Tiger oder Kätzchen?
Indiens außenpolitische Debatten zeugen von andauernder Selbstfindung
Vollmundige Voraussagen, Indien würde alsbald in den Kreis der Global Player aufsteigen, sind heute seltener zu hören. Tatsächlich mangelt es der indischen Außenpolitik weiterhin an Personal, Expertise und informierteren Diskussionen. Als Großmacht müsste Neu-Delhi zudem mehr für die Stabilisierung seines regionalen Umfelds leisten.
Seit der Jahrtausendwende wurde Indien immer wieder eine große Zukunft als aufstrebende Großmacht prophezeit. Allein aufgrund beeindruckender Wachstumsraten und größerer Sichtbarkeit in internationalen Foren waren sich viele Beobachter einig, dass Indien nur noch ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat fehle, um im „Klub“ der Großmächte „angekommen“ zu sein.
Das hat sich in jüngster Zeit geändert. Ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum, eine schwache Regierung unter der Führung eines greisen Premierministers und Neu-Delhis mangelnde Bereitschaft, auf internationaler Ebene Verantwortung zu übernehmen, wecken Zweifel daran, dass Indien es schaffen wird, eine entscheidende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. In seiner Ausgabe vom 30. März 2013 fragte der Economist, ob Indien überhaupt zur Großmacht heranwachsen könne. Das Titelblatt zeigte eine zierliche Katze vor einem Spiegel, der einen Tiger reflektiert. Doch ist dieses Bild angemessen? Wie sieht sich Indien in der Welt, welche Debatten prägen die außenpolitische Diskussion? Und wer führt solche Debatten in einem Land, das nach wie vor mit massiver Armut und internen Sicherheitsproblemen zu kämpfen hat?
Seit der Unabhängigkeit 1947 war die indische Außenpolitik Angelegenheit einer kleinen Elite. Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister des Landes, behielt sich alle außenpolitischen Entscheidungen vor und ließ sich nur von einem engen Kreis beraten. 1998 wurde zusätzlich der Posten des Nationalen Sicherheitsberaters geschaffen, dem die Geheimdienste Bericht erstatten und der wiederum den Premierminister in Sicherheitsfragen berät. Der Einfluss des Außenministeriums bleibt trotz Indiens größerer internationaler Rolle relativ schwach. Dies ist vor allem auf dessen begrenzte personelle Ressourcen zurückzuführen: Indien hat mit einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden etwa so viele Diplomaten wie der Stadtstaat Singapur mit fünf Millionen Einwohnern. Der Ausbau eines diplomatischen Corps wurde in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt, durchschnittlich gab es nur acht bis 15 Neueinstellungen jährlich (in Deutschland sind es 35 bis 45). Das indische Außenministerium bemüht sich, mehr Personal zu rekrutieren, aber es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, bis ein entsprechender Apparat adäquat aufgestockt ist. Auch das Parlament spielt in der Außenpolitik eine untergeordnete Rolle, da internationale Verträge nicht von der Legislative gebilligt werden müssen.
Allmählich mehr Akteure
Erst seit Kurzem gibt es Zeichen für ein langsames Aufweichen der starken Zentralisierung in der indischen Außenpolitik. So üben Westbengalen und Tamil Nadu Druck auf die Zentralregierung aus, um ihren Kurs gegenüber Nachbarstaaten wie Bangladesch und Sri Lanka durchzusetzen – was wegen der wichtigen Rolle von Regionalparteien in der United Progressive Alliance-Regierungskoalition auch gelang. Westbengalens Ministerpräsidentin Mamata Banerjee verhinderte die Unterzeichnung eines Abkommens zur Wasserverteilung zwischen Indien und Bangladesch, unterminierte damit Indiens mehrjährigen Annäherungsprozess mit dem Nachbarland und die potenzielle Gewährung von Transitrechten zu Indiens abgelegenen Nordoststaaten. Regionalparteien aus Tamil Nadu zwangen die Zentralregierung, bei Abstimmungen im UN-Menschenrechtsrat für die Untersuchung von Kriegsverbrechen im sri-lankischen Bürgerkrieg Stellung zu beziehen. Dadurch musste Neu-Delhi mit seiner Politik der Ablehnung „länderspezifischer Resolutionen“ brechen und Rückschläge in der Zusammenarbeit mit der sri-lankischen Regierung hinnehmen. Auch andere Akteure wie der Verband der indischen Handelskammern haben in wirtschaftspolitischen Fragen die Zentralisierung indischer Außenpolitik gelockert.
