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01. Nov. 2018

UN-Sicherheitsrat als Testfall

Deutschlands Sitz stellt die Handlungsfähigkeit der Koalition auf die Probe

Wenn Deutschland am 1. Januar 2019 in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einzieht, sind die Erwartungen groß. Die Bundesregierung soll und wird für den Erhalt der multilateralen Weltordnung kämpfen. Aber die zwei Jahre sind auch ein Test, ob Berlin außenpolitisch überhaupt noch handlungsfähig ist.

Die schlechte Nachricht vorweg: Immer, wenn Deutschland in den vergangenen Jahren Mitglied im UN-­Sicherheitsrat war, brach ein Krieg aus. 2003 begann US-Präsident George W. Bush den Irak-Krieg. 2011 intervenierten Frankreich, Großbritannien und die USA in Libyen und halfen beim Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi. Am 1. Januar 2019 zieht Deutschland nun erneut für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied in das höchste UN-Gremium ein.

Auch wenn die Kriegsausbrüche natürlich nichts mit der deutschen Präsenz im Sicherheitsrat zu tun hatten – eines haben die Erfahrungen von 2003 und 2011 der Bundesregierung aber gezeigt: Wer im UN-Sicherheitsrat sitzt, kann sich nicht mehr verstecken, sondern muss in internationalen Krisensituationen Farbe bekennen. Deshalb werden die Jahre 2019 und 2020 ein Testfall dafür sein, ob die Bundesregierung dem auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD formulierten ­Anspruch gerecht werden kann und will, international mehr Verantwortung zu übernehmen. Und noch etwas steht bereits jetzt fest: Nie waren die Erwartungen vieler Partnerstaaten an das deutsche Agieren im UN-Sicherheitsrat so groß wie heute, seit die Vollversammlung Deutschland Anfang Juni mit 184 Stimmen in das Gremium wählte.

Seit Monaten bereitet die Bundesregierung diese zweijährige Mitgliedschaft vor. Außenminister Heiko Maas hat bei seinem UN-Auftritt im September die groben Ziele abgesteckt. Im Außenministerium laufen Abstimmungen mit Kanzleramt und anderen Ressorts über eine Fülle an politischen Positionen. Das klingt banaler, als es ist: Eine Mittelmacht wie Deutschland hat zwar normalerweise eigene Meinungen für europäische Themen und für Europa umgebende Regionen. Aber von Mauretanien bis zum Südchinesischen Meer konnte die deutsche Diplomatie bisher eine eher zuschauende Rolle einnehmen.

Nun aber erzwingt der Sitz im UN-Sicherheitsrat einen globalen Blick. Künftig muss der wichtigste EU-Staat eine Meinung für alle 69 Themen haben, die im Sicherheitsrat offiziell schon auf der Agenda standen – etwa für die vielen Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent. Der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen sollte klare Weisung haben, bei welchen Punkten Deutschland nicht nur zuschauen, sondern auch mitagieren will – und ob er am UN-Sitz bei Abstimmungen seine Hand für ein Ja, Nein oder eine Enthaltung heben soll.

Die Bundesregierung hatte sich nach acht Jahren wieder für eine Präsenz im Sicherheitsrat beworben, weil diese eine Chance ist – so überholt das Gremium und das Veto­recht der fünf Siegermächte von 1945 heute auch seien. Eine Regierung kann eigene Schwerpunkte auf die internationale Agenda setzen, ähnlich wie eine G7- oder G20-Präsidentschaft – oder aber die EU-Rats­präsidentschaft, die Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020 zusätzlich übernehmen wird.

Neue Inhalte für den Sicherheitsrat

Die deutschen Wünsche an die Agenda sind wenig überraschend. In alter bundesrepublikanischer Tradition will Berlin vor allem für softe Themen eintreten – von der Krisenprävention über Abrüstung bis zur notwendigen Gleichberechtigung von Frauen.

Es soll um Menschenrechte, Klima und Wasser, Gesundheit und Kleinwaffen gehen. Afrika soll ein Schwerpunkt werden – nicht nur wegen der Migrationsfrage. So will Deutschland auch seinen Ko-Vorsitz der Freundesgruppe „­Afrikanische Frauen in Führungspositionen“ nutzen.

