Internationale Presse

01. Mai 2012

Tomatenrepublik China

Die Turbulenzen in der Kommunistischen Partei offenbaren ein kompliziertes Wechselspiel

In politisch turbulenten Zeiten können Tomaten zu Waffen werden. Seit Mitte April gehört „Xihongshi“ (Tomate) zu den Begriffen, die bei Chinas Internetzensoren auf dem Index stehen. Alle Nachrichten über die rote Strauchfrucht werden automatisch blockiert oder von Überwachungssoftware an die Cyberpolizei weitergeleitet. Denn Tomate ist eines der Synonyme, das Internetbenutzer für Bo Xilai verwenden, den ehemaligen Parteichef von Chongqing, der im Zentrum von Chinas wohl größtem politischen Skandal seit Jahrzehnten steht. „Xihongshi“ klingt so ähnlich wie „westliche rote Stadt“ – eine Anspielung auf die westchinesische Metropole, die unter Bo eine „rote Kampagne“ erlebte, die viele Beobachter an die Kulturrevolution erinnerte.

Die einflussreiche Nachrichtenwebseite China Digital Times der US-University Berkeley, die regelmäßig chinesische Zensurlisten veröffentlicht, hat neben „Tomate“ noch diverse andere Ausdrücke gesammelt, die im Zusammenhang mit dem politischen Beben gesperrt wurden. Die Lokalspezialität „Chongqing-Feuertopf“ ist den Propagandabeamten ebenso verdächtig wie „Karotte“ (eine Bezeichnung für Staats- und Parteichef Hu Jintao), „Teletubby“ (Premier Wen Jiabao), der Name „Neil“ (Vorname des angeblich unter Mitwirkung von Bos Ehefrau ermordeten britischen Geschäftsmanns Neil Heywood) oder „US-Konsulat“ – der Ort, an dem die Affäre im Februar ihren Anfang nahm.

Wie in einem Hollywoodthriller

Worum es dabei eigentlich geht, darüber findet man die unterschiedlichsten Theorien, je nachdem, ob man chinesische oder internationale Medien liest – oder die Kommentare in chinesischen Internetforen, die für die Entwicklung des Falles eine zentrale Rolle spielen. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua spricht von einem „schweren Disziplinarvergehen“ Bos, das von der Partei „entschlossen“ aufgeklärt worden sei (10. und 11. April). Ausländische Berichterstatter sehen in dem Fall dagegen überwiegend die Anzeichen eines Machtkampfs in der Partei. Im Internet reichen die Einschätzungen von anspruchsvollen politischen Analysen über wilde Verschwörungstheorien bis lustvollem Spott über „einen Plot, der jeden Hollywoodthriller in den Schatten stellt“, so ein Eintrag in einem Forum des großen Portals Sina.

Einigkeit besteht nur über die Zeitleiste der Ereignisse: Am 6. Februar besuchte Bos ehemaliger Polizeichef Wang Lijun das amerikanische Konsulat in Chengdu, offenbar um politisches Asyl zu beantragen. Nach einer Nacht verließ er die Gesandtschaft wieder und wurde von chinesischen Sicherheitskräften abgeführt. Informationen darüber kursierten schnell im Internet, etwa dass es zwischen Bo und Wang zu einem Zerwürfnis gekommen sei. Auch über die Folgen für Bos Karriere wurde spekuliert. Der 62-Jährige wurde bisher als Schlüsselfigur der nächsten Führungsgenera-tion gehandelt, die beim Parteitag im Herbst an die Macht kommen soll.

Die Staatspresse erklärte Wangs Verschwinden zunächst damit, dass er sich in einem „stressbedingten Erholungsurlaub“ befinde (8. Februar).  Drei Wochen später, zum Auftakt der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses, veröffentlichte Xinhua die erste offizielle Bewertung: „Gegen Wang Lijun laufen Ermittlungen“, titelte die Agentur, betonte jedoch, es handle sich um einen „isolierten Fall“ (2. März). Bo versuchte bei einer Pressekonferenz, sich von seinem Weggefährten zu distanzieren, und versicherte, gegen ihn selbst werde nicht ermittelt. Doch einen Tag nach Ende des Volkskongresses, am 15. März – einem „für politische Morde notorischen Datum“, wie im Internet geunkt wurde –, verkündete Xinhua in einer knappen Ein-Satz-Meldung Bos Absetzung als Parteichef von Chongqing. Im Internet kamen daraufhin Gerüchte über einen Putsch in der Parteispitze auf. Gleichzeitig wurde darüber spekuliert, dass hinter Bos Sturz mehr stecken könnte als die politische Verantwortung für Wangs Desertionsversuch. Angebliche Tonaufnahmen Wangs machten die Runde, denen zufolge der Polizeichef Korruptionsermittlungen gegen Bos Frau Gu Kailai angeordnet hatte.

