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01. Sep 2008

Technologie sucht Talent

Die Dominanz der Konzerne bleibt die Grundkonstante der Marktwirtschaft

Die Geschichte der Marktwirtschaft hat unzählige nationale Industriezweige und Konzerngiganten fallen sehen. Das Prinzip der schöpferischen Zerstörung, wie es Joseph Schumpeter erstmals vor annähernd einhundert Jahren erkannte, prägt ihre Verfassung. Wer die „Forbes 100“-Liste der größten amerikanischen Unternehmen studiert, wird Erstaunliches feststellen: Von den einstigen Unternehmen des Jahres 1971 gehören inzwischen 61 nicht mehr zur Wirtschaftswelt. Ein ähnliches Bild zeigt die Liste der größten deutschen Konzerne. Der Stahlbauer Krupp, führendes Unternehmen der Wirtschaftswunderjahre, konnte sich 1997 nur durch eine Fusion vor dem Abstieg retten; Mannesmann, Grundig, Hoechst und AEG haben längst das Zeitliche gesegnet. Doch während Technologien veralteten, bewiesen die Strukturen oft eine erstaunliche Transformationsfähigkeit: so firmiert die Preußische Bergwerkshütten Gesellschaft heute unter dem Namen TUI und befördert weder Erz noch Kohle, sondern Touristen und Fracht. Bei aller Unstetigkeit der Technologien: die Dominanz der Konzerne bleibt eine prägende Strukturkonstante der Marktwirtschaft. Peppers Szenario „Der Konzern ist König“ setzt deshalb auf einem höchst realen Sachverhalt auf. Jenseits der Grundannahme einer konzernseitig geprägten Wirtschafts- und Arbeitswelt zeichnet die Gegenwart allerdings etliche weitere und teils vom Szenario abweichende Trends.

In der globalisierten Wirtschaft gehen Aufstieg und Niedergang von Unternehmen in eine neue Runde. Im Kampf David gegen Goliath fordern Aufsteiger die etablierten Platzhirsche heraus. ArcelorMittal, Lenovo oder Tata ziehen ihre Kraft aus den wachstumsstarken Märkten Asiens. Zuletzt schockte Tata-Motors die westlichen Automobilmanager mit dem Nano, einem Kleinstwagen für umgerechnet 1.700 Euro. Doch ist Tata längst kein David mehr, sondern ein aufstrebender Goliath mit einer Viertelmillion Beschäftigten.

Sogar in der New Economy entstanden trotz Dot.com-Blase nicht nur Davids, sondern auch neue Firmenimperien. Aus den ehemaligen Garagen-Gründungen Yahoo, Microsoft und Google sind schlagkräftige Konzerne erwachsen. Letztendlich bringen Phänomene wie „economies of scale“ – sinkende Stückkosten bei steigender Produktionsmenge – sowie Spezialisierungsvorteile und Synergieeffekte stets wieder Konzernstrukturen hervor. Weder klassische Industriezweige noch die oft idealisierte New Economy können sich der marktwirtschaftlichen Logik von Effizienz und Rendite entziehen.

In nationalen Arbeitnehmerschaften verbreitet das Gespenst der Globalisierung Angst und Schrecken. Die Realität der globalen Wirtschaft zeichnet aber ein fundamental anderes Bild. Die Konsumenten, Konzerne und Konzernbelegschaften der Industrienationen und insbesondere Deutschlands zählen zu den Gewinnern der Globalisierung. Zwar wurden arbeitsintensive Produktionsschritte in aufstrebende Volkswirtschaften verlagert, dafür konzentrieren sich an den Heimatstandorten die wertschöpfungsintensiven Systemkopf-Funktionen.1 Dem Verlust an niedrig qualifizierten Arbeitsplätzen in der Produktion steht ein Zuwachs im Hochqualifikationsspektrum gegenüber. Deutsche Unternehmen initiieren und steuern als Generalunternehmer weltweite Wertschöpfungsketten und vertragsbasierte Netzwerkstrukturen. Bereits Ende der 80er Jahre begannen sich die Konzerne zu wandeln. Nach dem Vorbild von Toyota wurden Prozesse optimiert und Strukturen verschlankt. Das „Value Chain Management“ dekonstruierte anschließend die Wertschöpfungsketten und führte zu Outsourcing und Offshoring. Zur Jahrtausendwende folgte schließlich eine Hinwendung zu Allianzen und dem Outsourcing in externe Netzwerke. Seither fahren auf dem Ozean der Weltwirtschaft Konvois aus großen Tankern, in deren Fahrwasser sich vielfältige Versorger für Komponenten, Marketing, Logistik und Vertrieb sowie innovative Startups tummeln.