Teilweise verfolgt die Bundesregierung dabei Initiativen weiter, die sie bereits früher in den UN oder bei ihren Präsidentschaften der G20 und der G7 angestoßen hatte – etwa den Kampf gegen eine exzessive Antibiotika-Nutzung oder für bessere Bildungschancen für Frauen in Entwicklungsländern. All diesen Themen ist gemeinsam, dass Deutschland die Logik der Atommächte durchbrechen will, Sicherheit vor allem militärisch zu definieren. „Entwicklung gibt es nicht ohne Sicherheit, Sicherheit aber auch nicht ohne Entwicklung“, hatte Merkel Ende September bei einer Europaveranstaltung in Ottobeuren wieder gewarnt.

Schon im Afghanistan-Einsatz hatte die Bundesregierung frühzeitig für einen „vernetzten“ Sicherheitsbegriff geworben. In Deutschland umfasst dieser neben der Bundeswehr eben auch die Handlungsfelder von Innen-, Außen- und Entwicklungsministerium. Für die meisten Staaten außerhalb des exklusiven Sicherheitsrats-Zirkels am East River in New York sind Bildung, Gesundheit oder Klimawandel ohnehin die wirklich brennenden Themen – auch im Zusammenhang mit Sicherheitsfragen.

Die Bundesregierung kann vor allem in den beiden Monaten prägend sein, in denen Deutschland selbst den Vorsitz hat – also im April 2019 und im Juni oder Juli 2020. Eigene Ansätze kann sie mit dem so genannten „Mainstreaming“ unterbringen, bei dem an Resolutionen Forderungen wie beispielsweise nötige friedens­erhaltende Maßnahmen angehängt werden. Sollte die Bundesregierung wirklich ein ganz neues Thema auf die Agenda heben wollen, bräuchte sie dabei die Unterstützung von neun der 15 Sicherheitsratsmitglieder – was aber keine zu hohe Hürde sein sollte.

Europapolitischer Musterknabe

Daneben will sich Deutschland als europapolitischer Musterknabe erweisen: Der deutsche Sitz müsse ein „europäischer“ sein, hatte Merkel bereits bei dem Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am 19. Juni in Meseberg angekündigt. Immer wieder betonen deutsche Diplomaten, dass man sich eng mit den anderen EU-Partnern im Sicherheitsrat abstimmen wolle – etwa mit Belgien und Polen, die 2019 ebenfalls im Sicherheitsrat vertreten sind.

Eine erste Besprechung mit den Vertretern der jetzt und künftig im Gremium vertretenen EU-Mitglieder fand während der UN-Woche Ende September in New York statt. Und in Berlin ist man zuversichtlich, dass auch Frankreich – und nach dem Ausscheiden aus der EU Ende 2019 sogar Großbritannien – mitziehen werden. Gleich im März und April will man die Einheit der Europäer mit einer „jumelage“, also der möglichst engen Verzahnung des aufeinander­folgenden französischen und deutschen Vorsitzes demonstrieren.

Quasi als Gegenleistung für die Unterstützung der deutschen Kandidatur für den Sicherheitsrat will die Bundesregierung zudem die Arbeit des UN-Gremiums für die vielen Nichtmitglieder in der UN-Vollversammlung transparenter machen. So sollen die Gruppe der afrikanischen Staaten und die der kleinen Inselländer regelmäßig über die Beratungen im Sicherheitsrat unterrichtet werden. Wie beim G20- und G7-Prozess sollen zudem regelmäßige Treffen mit Nichtregierungsorganisationen stattfinden. Die vom amerikanischen Vorsitz plötzlich im September angeordneten öffentlichen Sitzungen des Sicherheitsrats sieht man allerdings eher skeptisch.

Gerade mit der angestrebten europäischen Abstimmung fangen für die Bundesregierung dann allerdings die Probleme an: Denn Konsensbildung bedeutet nicht nur, sich mit anderen EU-Staaten auf zivile Initiativen zu verständigen. So hat Macron immer wieder deutlich gemacht, dass gemeinsames Handeln für ihn eben auch militärisches Eingreifen bedeuten kann.

