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01. Apr. 2006

Freiheitliches Immunsystem

Buchkritik

Ralf Dahrendorf gründet retrospektiv den Club der Erasmier

Groucho Marx wird die Äußerung zugeschrieben, er würde keinem Club beitreten, der bereit sei, jemanden wie ihn als Mitglied aufzunehmen. Eigentlich beschreibt das ganz gut die Geisteshaltung eines unabhängigen Intellektuellen, der sich auf Parteilinien und Mehrheitsbeschlüsse nicht einschwören lässt und zu denen gewiss auch Ralf Dahrendorf gezählt werden will. Umso erstaunlicher, dass er in seinem neuen Buch „Versuchungen der Unfreiheit.

Die Intellektuellen im Zeitalter der Prüfung“ eine Reihe seiner geistigen Vorbilder und Mentoren – darunter Karl Popper, Isaiah Berlin, Raymond Aron, Norberto Bobbio, Hannah Arendt, George Orwell und Theodor W. Adorno – posthum in einem fiktiven Club der Erasmier vereinigt. (Nach Erasmus von Rotterdam, den Dahrendorf als Modell des eigenständigen und unbestechlichen Denkers vorstellt.) Dahrendorfs Ausgangsfrage ist es, was eigentlich so attraktiv an totalitären Systemen und den sie begründenden Denkweisen ist, dass auch Schriftsteller und Intellektuelle, die in liberalen westlichen Demokratien leben, so häufig von ihnen fasziniert sind. Er nähert sich der Antwort auf negativem Wege, indem er zeigen will, wer und aus welchen Gründen gegen die totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts immun geblieben ist, und stellt diejenigen vor, die er mit der etwas willkürlichen Klammer der „Erasmier“ zusammenfasst.

Es lässt sich nicht sagen, dass Dahrendorf die Beantwortung seiner Frage letztlich gelingt, doch lässt sie sich aus den Lebensbeschreibungen der Genannten zumindest indirekt erahnen: Es ist die Fähigkeit, die unheroische Langeweile der bürgerlichen Gesellschaft auszuhalten. Kommunismus und Faschismus versprachen einen Ausweg aus dieser vermeintlichen Langeweile durch permanente Mobilisierung der Massen, das Versprechen auf den erlösenden Endkampf und die ständige Beschwörung der Bedrohung durch Verräter.

Aus dieser Fähigkeit, Langeweile und Ereignislosigkeit auszuhalten, auch eine bestimmte biedermeierliche Haltung bis zu einem gewissen Grade zu bejahen, speist sich wohl auch der Abscheu der Dahrendorfschen Erasmier vor der 68er-Revolte. Auch diese war vor allem eine Bewegung gegen die Eintönigkeit demokratischer Gesellschaften, gegen Bürgerlichkeit und „Spießigkeit“, und liebäugelte daher mit Totalitarismen wie der maoistischen, die Radikalität, Aufregung und Entschlossenheit versprachen.

Trotz ihres festen antitotalitären Standpunkts sind Erasmier aber keine Widerstandskämpfer, so Dahrendorf, eher Exilanten, die sich nicht scheuen, Partei zu ergreifen, sich aus dem physischen Kampf aber heraushalten. Zum Widerstand bedürfe es der Bereitschaft zur Opferung des eigenen Lebens, im Glauben, dass es etwas Höheres gebe als die irdische, bürgerliche Existenz. Es scheint, als mache paradoxerweise genau die Haltung, die vor der totalitären Versuchung bewahrt, die Schwäche jedes unaufgeregten Liberalismus aus. Es stellt sich somit die Frage, ob die liberale Demokratie dem Totalitarismus ihrer eigenen Konstitution wegen unterlegen ist. Salopp gefragt: Muss man selbst ein bisschen totalitär werden, um den Totalitarismus zu bekämpfen? Doch was bliebe dann zu verteidigen?

Dahrendorf weiß, dass Erasmier (und alle anderen, die ruhig und friedlich leben wollen) auf den Schutz durch die Staatsgewalt angewiesen sind, im Ernstfall auch in militärischer Form. Denn gerade das ist die Stärke der bürgerlichen Demokratie: dass der Einzelne kein Widerstandskämpfer sein muss; die Verteidigung gegen Bedrohungen der Freiheit wird gleichsam an Fachkräfte delegiert. Heute ist der Islamismus auch für westliche Intellektuelle eine Versuchung, da auch er Erlösung von Ennui und Dekadenz verspricht. Doch folgt am Schluss eine überraschende Wendung: Der Islamismus sei zwar eindeutig ein Feind der liberalen Gesellschaft, dennoch stelle er keine totalitäre Gefahr dar, da er nicht glaubhaft machen könne, dass ihm die Zukunft gehört, und er gegen den Westen praktisch keine Chance habe.

Diese liberale „Wird schon werden“- Haltung hinterlässt eine gewisse intellektuelle Unbefriedigung. Woraus speist sich dieser Optimismus? Wer besiegt den islamistischen Terror, mit welchen Mitteln, wann und zu welchem Preis? Die eingestandene Schwäche der Erasmier: dass sie keine Widerstandskämpfer sind, kann leicht zur Illusion werden, dass keine Gefahr droht.

Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen im Zeitalter der Prüfung. Verlag C.H. Beck, München 2006. 240 Seiten, € 19,90.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2006, S. 134 - 135

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