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01. Nov. 2002

Überforderte Entwicklungspolitik

Veränderungen nach dem 11. September

Rufe nach einer verbesserten, ökologisch verträglichen und politisch stabilisierenden Entwicklungspolitik in den Krisenregionen der Welt nahmen nach dem 11.9. zu. Doch die Schaffung globaler Gerechtigkeit und Sicherheit ist nur mit einer geringfügigen Steigerung der Entwicklungshilfe nicht zu erzielen, vor allem, wenn die „Terrordividende“ ausschließlich die Militärapparate begünstigt.

Nach dem 11. September 2001 schien auch in der internationalen Entwicklungspolitik der allfällige Spruch zu gelten, dass schlagartig nichts mehr so war, wie es vorher war. Die an der weltpolitischen Peripherie geplanten Terrorakte auf die Hochburgen der westlichen Wirtschafts- und Militärmacht schienen ihr wieder aus der politischen Irrelevanzfalle und Rechtfertigungskrise zu helfen, in die sie nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geraten war. Der Kalte Krieg hatte ihr die geostrategische Schubkraft gegeben, die auch erhebliche Mittel mobilisierte, aber auch dafür gesorgt, dass sie für allerlei fragwürdige Zwecke eingesetzt wurde.

Nach der weltpolitischen Wende von 1989/90 gab es im Gefolge der fast weltweiten Verringerung der Rüstungsausgaben zwar eine „Friedensdividende“, die jedoch nicht in eine „Entwicklungsdividende“ umgeschichtet wurde, wie damals Willy Brandt und Richard von Weizsäcker in einer gemeinsamen Initiative gefordert hatten. Vielmehr sanken die öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA) der OECD-Länder auf historische Tiefstände, allen voran die ODA-Leistungen der USA und der Bundesrepublik Deutschland. Sie sanken auch deshalb, weil die spektakulären Weltkonferenzen der neunziger Jahre zwar auf die sich verschärfenden Weltprobleme (Anwachsen der Armut, Umweltkrisen, Migrationsbewegungen, Staatszerfall, Ausbreiten der AIDS-Pandemie usw.) aufmerksam machten, diese aber kaum als Bedrohungen des eigenen Wohlergehens begriffen wurden, obwohl sicherheitspolitische Denkfabriken im Kontext der Diskussion über „erweiterte Sicherheit“ schon früh auf ihre Gefahrenpotenziale hinwiesen. Das von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik herausgegebene „Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff“ belegt diese Frühwarnungen.1

Längst vor dem 11. September 2001 hatte Karl Kaiser – wie mit ihm schon viele Friedens- und Entwicklungsforscher – eine „radikal verbesserte (und ökologisch verträgliche) Entwicklungspolitik sowie eine politische Stabilisierungspolitik“ angemahnt, um den in den Krisenregionen der Welt wachsenden Problemdruck entschärfen zu können.2 Solche weitsichtigen Mahnungen konnten dennoch nicht verhindern, dass sich die Entwicklungsetats immer weiter vom „UN-Ziel“, d.h. 0,7% des Bruttosozialprodukts (BSP), entfernten.

Die Terroranschläge schienen dann so etwas wie ein entwicklungspolitisches „Damaskuserlebnis“ auszulösen. Die USA und die EU-Länder sagten auf der im März 2002 im mexikanischen Monterrey veranstalteten UN-Konferenz „Financing for Development“ erhebliche ODA-Steigerungen zu.3 Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte auf dem New Yorker Weltwirtschaftsforum mit dem folgenden Merksatz wieder einen Zusammenhang zwischen Entwicklung und Frieden her, auf den sein Vorgänger Brandt häufig hingewiesen hatte: „Es gibt keine globale Sicherheit ohne globale Gerechtigkeit.“4

Der 11. September führte wie in einem Brennglas die Verwundbarkeit der globalen Infrastrukturen vor Augen. Er nahm den Inseln des Wohlstands und Friedens die Illusion, dass sich die Krisen der Welt in sicherer Entfernung zusammenbrauen, und er konkretisierte das, was der Soziologe Ulrich Beck „globale Risikogesellschaft“ nennt. Die Globalisierung rückt der OECD-Welt auch Fehlentwicklungen an der weltpolitischen Peripherie näher. Die immer intensivere Verflechtung der Bedingungen von Sicherheit verdeutlicht, dass Sicherheit nur als globale Sicherheit gewährleistet werden kann.