Immerhin haben sowohl Merkel als auch Maas hier intellektuelle Vorarbeit geleistet und sich für eine Abschaffung der Einstimmigkeit in der EU-Außenpolitik ausgesprochen. Die Kanzlerin schlägt sogar einen EU-­Sicherheitsrat mit einem rotierenden Mitgliederkreis vor. Dies beinhaltet ausdrücklich die Bereitschaft zur Kompromissfindung auch in der Außenpolitik – sowie das Risiko, überstimmt zu werden und nicht mehr auf den deutschen Sonderweg bei der ­militärischen Enthaltsamkeit pochen zu können. Dies dürfte sich auch auf die deutsche Haltung in New York auswirken.

Kampf dem Unilateralismus

Klarer Schwerpunkt der deutschen Mitgliedschaft wird das Eintreten für den Erhalt der multilateralen Weltordnung sein – was Deutschland in direkte Konfrontation mit den USA auch im Sicherheitsrat bringen dürfte, wie Diplomaten einräumen. Es gehöre für sie zu den gefährlichsten Entwicklungen überhaupt, dass der Multilateralismus unter Druck gerate, sagte Merkel vor Kurzem. Und mit Blick auf Trumps Politik schob sie hinterher: „Etwas zu zerstören, ohne etwas Neues entwickelt zu haben, halte ich für etwas ganz Gefährliches.“ Es komme heute mehr denn je darauf an, „Haltung“ zu zeigen und für die multilaterale Ordnung zu kämpfen. Auch die Rede von Heiko Maas vor der UN-Vollversammlung liest sich, als ob er Trump den ­Fehdehandschuh hinwirft. Die Welt leide unter einer „Krise des ­Multilateralismus“, der in Wahrheit aber kein Widerspruch zu nationaler Souveränität sei.

Nimmt die Bundesregierung diese Ansagen ernst, dürfte es ruppige Auseinandersetzungen mit Wa­shington geben. Die Zeiten, in denen Deutschland der westlichen Schutzmacht USA mehr oder weniger blind folgte, sind nicht nur auf militärischem Feld ohnehin seit 2003 und dem deutschen Nein zum Irak-Krieg endgültig vorbei.

Das zeigte zuletzt auch eine nicht abgestimmte Initiative der Vereinigten Staaten zum Kampf gegen Drogen. Weil der plötzliche Vorstoß aus Wa­shington ignorierte, was an internationalen Abstimmungen längst zu diesem Thema vereinbart worden war, verweigerte die Bundesregierung sehr zum Ärger Washingtons ebenfalls ihre Unterstützung.

Das schrittweise Ausscheiden der USA aus UN-Organisationen wie der UNRWA für palästinensische Flüchtlinge oder der UNESCO stößt in Berlin ohnehin auf Unverständnis und Kritik – ebenso wie das Ausscheiden aus dem Pariser Klimaschutzabkommen oder dem Atomabkommen mit dem Iran. Viele UN-Mitglieder hegen die Erwartung, dass Deutschland ­diese Kritik in New York auch offen formuliert. Beim Thema Iran ist die Erwartung vieler UN-Mitglieder, dass Deutschland eine vermittelnde Rolle einnehmen kann.

Aber die Betonung des Multilateralismus könnte durchaus zu Konflikten auch mit Russland, China und sogar Frankreich führen. Denn Russland hat etwa mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gezeigt, dass im Notfall eigene nationale Interessen Vorrang haben. Moskau hat ohnehin ein Interesse daran, Entscheidungen zu erzwingen, in denen sich Deutschland und die Europäer gegen die USA positionieren – schon um eine Spaltung des Westens zu erreichen.

Aus Sicht aller Partner geht China im Südchinesischen Meer ebenfalls im Alleingang vor. Frankreich wiederum ist nicht nur enger EU-Partner, sondern will auch seinen Status als eine von fünf Vetomächten behaupten, die Resolutionen federführend einbringen können. Maas hat aber in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung betont, wie anachronistisch der Sicherheitsrat und die Privilegien für die fünf Vetomächte heute sind. Sollte die Bundesregierung in den zwei Jahren erneut eine grundlegende UN-Reform anschieben, die etwa das Vetorecht der ständigen Mitglieder abschaffen soll, dürfte dies zu zusätzlichen Konfrontationen mit diesen Ländern führen.

Wie reagiert Berlin im Kriegsfall?

