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01. Nov. 2006

Überfallene Liberale

Da die Folgen des Irak-Kriegs nicht so aussehen, wie Optimisten sie sich vorgestellt haben, wird allenthalben mit großer Geste der Abschied vom Neokonservatismus zelebriert. Bernd Volkert räumt mit Vorurteilen auf.

Henry Kissinger, so wird gemunkelt, feiert seine Wiederauferstehung als Stichwortgeber der amerikanischen Außenpolitik; auch in den Thinktanks ist wieder „Realismus“ angesagt. Wer dort etwas werden will, muss sich von den Neokonservativen distanzieren.

Der Politologe Bernd Volkert zeigt in seinem schmalen Band, dass die Neokonservativen schon beinahe so lange totgesagt werden, wie es sie gibt. Der Neokonservatismus ist, so Volkert, keine geschlossene Weltanschauung einer klar umrissenen Gruppierung, sondern ein „reaktives Phänomen“ auf von einzelnen Intellektuellen wahrgenommene Bedrohungen des amerikanischen Liberalismus, hier verstanden „als ein Gesellschaftskonzept, … zentral beruhend auf den Rechten des Individuums“.

Vorläufer der Neokonservativen war Irving Kristol, Mitherausgeber der Zeitschrift Encounter, der in den fünfziger Jahren vor einem Fortbestehen des Totalitarismus warnte. Eigentlicher Beginn der neokonservativen Denkschule waren indes die sechziger Jahre, als die zumeist aus der Linken kommenden Autoren der Zeitschriften The Public Interest und Commentary – Kristol, Daniel Bell, Norman Podhoretz und andere – vor dem „inhärenten Autoritarismus“ der 68er-„Kulturrevolution“ warnten. Auch in den umfassenden Sozialprogrammen der Regierung Johnson sahen sie, wenngleich Befürworter der Bürgerrechtsbewegung und überzeugte Antirassisten, bereits eine Bedrohung des Liberalismus, da mit dem „war on inequality“ und den „affirmative action“-Programmen das Verhältnis zwischen Individuum und Staat zugunsten des letzteren verschoben worden sei.

Was die neokonservativen Intellektuellen verband, war die Sorge um den Fortbestand der USA als „vital center“ des Liberalismus. Dies führte sie seit Mitte der siebziger Jahre auf das Feld der Außenpolitik. Die anti-israelische Haltung in Teilen der UN, den Ländern des Warschauer Paktes, bei den blockfreien Staaten und nicht zuletzt innerhalb der amerikanischen Linken sowie die iranische Revolution 1979 ließen die Neokonservativen zu vehementen Fürsprechern amerikanischer Militärmacht werden. Der Islamismus galt den Neokonservativen als dritte totalitäre Bedrohung, die notfalls auch mit Krieg bekämpft werden müsse.

Wenn man auch die Bedrohungsszenarien nicht teilen muss, so lässt Volkert doch die politischen Entscheidungen der Neocons verständlich werden und zeigt (und zwar informierter und faktenreicher als etwa Francis Fukuyama), dass an Verschwörungstheorien über jüdische Lobbies und Ölkonzerne hinter den Neokonservativen nichts dran ist.

Bernd Volkert: Der amerikanische Neokonservatismus. Entstehung, Ideen, Intentionen. LIT, Berlin 2006. 128 Seiten, € 19,90.

Ingo Way, geb. 1974, ist Redakteur der IP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 11, November 2006, S.135

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