Tiefenstrukturen des Nord-Süd-Konflikts

Der 11. September taugt zwar nicht als Dramaturgie eines „Aufstandes der Verdammten dieser Erde“, wie der Publizist Günther Gaus in Anlehnung an einen berühmten Buchtitel von Frantz Fanon die Terrorakte deutete. Hier begannen nämlich bereits Opfer- und Täterrollen zu oszillieren: Die Terroristen kamen nicht aus den Slumvierteln arabischer Städte und sie zielten nicht auf die Mobilisierung der „Verdammten dieser Erde“ ab. Aber der mehr oder weniger klammheimliche Beifall in vielen Ländern des Südens spiegelte jenseits diplomatischer Solidaritätsbekundungen die fragilen Tiefenstrukturen der Nord-Süd-Beziehungen wider, aus denen sich entwicklungspolitische Herausforderungen ableiten lassen:

Erstens hat sich die Schere zwischen Reichtum und Armut, zwischen Norden und Süden, aber auch innerhalb der armen Welt mit ihren Inseln an provozierendem Reichtum, besonders in der arabischen Welt, weiter geöffnet. Der vom UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) vorgelegte Human Development Report 1999 belegte mit einer Fülle von Daten das plakative Bild einer „globalen Apartheid“ der Lebenschancen. Zwar führt von der Armut kein direkter Weg zum Terrorismus, aber soziale Frustrationen schaffen einen Nährboden für Gewaltbereitschaft und Rechtfertigungen für Gewaltanwendung. Die schlichten Feindbilder von fanatisierten „heiligen Kriegern“ fallen in Stadtvierteln und Regionen auf fruchtbaren Boden, wo Elend, Gewalt, sozialer Zerfall und Hoffnungslosigkeit zum Alltag gehören.

Zweitens erzeugt die höchst ungleiche Machtverteilung in der Weltpolitik und Weltwirtschaft Gefühle der politischen Deklassierung und Demütigung. Die politischen und intellektuellen Eliten des Südens betrachten nicht nur die G-7/G-8, sondern auch die globalen Institutionen (den UN-Sicherheitsrat, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank und Welthandelsorganisation) als Kartelle der Mächtigen und Reichen, die auch aus der Globalisierung möglichst große Vorteile für sich herausschlagen, ohne die „Fußkranken der Weltwirtschaft“ an den Wohlstandsgewinnen zu beteiligen. Der Human Development Report 2002 stellte fest, dass in den Entwicklungsländern die Frustration über die verzerrte Machtverteilung in der Welt selten größer gewesen sei.5 Das Gefühl der Ohnmacht führt zu einem Pendeln zwischen Resignation und „ohnmächtiger Wut“ gegen den anscheinend übermächtigen Westen.

Drittens löste dessen mit der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Überlegenheit vermengte kulturelle Hegemonie vor allem in der islamischen Welt Reaktionen aus, die der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington schon vorher als „Zusammenprall der Kulturen“ dramatisiert hatte. Diese „fixe Idee“6 erhielt nach dem 11. September eine fragwürdige Plausibilität und Suggestivkraft, weil sie ein „Feindbild Islam“ verstärkte, das nicht zwischen Islam und Islamismus unterschied. Richtig war jedoch, dass die kulturelle Globalisierung in Gestalt einer verwestlichten „Allerweltskultur“ überall dort Widerstände provozierte, wo sie als Bedrohung kultureller Identitäten und lokaler Lebenswelten wahrgenommen wurde. Der vom Westen propagierten Doktrin der Universalität der Menschenrechte wurden auch deshalb islamische oder asiatische Werte entgegengehalten, weil sie als Ingredienz des westlichen Kulturimperialismus verdächtigt wurde.

