscharabulus überquert, was den syrischen Aufständischen die Rückeroberung der 2013 vom Islamischen Staat eingenommenen Stadt ermöglichte. Damit wurde Realität, was die türkische Führung seit Bildung der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) immer wieder gefordert hatte: die Einrichtung einer Pufferzone an ihrer Südflanke.

Die Türkei setzte sich damit gegen die USA, aber auch gegen europäische ­NATO-Partner wie Deutschland durch, die eine Pufferzone mit der Begründung abgelehnt hatten, es seien nicht genügend Ressourcen vorhanden, um diese militärisch gegen syrische Angriffe zu verteidigen. So aber hat Ankara Fakten geschaffen, die für eine mögliche Nachkriegsordnung bedeutende Folgen haben könnten. Sollte es eines Tages zur Entsendung einer internationalen Schutztruppe kommen, um die Konfliktparteien auseinanderzuhalten, werden türkische Einheiten eine entscheidende Rolle spielen.

Erdogan hat mit seinen Syrien-­Invasionen auch sein Hauptziel erreicht: die Errichtung eines zusammenhängenden Kurdengebiets von Afrin im Westen bis zum Tigris im Osten zu verhindern. Noch vor zwei Jahren schien Rojava, wie die syrischen Kurden den Zusammenschluss ihrer Siedlungsgebiete nennen, zum Greifen nah. Dank amerikanischer Luftangriffe trennten nur noch 80 Kilometer die beiden östlichen Kantone der syrisch-kurdischen Föderation von der Vereinigung mit dem westlichen Kanton Afrin. Nun haben sich dort die türkischen Soldaten festgesetzt.

Doch wie im Süden Syriens, wo Moskau israelische Interessen zurückdrängt, zeigt Putin im Norden auch Erdogan seine Grenzen auf: Ein türkischer Militärkonvoi, der sich im Februar von syrischen Regierungseinheiten kontrolliertem Territorium näherte, wurde durch Präventivschläge aus der Luft gestoppt. Auch wenn Putin dem türkischen Generalstab im Januar grünes Licht für die Operation „Olivenzweig“ gab – die Kontrolle des Luftraums über Afrin und Idlib, wo der von Katar unterstützte syrische Al-Kaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham weiter die Vormacht innehat, lässt er sich nicht nehmen.

Denn trotz des im Dezember verkündeten Abzugs großer Teile der russischen Truppen ist Putins strategisches Kriegsziel in Syrien noch nicht erreicht: die Wiederherstellung staatlicher Kontrolle auch über die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes. Weil Hayat Tahrir al-Sham von dort das alawitische Kernland entlang der Mittelmeer-­Küste bedroht, gilt die Zerschlagung der Dschihadistenmiliz Moskau und Damaskus als Fortsetzung des Kampfes gegen den Islamischen Staat.

Obamas Fehler

Wie bei der Rückeroberung Aleppos durch Regierungseinheiten zählen Hisbollah-Kämpfer dabei zur wichtigsten Bodentruppe der russisch-iranischen Allianz mit Assad. Ihre Aufgabe an der Seite der Revolutionsgarden, irakischer und afghanischer Schiitenmilizen ist klar: eine durchgängige Landverbindung von Teheran bis Beirut am Mittelmeer zu schaffen, um die Waffennachfuhr an Nasrallahs „Partei Gottes“ zu garantieren.

Diesen Korridor zu verhindern, wird Israel kaum noch gelingen. Das lässt sich auch auf das Verhalten des früheren amerikanischen Präsidenten Barack Obama zurückführen. Obama hatte gedroht, ein syrischer Chemiewaffeneinsatz stelle eine „rote Linie“ dar, die militärisch geahndet werden würde. Doch nach dem Giftgasangriff auf die Oppositionsgebiete der Ghuta östlich von Damaskus im August 2013 mit mehr als Tausend Toten zog Obama keine Konsequenzen. Stattdessen schloss er einen Deal mit Putin, der daraufhin seine Unterstützung für Assad vergrößerte – und dem Iran freies Spiel bei der Ausweitung seines Einflusses nördlich von Israel ließ. Obamas Verzicht auf ein militärisches Eingreifen hat somit nicht nur Assad den Verbleib im Amt gesichert, sondern auch den Islamischen Staat großgemacht.

Im Schatten des Krieges gegen den IS gelang es dem Regime, das syrische Giftgasarsenal wieder aufzustocken – obwohl dieses nach dem russisch-amerikanischen Abkommen eigentlich vernichtet werden sollte. So dokumentierten die Vereinten Nationen allein im vergangenen Jahr 16 Einsätze von Chemiewaffen durch Regierungseinheiten, vor allem in Gebieten, in denen die vom Westen über Jahre im Stich gelassenen Oppositionsmilizen sich noch hatten halten können.

Sieben Jahre nach dem Beginn des Aufstands gegen Assad spielen die Revolutionäre der ersten Stunde in einer Nachkriegsordnung keine Rolle mehr. Auch das erklärt, warum sich der Syrien-Sondergesandte der Vereinten Nationen, Staffan de Mistura, vergeblich bemüht, eine politische Lösung des Konflikts durchzusetzen. Wie für die Kämpfe auf dem Boden gilt für den Friedensprozess: An Russland, das Anfang 2017 in der kasachischen Hauptstadt As­tana die Türkei und den Iran in einen Parallelprozess zu den UN-Vermittlungen einband, führt bei der diplomatischen Beendigung des Konflikts kein Weg vorbei. Das dürfte auch die amerikanische Regierung erkannt haben. Ein Viermächtestatut, das den kurdischen Einfluss in einer neuen föderativen Ordnung sichert, erscheint deshalb derzeit als wahrscheinlichstes Szenario. Selbst wenn es noch in weiter Ferne liegt.

Markus Bickel ist Chefredakteur des ­Amnesty Journal und Autor von „Der vergessene Nahostkonflikt“. Von 2012 bis 2015 war er Nahost-Korrespondent der FAZ in Kairo.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 83 - 87

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