Andeutungen aus dem Internet waren es auch, die britische Medien veranlassten, den mysteriösen Tod des Unternehmers Neil Heywood im vergangenen November zu untersuchen, der offenbar Geschäftsbeziehungen zu Bos Frau und Sohn unterhalten hatte. Ende März sahen sich Chinas Internetzensoren, die von der Nachrichtenlawine offensichtlich überfordert waren, gezwungen, die Kommentarfunktion in den Mikroblogforen (den so genannten „Weibo“) drei Tage lang abzuschalten, um sie von „gefährlichen und illegalen Inhalten“ zu säubern, wie die Portalbetreiber erklärten (31. März).

Am 10. April teilte Xinhua dann kurz vor Mitternacht mit, dass Bo wegen „schwerer Disziplinarvergehen“, eine gebräuchliche Umschreibung für Korruption, sämtlicher Ämter enthoben worden sei, darunter auch seiner Mitgliedschaft im Politbüro. Auch gegen seine Frau werde vorgegangen. „Den Ermittlungen zufolge hatten Bogu Kailai (Gu Kailai), Ehefrau von Genosse Bo Xilai, und ihr Sohn gute Beziehungen zu Heywood, doch es gab einen Konflikt über ökonomische Interessen“, so Xinhua. „Die Beweise legen nahe, dass Heywood ermordet wurde, und Bogu Kailai und Zhang Xiaojun, ein Angestellter in Bos Haus, sind dringend tatverdächtig.“ Nach den Regeln des chinesischen Politikbetriebs ist mit der -öffentlichen Vorverurteilung der Schuldspruch bereits gefallen. Nur das Strafmaß steht noch aus.

Die zweifellos auf höchster Ebene gefällte Entscheidung darf als Versuch gelten, das seit Monaten schwelende Thema endlich aus der Welt zu schaffen und die Partei-PR vor dem Machtwechsel im Herbst neu zu ordnen. Die staatlichen Medien beeilten sich denn auch, den Schritt demonstrativ zu begrüßen. „33 Millionen Chongqinger unterstützen diese richtige Entscheidung der Parteizentrale“ schrieb die Chongqing Daily (12. April). Der Fall zeige, dass einige Beamte glaubten, über dem Gesetz zu stehen. Die offizielle Zeitung der Volksbefreiungsarmee kommentierte: „Die Zentrale hat gezeigt, dass Partei und Zentralregierung sich der Bevölkerung gegenüber sehr verantwortlich verhalten.“ Die parteiunmittelbare Renmin Ribao („Volkszeitung“) benutzte auf ihrer Webseite ähnliche Formulierungen: „Die Partei arbeitet für das Wohl des Volkes und kein Mitglied darf gegen die Parteidisziplin oder die Gesetze verstoßen. Die Stabilität und die Reformen müssen geschützt werden“ (13. April).

Insider des Pekinger Systems lesen in Formulierungen wie „die Reformen müssen geschützt werden“ ein stilles Eingeständnis dafür, dass die Partei durchaus mit Sorge verfolgte, wie die Bo-Debatte auch Diskussionen über interne Richtungskämpfe beflügelte. Bo galt als prominenter Vertreter der Parteilinken, die den Einfluss der Staatswirtschaft wieder stärken wollen, um zu verhindern, dass China „kapitalistisch statt kommunistisch“ wird, wie Bo es bei seiner Pressekonferenz am 9. März noch formuliert hatte. Sein Sturz kann deshalb auch als Schlag gegen die Linken vor dem Parteitag gesehen werden. Die Hongkonger South China Morning Post, ein Leitmedium der kritischen Chinaberichterstattung, spricht gar von einem „Coup der Liberalen“ (13. April).