Dazu kommt, dass die Arbeit im UN-Sicherheitsrat in der Praxis weniger Wunschkonzert für eigene Themen ist, als sie sehr viel häufiger Reaktionen auf krisenhafte Entwicklungen erzwingt – bei denen vor allem die Atommächte USA, Russland und China oft maßgeblichen Einfluss haben. In Syrien etwa hat Russland massiv auf Seiten von Präsident Assad eingegriffen – auch um eigene Militärbasen in Syrien oder die Verbindung zu schiitischen Milizen im Libanon zu sichern. Die Vereinigten Staaten, aber auch andere westliche Regierungen und Regionalmächte wie die Türkei, Saudi-Arabien oder Katar haben wiederum unterschiedlichsten Rebellengruppen Militärhilfe geleistet. Auf eine einheitliche Haltung zum Stopp des Krieges in Syrien mit Hunderttausenden Toten und Millionen Flüchtlingen hat sich der Sicherheitsrat deshalb nie einigen können.

Auch die Bundesregierung hatte die Blockade und das Versagen des UN-Gremiums massiv kritisiert. Aber ab 1. Januar sitzt Deutschland nun mit am Tisch – muss agieren und selbst Verantwortung für getroffene oder auch nicht getroffene Entscheidungen übernehmen. Die Kanzlerin hat mit dem Vierertreffen mit den Präsidenten von Russland, Frankreich und der Türkei bereits deutlich gemacht, dass sie diese größere Verantwortung Deutschlands auch beim Thema ­Syrien sieht. Aber was das konkret heißt und mit welchen schwierigen Kompromissen dies verbunden sein könnte, wird sich erst in New York herausstellen.

Zum einen geht es um die politische Nachkriegsordnung mit oder ohne Assad sowie die Frage, ab wann und unter welchen Konditionen die Europäer und die Deutschen Wiederaufbauhilfe leisten wollen. Zum anderen aber steht eine Frage im Raum, die durchaus das Potenzial hat, die ohnehin labile Große Koalition in Berlin zum Scheitern zu bringen: Wann sollte Deutschland auch militärisch eingreifen?

Als die Westalliierten im Frühjahr 2018 nach dem Vorwurf eines Giftgaseinsatzes gegen Rebellen Luftangriffe auf die syrische Armee flogen, konnte sich die Große Koalition noch darauf zurückziehen, dass sie offiziell nicht um Mitwirkung gebeten worden war. Im September 2018 ließen Merkel und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen dann aber bei einer erneuten Debatte demonstrativ offen, was die Bundesregierung im hypothetischen Fall eines erneuten Giftgaseinsatzes tun würde. SPD-Chefin Andrea Nahles räumte das Thema am 12. September jedoch mit einem entschiedenen Nein der Sozialdemokraten wieder ab. Nur der noch gravierendere Koalitionsstreit um die Personalie Hans-Georg Maaßen verhinderte eine erbitterte Debatte über Syrien.

„Mit dem Einzug in den Sicherheitsrat ab Januar 2019 wird sich die Bundesregierung aber nicht mehr rausreden können – weder mit dem Hinweis, nicht gefragt worden zu sein, noch mit dem ständigen Verweis auf die mangelnden Fähigkeiten der Bundeswehr“, meint ein EU-Diplomat. Es sei angesichts der gestiegenen Bedeutung Deutschlands und der vorangegangenen Debatte nicht mehr vorstellbar, dass die Bundesregierung im Konfliktfall nicht an der Seite ihrer drei wichtigsten westlichen Alliierten stehe, meint er.

Was dies für die Lage in der ohnehin als labil eingeschätzten Großen Koalition bedeuten würde, ist völlig offen. Sollte die SPD schon mit Blick auf Landtagswahlen 2019 und aus Sorge vor einem weiteren Abrutschen in Umfragen jede militärische Beteiligung verweigern, werde es schwierig, heißt es in der Union. Deutschlands selbstbewusst formulierter Anspruch, mehr internationale Verantwortung übernehmen zu wollen, könnte dann schnell an Grenzen stoßen. In der SPD wiederum warnt man vor blindem Hinterherlaufen in eine militärische Konfrontation.

Deshalb wird der deutsche Sitz im Sicherheitsrat angesichts hoher Erwartungen diesmal nicht nur eine außenpolitische Herausforderung. Die zwei Jahre Zugehörigkeit zum höchsten UN-Gremium haben auch das Potenzial, mit einer Menge zu erwartender und unpopulärer Entscheidungen eine instabile Koalition in Berlin ins Wanken zu bringen.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November-Dezember 2018, S. 86-91

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