Von einer Demokratisierung der Außenpolitik kann allerdings noch keine Rede sein. Nur wenige außenpolitische Fragen werden überhaupt in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Die Medien berichten ausführlich – wenn auch häufig undifferenziert – über die Interaktionen mit dem Rivalen Pakistan. Auch das amerikanisch-indische Nuklearabkommen von 2008 wurde breit debattiert, da es eine radikale Wende in der Politik der Distanz zu den USA bedeutete und eine lang ersehnte Anerkennung von Indiens Status als Atommacht implizierte.
Davon abgesehen berichten nur Teile der englischsprachigen Presse wie die Tageszeitungen The Hindu, The Times of India und Hindustan Times oder Zeitschriften wie Outlook in einiger Ausführlichkeit über Themen der internationalen Politik. In einem Land, in dem Armut noch weit verbreitet ist, dürfte es kaum überraschen, dass die breite Öffentlichkeit nur geringes Interesse an außenpolitischen Fragen zeigt. Aktuelle Ereignisse wie die Proteste gegen Korruption, die Demonstrationen gegen Vergewaltigungen und der Widerstand gegen die Öffnung des indischen Marktes für ausländische Direktinvestitionen im Einzelhandel zeigen, dass auch die aufstrebende, gut ausgebildete Mittelklasse eher an innen- und wirtschaftspolitischen Themen interessiert ist.
Die lebendigsten außenpolitischen Debatten werden im Rahmen einer kleinen, aber sehr aktiven außen- und sicherheitspolitischen Community in Neu-Delhi geführt. Sie setzt sich aus Mitarbeitern der außenpolitischen Think-Tanks, Wissenschaftlern der Universitäten Delhis sowie pensionierten Diplomaten und Generälen zusammen. Obwohl auch in Mumbai und Chennai außenpolitische Think-Tanks entstanden sind, befinden sich die wichtigsten Denkfabriken in der Hauptstadt. Sie unterscheiden sich allerdings sehr stark in ihrer Struktur und Ausstattung. Die Palette reicht von staatlich finanzierten, an einzelne Ministerien gebundene Einrichtungen bis hin zu kleineren privaten Institutionen. Aufgrund des wachsenden internationalen Interesses an indischer Außenpolitik sind diese Think-Tanks heute auch mit renommierten Forschungsinstituten und Universitäten in OECD-Ländern stärker vernetzt.
Ihr Einfluss ist schwer zu bemessen, so wie in anderen Ländern auch. Es bestehen unterschiedliche Formen des Austauschs mit Regierungsstellen. In vielen Fällen bemühen sich allerdings auch regierungsnahe Think-Tanks um eine unabhängige Interpretation indischer Außenpolitik; sie verfügen dabei nicht notwendigerweise über einen privilegierten Zugang. Die Bedeutung der außen- und sicherheitspolitischen Community Neu-Delhis sollte aber nicht unterschätzt werden. Da es sich um einen äußerst kleinen Expertenkreis handelt, haben einzelne Personen die Möglichkeit, ganz maßgeblich die außenpolitischen Debatten des Landes zu prägen.
Allgemein sind die indischen Debatten sehr stark von der Rhetorik des Aufstiegs zur Großmacht gekennzeichnet. Als große Nation mit einer Jahrtausende alten Kultur hält man einen Platz am Tisch der Großen für nur angemessen und berechtigt. In den Medien und der öffentlichen Meinung herrscht Euphorie über die Erfolge in Indiens Entwicklung. Auch die Regierung formuliert den Anspruch auf mehr Mitspracherecht in globalen Fragen und begründet das Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat mit der veränderten internationalen Machtverteilung in einer multipolaren Welt.