Doch Pekings Versuch, das Thema Bo zu beenden, wirft gleich neue Fragen auf. So wird im Internet darüber diskutiert, warum Xinhua seine Frau, die bisher als „Gu Kailai“ bekannt war, nun als „Bogu Kailai“ bezeichnet. Den Namen des Mannes dem der Frau voranzustellen ist eine ausgesprochen altertümliche und ungewöhnliche Schreibweise. Um einen Zufall handelt es sich offenbar nicht, denn chinesische Medien-Insider berichten, dass die Formulierung der Xinhua-Meldung zu Bos Absetzung Dutzende hochrangiger Redakteure stundenlang beschäftigt habe. „Hier soll wohl der Bezug zu Bo noch einmal klargestellt werden“, mutmaßt ein Weibo-Eintrag. „Soll heißen: Die Mordvorwürfe werden nicht nur gegen Gu, sondern eigentlich gegen Bo erhoben.“ Dem Politiker, der in den vergangenen Jahren in Chongqing durch eine große Anti-Mafia-Kampagne auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde schon früher vorgeworfen, beim „Kampf gegen das Schwarze selbst schwarz gekämpft“ zu haben.  

Die Macht des Internet

Beendet sind die Debatte um Bo Xilai und die Turbulenzen in der Partei sicher noch lange nicht. Schon jetzt reicht ihre Bedeutung weit über den aktuellen Fall hinaus. „Ein Funke kann einen Steppenbrand entfachen“, lautet ein Ausspruch Mao Zedongs, der derzeit oft in Peking zitiert wird. Die Partei ist zu Recht alarmiert, denn die Affäre zeigt, wie schnell vereinzelte Blogeinträge eine Lawine lostreten können. Die Entstehung der Putschgerüchte rekonstruierte der britische Economist (5. April): Den Stein ins Rollen brachte der Journalist Li Delin, der am 19. März via Weibo schrieb, in Pekings Innenstadt stünden „überall Militärfahrzeuge“. Lis Mitteilung fand zwar zunächst wenig Beachtung, doch einen halben Tag später verlinkte ein anderer Benutzer zu einem Foto, auf dem besagte Fahrzeuge angeblich zu sehen waren. Gleichzeitig wunderte sich der Immobilienunternehmer Pan Shiyi in einer Weibo-Botschaft, dass Nachrichten, die bestimmte Worte enthielten, an diesem Tag automatisch blockiert würden. Die drei Einträge kombinierte schließlich der prominente Geschäftsmann Shen Dongjun zu einer vieldeutigen Nachricht, die er an seine Weibo-Gefolgschaft von 1,9 Millionen Benutzern schickte, die sie wiederum tausendfach weiterleiteten.

Ein Gerücht war geboren und wurde von anderen Benutzern weiter ausgeschmückt: mit angeblichen Augenzeugenberichten über Schüsse oder vermeintlichen Insider-Informationen aus dem Pekinger Regierungsviertel. Für die Urheber der Spekulationen hat die Geschichte ein ernstes Nachspiel: Laut Xinhua wurden sechs Internetnutzer im Zusammenhang mit den Gerüchten verhaftet (31. März).

Die Macht des Internet wird Peking nichtsdestotrotz weiterhin spüren. Auf dem Index der Pressefreiheit, den die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt, belegte China vergangenes Jahr Rang 174 von 179. Doch in Zeiten des Internets ist die Aussagekraft der Rangliste beschränkt. Denn durch chinesische Webforen kommen auch Nachrichten in Umlauf, die der Zensurapparat eigentlich gern blockiert hätte, und wenn eine brisante Information erst einmal öffentlich kursiert, steht die Staatspresse ihrerseits unter Druck, darauf zu reagieren. Meist versucht sie, explosive Meldungen mit einem eigenen „Spin“ zu entschärfen. Obwohl es in der Causa Bo Xilai mehr Fragen als Antworten gibt, kann es doch als sicher gelten, dass der Fall ohne Weibo, wo man mithilfe von Synonymen wie „Tomate“ auch über verbotene Themen diskutieren kann, anders verlaufen wäre.

BERNHARD BARTSCH lebt seit 1999 in Peking und berichtet von dort u.a. für die Frankfurter Rundschau, die NZZ und brand eins
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 128-131

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