Wie im Süden selbst kluge Intellektuelle die Hintergründe des 11. Septembers deuteten, dokumentiert ein Artikel von Arundhati Roy, der literarischen Stimme Indiens.7 Darin beschimpfte sie nicht nur den amerikanischen Präsidenten als kriminellen Zwillingsbruder von Osama bin Laden, sondern attackierte in literarischer Bildersprache auch „wirtschaftliche Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben“ und deren Kultur zu beherrschen versuchen.

Es schien, als ob der Schock des 11. Septembers das soziale Weltgewissen weckte und die Einsicht beförderte, dass nur eine gerechtere Welt den Nährboden des internationalen Terrorismus austrocknen könnte. Alle politischen Parteien forderten eilfertig eine massive Aufstockung des Entwicklungsetats. Gleichzeitig überforderten sie die Entwicklungspolitik durch eine ständige Erweiterung ihres Aufgabenkatalogs, vor allem dann, wenn sie auf den engeren Bereich der ODA verengt wird. Viele der wohlfeilen Ratschläge beruhen auf allzu hohen Erwartungen und Fehleinschätzungen ihrer Möglichkeiten. Die Entwicklungspolitik soll mit einer Mittelausstattung, die kaum den Umfang des Agrarhaushalts der Europäischen Union erreicht,

–weltweit die Massenarmut überwinden;

–als präventive Sicherheitspolitik den Frieden sichern;

–den Planeten durch die Förderung von nachhaltiger Entwicklung vor dem ökologischen Kollaps bewahren;

–die Wohlstandsinseln vor Elends- und Umweltflüchtlingen aus den Armuts- und Krisenregionen schützen;

–weltweit der Marktwirtschaft, der Demokratie, „good governance“ und den Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen;

–sozialpolitisch auffangen, was die Globalisierung an Humankosten verursacht.

Die Weltbank setzte der internationalen Entwicklungspolitik in ihrem Weltentwicklungsbericht 2003 die folgenden drei Kernziele für ein „Management planetarischer Risiken“: Verringerung der Armut, Abmilderung des Klimawandels und Bewahrung der biologischen Vielfalt. Der 11. September rückte jedoch die Funktion der Krisenprävention in den Vordergrund und diese Aufgaben in den Hintergrund. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges drohen auch jetzt wieder geostrategische Interessen, die Allianzen mit autokratischen Regimen schmieden, friedenspolitische Einsichten überrollen und die Menschenrechte mit einem „Anti-Terror-Rabatt“ behandeln.

Die Gretchenfrage war und ist, mit welchen Zielsetzungen und Instrumenten die Entwicklungspolitik zur Krisenprävention beitragen kann. Sie erwies sich bisher als ziemlich unfähig, die Vielzahl der in den neunziger Jahren aufbrechenden Bürgerkriege zu verhindern, weil sie mit ihren geringen Mitteln nicht leisten konnte, was die Diplomatie nicht zu leisten vermochte. Die EU und der DAC (Development Assistance Committee der OECD) entwickelten schon in den neunziger Jahren umfassende Konzepte, die nach dem 11. September an Aktualität und Dringlichkeit gewannen. In ihrem Mittelpunkt stand die Erkenntnis, dass Armut das Schlüsselproblem vieler Krisen und gewaltförmiger Konflikte bildet, und deshalb die Armutsbekämpfung Priorität bekommen muss, die sie bisher – trotz aller rechtfertigenden Rhetorik – nicht hatte.

Krieg gegen die Armut

Auch angeschoben durch die Sinn- und Rechtfertigungskrise des milliardenschweren „Unternehmens Entwicklungshilfe“, das nur Akzeptanz findet, wenn es auch Erfolge bei der Bekämpfung der Weltarmut nachweisen kann, verkündete schon der Kopenhagener „Weltsozialgipfel“ von 1995 einen „Krieg gegen die Armut“. In seinem Gefolge formulierte der DAC 1996 in einer Entwicklungsstrategie für das 21. Jahrhundert das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2015 die Armutsquote trotz wachsender Weltbevölkerung halbieren zu wollen. Sowohl der New Yorker „Millenniumsgipfel“ von 20008 als auch der Johannesburger Weltgipfel vom 26. August bis 4. September 2002 bekannten sich zu diesem Ziel und entwickelten konkrete Etappenziele.9 Die Armutsbekämpfung stand endgültig ganz oben auf der entwicklungspolitischen Agenda.