Ein angemessener Platz
Obwohl Indien die bestehende internationale Ordnung nicht verändern, sondern eher einen angemessenen Platz darin finden will, steht die Auseinandersetzung mit „westlichen“ Normen und Konzepten im Mittelpunkt vieler Diskussionen. So entfachte die internationale Intervention in Libyen eine lebhafte Diskussion über die Angemessenheit der „Responsibility to Protect“ (R2P). Dabei waren sich die meisten indischen Experten in der Ablehnung der Intervention und in der Verteidigung des Prinzips nationalstaatlicher Souveränität einig. Eine weitere größere Debatte wurde vergangenes Jahr durch die Veröffentlichung von „Non-Alignment 2.0“ ausgelöst, einem Expertenbericht, der als halboffizieller Wegweiser für den zukünftigen außenpolitischen Kurs Indiens gilt. Darin wurde das Prinzip der strategischen Autonomie als Kernstück der indischen Außenpolitik seit der Zeit der Blockfreien-Bewegung aufgegriffen und als Leitmotiv für die zukünftige Politik vorgeschlagen. Der Kontext der Weltpolitik und Indiens eigene Haltung zur Integration in die Weltwirtschaft hätten sich wohl dramatisch verändert. Dennoch müsse sich das Land weiterhin an den zentralen Zielen aus der Ära der Blockfreiheit orientieren, nämlich seine eigenen Interessen selbstständig zu definieren, ein Maximum an strategischer Autonomie zu wahren und seine Machtposition auszubauen, um damit eine Grundlage für eine gerechtere Weltordnung zu schaffen.
Diese idealistischen Töne spiegeln einen weit verbreiteten linksliberalen Konsens wider, der weitgehend den Positionen der regierenden Kongresspartei entspricht. Gleichzeitig liefert der Bericht eine erfrischend offene Diskussion der strategischen Herausforderungen Indiens, bei denen asiatische Länder – vor allem China und Pakistan – im Mittelpunkt stehen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nur am Rande diskutiert werden. Die explizite Ablehnung einer formalen Allianz mit den USA, die dem Tenor des gesamten Berichts entspricht, sorgte in Washington für konsternierte Kommentare.
Der linksliberale Konsens, der sich in diesem Bericht manifestiert, stieß durchaus auf Skepsis. Kritiker, die sich als Vertreter einer realistischen Schule sehen würden, betonten die Bedeutung einer engeren strategischen Kooperation mit den USA, die auch außerhalb einer formalen Allianz stattfinden könne und die für beide Länder wegen des eher als Bedrohung wahrgenommenen Aufstiegs Chinas immer relevanter würde. Auch der im Bericht geforderte ethische bzw. moralische Anspruch für die indische Außenpolitik wurde als naiv kritisiert.
Die indische Regierung selbst veröffentlicht keine programmatischen Dokumente, in denen eine eindeutige Zielrichtung der Außenpolitik dargelegt würde. Ebenso wenig hat die Regierung in den vergangenen Jahren griffige Slogans oder Konzepte erarbeitet, um ihre Außenpolitik zu charakterisieren – anders als beispielsweise die chinesische Führung.
Insgesamt war Indiens Außenpolitik im vergangenen Jahrzehnt geprägt durch einen pragmatischen Ansatz der Kooperation mit unterschiedlichsten Ländern – von den USA, mit denen eine substanzielle Annäherung stattfand, über den traditionellen Partner Russland, den „strategischen Partner“ EU bis hin zu den anderen aufstrebenden Mächten im Rahmen von Zusammenschlüssen wie BRICS oder IBSA.
Weil die indische Regierung keine Strategiepapiere vorlegt und wegen der Kooperation mit nahezu allen relevanten weltpolitischen Akteuren, wurde die indische Außenpolitik häufig als orientierungslos, reaktiv und ohne strategische Vision kritisiert. Wenn man allerdings bedenkt, dass Indiens primäres außenpolitisches Ziel eine strategische Autonomie ist, dann muss man anerkennen, dass es Neu-Delhi durchaus gelungen ist, sich international zu positionieren, ohne sich zu stark an einen einzigen Partner zu binden.