Aber auch das Menetekel des Terrorismus, das die Mehrzahl der Entwicklungsländer ohnehin nicht sonderlich bekümmerte, konnte die westlichen Staaten nicht dazu bewegen, die von der deutschen Entwicklungsministerin nach dem 11. September geforderte „weltweite Koalition für Gerechtigkeit und Solidarität“ mit deutlich mehr Mitteln auszustatten. Auch die in Monterrey zugesagte Aufstockung der ODA um rund 12 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2006 würde nur rund die Hälfte des „UN-Zieles“ und des Umfangs erreichen, den internationale Organisationen für eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut und mit ihr für eine soziale Vorwärtsverteidigung gegen armutsbedingte Krisen und Konflikte für erforderlich halten. Die Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur „Globalisierung der Weltwirtschaft“ forderte im Juni 2002 sogar eine schrittweise Steigerung der ODA auf ein Prozent des BSP – und riskierte damit das Kopfschütteln der Finanzpolitiker.

Obwohl sich fast alle Welt darin einig zu sein scheint, dass Bomben und Raketen die Wurzeln des Terrorismus nicht erreichen können, wurden nun zwar hastig die Rüstungsetats aufgestockt – in den USA in geradezu gigantischen Dimensionen –, aber für das multifunktionale Subsystem ODA blieben weiterhin nur kleine Häppchen übrig. Deshalb war auch nicht mehr von einer „Friedensdividende“, sondern von einer „Terrordividende“ die Rede.10 In kaum einem anderen Politikfeld weicht die politische Praxis so weit von der Rhetorik der Sonntagsreden und internationalen Absichtserklärungen ab wie in der Entwicklungspolitik.

Aus der Analyse der Tiefenstrukturen des Nord-Süd-Konflikts folgt, dass sich die entwicklungspolitischen Herausforderungen nicht in einer Vergrößerung der Entwicklungshaushalte erschöpfen können. Entwicklungspolitik ist viel mehr als die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung verwaltete und gestaltete Entwicklungshilfe (ODA). Aber auch ihre knappen Mittel müssen mehr auf die Bereiche konzentriert werden, in denen es um die Lösung globaler Probleme mit hoher Risikostreuung geht, also vor allem auf die Armutsbekämpfung und Verwirklichung der international vereinbarten „Millenniumziele“, die Eindämmung der Umweltzerstörung und auf die friedensichernde Konfliktprävention. Ihre zielgerichtete Armutsorientierung ist zugleich eine Voraussetzung für langfristiges Wachstum, die Verhinderung von gewaltsamen Verteilungskonflikten und einen schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen, weil Armut Gift für die Umwelt ist und die Umweltzerstörung wiederum eine Ursache für Armut ist.

Globale Strukturpolitik

Eine erfolgreiche Armutsbekämpfung ist nicht allein durch die Förderung von noch so vielen Projekten möglich, sondern bedarf zuvörderst der Veränderung entwicklungshemmender Strukturen und der produktiven Aktivierung der Armutsgruppen, die ihr Empowerment (d.h. ihren Zugang zu Rechten) voraussetzt. Selbst die „unpolitische“ Weltbank rang sich in ihrem Weltentwicklungsbericht 2003 zu dieser Konsequenz durch. Hier können die internationalen Entwicklungsagenturen durch die Förderung von Strukturreformen nachhelfen, aber die Hauptverantwortung liegt bei den Eliten der Entwicklungsländer.

Für Reformen der internationalen Finanz- und Handelsstrukturen, die Entwicklungschancen determinieren, sind jedoch die OECD-Länder verantwortlich, die das Sagen in der Weltwirtschaft haben. Sie müssen die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen so verändern, dass sie z.B. durch den Abbau ihres Agrarprotektionismus auch den „Fußkranken der Weltwirtschaft“ mehr Chancen einräumen, an den Vorteilen der Globalisierung zu partizipieren. Dies ist eine wesentliche Anforderung an eine Nord-Süd-Politik, die die rot-grüne Bundesregierung auf den programmatischen Begriff der „globalen Strukturpolitik“ zuspitzte.