Trotz aller Bestrebungen, auf globaler Ebene als Großmacht anerkannt zu werden, bleiben die Region Südasien und die erweiterte Nachbarschaft im Mittelpunkt der außenpolitischen Interessen und Prioritäten Indiens. Neu-Delhi hat zwar seine Außenpolitik immer globaler ausgerichtet, ist als Geber von Entwicklungshilfe und als Bereitsteller von UN-Friedenstruppen in Afrika aktiv, pflegt „strategische Partnerschaften“ mit Japan und Südkorea und baut seine Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten Lateinamerikas aus – die größten Sicherheitsbedrohungen kommen aber aus der Nachbarschaft. Indien kann kaum der geopolitischen Tatsache entkommen, dass es in einer der gefährlichsten Regionen der Welt liegt. Der Jahrzehnte alte Konflikt mit Pakistan, aber vor allem die aus der Instabilität Pakistans und der Verbreitung islamistischer Terrornetzwerke resultierenden Gefahren haben für Indien höchste Priorität. Die Anschläge von Mumbai im November 2008 haben dem Land vor Augen geführt, wie verwundbar es durch in Pakistan beheimatete Extremisten ist.
Der Nachbarschaft verhangen
Dementsprechend dreht sich ein großer Teil der außen- und sicherheitspolitischen Diskussionen sowie der Arbeit indischer Think-Tanks um die Beziehungen zu Pakistan und die Bekämpfung des Terrorismus. Dabei hat es zwar in den vergangenen Jahren immer wieder Plädoyers für eine „militärische Lösung“ bzw. Militärschläge gegen Terrororganisationen auf pakistanischem Boden gegeben. Der breite Konsens aber ist, dass der Konflikt mit Pakistan friedlich gelöst werden muss.
Zu den genauen Modalitäten der Annäherung an Pakistan gibt es unterschiedliche Vorstellungen, wobei die Position der Regierung, man solle Grenzen „unbedeutend werden lassen“, breiten Anklang findet. Vertreter der außen- und sicherheitspolitischen Community sind dabei nicht nur Beobachter, sondern nehmen teilweise aktiv an „Track II“-Dialogen mit pakistanischen Vertretern teil – ein Aspekt, der zum moderateren Ton der Debatten in den vergangenen Jahren beigetragen haben könnte. Außerdem üben indische Unternehmen Druck auf die Regierung aus, die Wirtschaftsbeziehungen zu Pakistan zu stärken. Dies sei nicht nur für die indische Wirtschaft lukrativ, sondern auch als Grundlage für eine politische Annäherung hilfreich, argumentieren die indischen Industrie- und Handelskammern.
Sorgen über Pakistan und China
Trotzdem hat Dehlis außenpolitische Community die von Pakistan ausgehenden Bedrohungen fest im Blick. Hier verfolgt man vor allem die Entwicklungen in Afghanistan mit Sorge. Mit dem Rückzug der ISAF-Kampftruppen und den anstehenden Wahlen stellt sich auch Indien die Frage, wie es seine massiven Investitionen dort schützen, seinen politischen Einfluss ausbauen und allgemein zur Stabilisierung des Landes beitragen kann. Bereits die Ankündigung des Rückzugs der ISAF-Truppen durch US-Präsident Barack Obama im Jahr 2009 löste eine lebhafte Debatte zur Rolle Indiens in Afghanistan aus. Obwohl Indien mit der Unterzeichnung einer strategischen Partnerschaft im Oktober 2011 sein Engagement ausgeweitet hat, sind sich die meisten indischen Beobachter einig, dass es zu keinem aktiven militärischen Engagement kommen wird und kommen sollte. Die Furcht, Pakistan könnte sich provoziert fühlen, und der Respekt für die traditionellen Normen der Nichteinmischung und Souveränität halten Indien davon ab, eine aktivere Rolle in Afghanistan zu spielen.