Eine als „globale Strukturpolitik“ konzipierte Entwicklungspolitik verlangt auch, dass der Staatenmehrheit aus der Dritten Welt – und damit der großen Mehrheit der Weltbevölkerung – mehr Gewicht in den internationalen Organisationen zugestanden wird. Sie wird nur durch mehr Gleichberechtigung Gefühle der politischen Deklassierung abbauen können und gleichzeitig zu kooperativen Problemlösungen, z.B. in der globalen Umweltpolitik, bereit sein, an denen auch den Industrieländern gelegen ist. Es gibt beispielsweise in der Globalen Umweltfazilität (GEF) und bei der Implementierung des Ozonregimes funktionierende Modelle der Nord-Süd-Parität bei Abstimmungen über Geldbewilligungen, die auch in der Weltbank und im IWF praktiziert werden könnten. Die Enquetekommission zur „Globalisierung der Weltwirtschaft“ empfahl eine Umverteilung der Stimmengewichte in diesen beiden für die Gestaltung der Nord-Süd-Beziehungen wichtigen multilateralen Finanzorganisationen. Partnerschaft setzt Gleichberechtigung voraus.

Eine „globale Strukturpolitik“ muss weiterhin auf den Aufbau einer internationalen Kooperationskultur abzielen, in der Industrie- und Entwicklungsländer gemeinsam an der Lösung globaler Probleme beteiligt werden, also auf die Weiterentwicklung globaler Regelwerke und handlungsfähiger Institutionen (wie beispielsweise einer dem Problemdruck angemessenen Weltumweltorganisation). Die Nord-Süd-Politik mit dem Vehikel ODA muss sich stärker an der Logik „gemeinsamer Interessen“ und an der Schutzbedürftigkeit globaler öffentlicher Güter orientieren.11 Sie darf sich also nicht länger auf einer Nord-Süd-Einbahnstraße bewegen, auf der Geld, Güter, Experten und Entwicklungskonzepte gen Süden transportiert werden, aber nichts nach Norden zurückkommt. Dieses Missverständnis von einseitigem Geben und Nehmen hat sich auch in der Amtssprache festgesetzt.

Die OECD-Länder müssen begreifen, dass sie die Schwellenländer nicht nur als Exportmärkte, sondern auch für eine globale Klimaschutzpolitik brauchen, und dass sie die Armutsregionen nicht der weiteren Verelendung überlassen dürfen, ohne Bumerangeffekte zu riskieren. Der 11. September hat verdeutlicht, dass mit der Globalisierung Risiken einhergehen, die nur durch eine Verdichtung der internationalen Kooperation entschärft werden können.

Auch ein glaubwürdiger interkultureller Dialog, der nach dem 11. September allenthalben als Allheilmittel gegen den von Huntington angedrohten „Zusammenprall der Kulturen“ angemahnt wurde, verlangt weit mehr als eine Aufstockung der Mittel für die auswärtige Kulturpolitik und die Vermehrung von Veranstaltungen des Goethe-Instituts. Er setzt vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft des „belehrenden“ Westens voraus, andere Kulturen als gleichwertige zu akzeptieren und von ihnen zu lernen. Das von UN-Generalsekretär Kofi Annan angeregte „Manifest für den Dialog der Kulturen“, an dem u.a. der Theologe Hans Küng und Richard von Weizsäcker mitwirkten, zeigt auf, wie ein fruchtbarer Dialog gestaltet werden müsste.12

Reorganisation

Die Entwicklungspolitik kann ihren weiten Aufgabenkatalog nur dann – und auch dann nur teilweise – erfüllen, wenn sie als politische Querschnittsaufgabe konzipiert und organisiert wird, also zusammen mit der Außen- und Menschenrechtspolitik, der Außenhandels- und internationalen Finanzpolitik, der Umwelt- und Agrarpolitik in eine kohärente Gesamtpolitik eingebunden wird. Es mangelt innerhalb der Regierungsorganisation an einer Ressort übergreifenden Koordination, die auch für mehr Kohärenz sorgen könnte. Sie ist nicht fit für eine globale Strukturpolitik, die nur im Konzert der Ministerien und ihrer Zuständigkeiten möglich wäre.13