Neben Pakistan und Afghanistan haben die Beziehungen zu China größte Bedeutung. China wird aufgrund seiner wachsenden Präsenz im Indischen Ozean und in Nachbarstaaten wie Nepal und Bangladesch, die Indien seit jeher als seine Einflusssphäre betrachtet, immer mehr als Bedrohung wahrgenommen. Eine erneute Verschärfung des Grenzkonflikts zwischen den beiden Staaten seit 2009 und das allgemein aggressivere Auftreten Chinas, z.B. im Südchinesischen Meer, haben diese Wahrnehmungen verstärkt. Gleichzeitig haben Indien und China in Foren wie den BRICS-Gipfeltreffen oder bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen durchaus Bereitschaft zur Kooperation gezeigt.
Die indische Debatte über die Beziehungen zu China spiegelt diese Ambivalenz wider. Einige Experten wollen eine chinesische Strategie der Einkreisung Indiens erkennen, in der die „Perlenkette“ der von China etablierten Häfen entlang des Indischen Ozeans als Instrument benutzt wird, Indien zu „strangulieren“. Andere gehen davon aus, dass der Aufstieg Chinas und Indiens friedlich verlaufen würde, wie sich das Staatsgründer Jawaharlal Nehru schon erträumt hatte. Washingtons Hinwendung zum Pazifik und die Möglichkeit, Indien könne Dreh- und Angelpunkt einer verstärkten amerikanischen Präsenz in Asien werden, haben Indien allerdings in eine schwierige Position gebracht, die umfangreich debattiert wird. Die Befürworter eines stärkeren Engagements mit den USA sehen in einer potenziellen engeren militärischen Zusammenarbeit mit Washington einen weiteren Baustein zu Indiens globalem Aufstieg. Die Mehrheit der Beobachter und die indische Regierung selbst sehen den „Pivot to Asia“ eher kritisch. Auf keinen Fall möchte man sich von den USA als Gegengewicht zu China instrumentalisieren lassen. Obwohl sich die USA immer wieder explizit als Unterstützer des Aufstiegs von Indien bezeichnen, bleibt die Haltung Neu-Delhis eher vorsichtig.
Neben den Krisenherden Südasiens schenkt Indien der „erweiterten Nachbarschaft“ wesentliche Aufmerksamkeit. Hierzu zählen die Staaten Zentralasiens, die aufgrund ihres Ressourcenreichtums und der Nähe zu Afghanistan von wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung sind. Ebenso wächst Indiens Interesse für den Iran und den Nahen Osten – bzw. „Westasien“ aus indischer Perspektive. Trotz aller Ambitionen auf der globalen Ebene bleibt Asien weiterhin Indiens außenpolitische Priorität. Dies spiegelt sich auch in Struktur und inhaltlicher Ausrichtung der indischen Think-Tanks wider. Die meisten dieser Institutionen konzentrieren sich stark auf traditionelle Sicherheitsfragen und haben erst vor Kurzem begonnen, sich einem breiteren Spektrum außenpolitischer Themen zu öffnen. Die größten Abteilungen sind jene, die sich mit den Nachbarstaaten Indiens oder mit anderen Subregionen Asiens beschäftigen. Nur wenige Experten und Wissenschaftler arbeiten zu Europa; auch Afrika wird trotz der Einbindung der afrikanischen Ostküste in Indiens erweiterte Einflusssphäre wenig beachtet. Lateinamerika, eine Region, zu der Indien seit etwa einem Jahrzehnt seine Wirtschaftsbeziehungen verstärkt, zu der aber kaum politische Kontakte bestehen, wird fast vollständig ausgeklammert.
Wenn Indien nicht nur in der eigenen Wahrnehmung ein Global Player und eine Großmacht werden soll, wird es in den kommenden Jahren außenpolitische Ressourcen und Kompetenzen ausbauen müssen. Dies wird sowohl eine Stärkung des diplomatischen Dienstes als auch einen weiteren Ausbau seiner Think-Tanks bedeuten. Um sich verstärkt auf globale Fragen konzentrieren zu können, müsste Indien außerdem einen größeren Beitrag zur Stabilisierung seines regionalen Umfelds leisten. Eine Annäherung an Pakistan und eine Politik der Konzessionen an die anderen Nachbarstaaten Südasiens wären wichtige Schritte in diese Richtung.
Dr. Sandra Destradi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA Institut für Asien-Studien in Hamburg.
Internationale Politik 5, September/Oktiber 2013, S. 93-99