Außerdem muss die nationale Entwicklungspolitik stärker mit der europäischen und globalen Ebene koordiniert werden, weil gerade die Friedenssicherung ein konzertiertes Handeln verlangt. Die schmalbrüstige europäische Entwicklungspolitik und die Potenziale des Cotonou-Vertrags mit den 77 Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifik (AKP) müssen stärker in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU eingebunden werden. Der an nationalstaatlichen Eigeninteressen orientierte Bilateralismus verhindert eine für kollektive Problemlösungen notwendige multilaterale Kooperationskultur und hindert die EU daran, die Rolle einer „kooperativen Weltmacht“ zu spielen, die auch in der internationalen Entwicklungspolitik ihre positiven Erfahrungen mit regionaler Kooperation und dem sozialstaatlichen „rheinischen Kapitalismus“ mehr zur Geltung bringen könnte und sollte. Europa ist besonders mit der „AKP-Familie“, zu der die Mehrzahl der ärmsten Entwicklungsländer zählt, durch viele kolonialhistorische Nabelschnüre verbunden. Hier spielen sich die meisten Dramen von Bürgerkriegen, Hunger- und Umweltkrisen ab.

Nach dem 11. September formulierte mancher Politiker in aller Welt (hier der deutsche Bundeskanzler) wuchtige Lehren wie: „Keine globale Sicherheit ohne globale Gerechtigkeit“ aus dem Geschehen in New York. Es ist aber eine Erfahrung, dass Lehren aus Katastrophen keine nachhaltige Wirkung haben. Es besteht sogar die Gefahr, dass nur der „Krieg gegen den Terror“ die Erinnerung wach hält, dass die „OECD-Welt“ von den Krisen und Konflikten in weit entfernten Regionen, die ihr die Globalisierung näher rückt, nicht verschont bleibt. Dann allerdings würde sich auch die eigentliche Herausforderung des 11. Septembers schnell wieder verflüchtigen: die Verfestigung der spontan aus dem Schock erwachsenen Einsicht, dass es in der Tat keine globale Sicherheit ohne globale Gerechtigkeit geben kann; dass folglich auch eine ausschließlich die Militär- und Sicherheitsapparate begünstigende „Terrordividende“ die entwicklungspolitischen Herausforderungen verfehlen würde.

Globale Gerechtigkeit bedeutet dabei allerdings weit mehr als ein bisschen oder sogar viel mehr Entwicklungshilfe. Globale Sicherheit muss auch einschließen, was UN-Organisationen unter „human security“ verstehen, nämlich Freiheit von „Furcht und Not“ nach der Verheißung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Anmerkungen

1  Vgl. Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hrsg.), Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff, Hamburg usw. 2001.

2  Karl Kaiser, Die neue Weltpolitik: Folgerungen für Deutschlands Rolle, in: ders./Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik im neuen Jahrhundert, Bonn 2000, S. 601.

3  Vgl. den auszugsweisen Abdruck in:Internationale Politik (IP), 6/2002, S. 89–97.

4  Zu Willy Brandts entwicklungspolitischen Vermächtnis vgl. die verschiedenen Beiträge in: Nuscheler (Hrsg.), Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globalisierung, Bonn 2000.

5  Human Development Report 2002: Deepening Democracy in a Fragmented World, New York/Oxford 2002, S. 101.

6  So Dieter Senghaas, Zivilisierung wider Willen, Frankfurt/M. 1998, S. 135 ff.

7  Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.9.2001.

8  Vgl. hierzu auch die Dokumentation in:IP, 12/2000, S. 71 ff.

9  Vgl. hierzu die Dokumentation, S. 69 ff.

10So das Fazit des Bonn International Center for Conversion (Hrsg.), Conversion Survey 2002, Baden-Baden 2002.

11Vgl. Inge Kaul/Isabelle Grunberg/Marc A. Stern, Global Public Goods: International Cooperation in the 21st Century, New York 1999.

12Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen, Frankfurt/Main 2001.

13Vgl. die Defizitanalyse von Walter Eberlei und Christoph Weller, Deutsche Ministerien als Akteure von Global Governance, Duisburg (INEF-Report 51) 2001.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2002, S. 1 - 8.

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