Den Wandel der Wertschöpfungsprozesse begleitete der Wandel der Belegschaftsstrukturen.2 Konzerne schmolzen ihre Belegschaft auf einen Stamm langfristig gebundener, gut qualifizierter Fachkräfte ab. Während Konzernmitgliedschaft und Konzernkarriere den Arbeitnehmern Schutz gegen die Wirren der Globalisierung bieten sollen, erhoffen sich die Unternehmen die langfristige Sicherung ihres Wissenskapitals. Standardisierbare Tätigkeiten übernehmen externe Arbeitskräfte in spezialisierten Zuliefer-, Subcontractor- und Servicepartnerorganisationen aus den Schwellenländern; um die neuen Hochqualifikationsarbeitsplätze bildet sich hingegen ein Kranz aus regionalen Dienstleistungen, in deren Folge auch an den Heimatstandorten vielfältige Arbeitsplätze im Niedrig- und Hochlohnbereich entstehen. In den peripheren Belegschaften sammelt sich das Heer niedrigqualifizierter Arbeitnehmer, die nur von rechtlichen Mindeststandards geschützt werden und einem strikten Kostendiktat unterliegen. Neben den Fachkräften steht ihnen eine wachsende Gruppe an kreativen Talenten aus Ideenschmieden und Forschungslaboren gegenüber.

Gespaltener Arbeitsmarkt

Bis zum Jahr 2020 kehrt sich die Beschäftigungspyramide um. Während heute knapp ein Fünftel der Beschäftigten zu den Hochqualifizierten zählt, wird sich deren Anteil auf die Hälfte erhöhen. Heute trennt die Erwerbsbevölkerung ein tiefer Graben – auf der einen Seite die Habenichtse des tayloristischen Produktionsregimes und der Dienstleistungsökonomie, auf der anderen die umworbenen Kreativen der Informations- und Wissensgesellschaft. Im gespaltenen Arbeitsmarkt manifestieren sich die Folgen globalisierter Konzernstrukturen und einer verfehlten Integrations- und Bildungspolitik. Global agierende Hightech-Konzerne stehen – wie viele innovative Mittelständler – vor der Herausforderung, einen stetig steigenden Bedarf an kreativen Talenten zu decken. Während geringqualifizierte Arbeitskraft international im Überfluss vorhanden ist, existiert eine spürbare Knappheit am Talentmarkt, insbesondere an Absolventen aus Naturwissenschaften und Technik. Einer kürzlich veröffentlichten Studie von McKinsey zufolge ist nur einer von zehn in China ausgebildeten Ingenieuren dazu fähig, in globalen Unternehmen erfolgreich zu arbeiten.3 Der Zufluss an innovativen Talenten wird für Konzerne zu einem entscheidenden Faktor in den Geschäftsstrategien. Dieses Kreativpotenzial wird energisch umworben.

In der modernen Arbeitswelt bemisst sich Talent nicht mehr nur am formalen Bildungsabschluss. Individualisierte Produkte, integrierte Systemlösungen und weltweite Forschungsnetzwerke verlangen nach Kreativität, Individualität und Offenheit. Am Horizont wird erkennbar, dass die Gruppe der Wissensarbeiter zumindest partiell vom Leitbild des kreativen Lebensunternehmers überlagert wird. Talente suchen nicht nach Sicherheit und Struktur, sondern nach persönlichen Herausforderungen, Selbstverwirklichung und einem Kreativität fördernden Arbeitsumfeld. Lebenslange Beschäftigung erscheint als Relikt längst vergangener Zeiten; Lifestyle und Moralität werden höher gewichtet als Verdienstpotenziale und betriebliche Wohlfahrtsprogramme. Konzerne müssen daher einen „Talentmagnetismus“ entfalten, um das rare Talent anzuziehen und an sich zu binden.4

Schatten- und Sonnenseiten des Arbeitsmarktes sind weder im nationalen noch im globalen Maßstab voneinander zu trennen. Gerade das Offshoring konfrontiert uns mit zutiefst moralischen Fragen. Trotz Effizienzlogik und Profitdruck müssen globalisierte Unternehmen überall menschenwürdige Arbeitsbedingungen gewährleisten. Auch der behutsame Umgang mit Unterschiedlichkeit liegt in ihrer Verantwortung, sei es bei der Beschäftigung Schwerbehinderter oder familienfreundlichen Arbeitsbedingungen. Konzerne konnten nur zur Grundkonstante der Marktwirtschaft werden, weil es den Unternehmensführungen über lange Zeiträume gelang, ein Mindestmaß an Moralität festzuschreiben. In globalisierten Unternehmensstrukturen spielen ein intaktes Sozialgefüge und verbindende Werte für den Unternehmensorganismus eine noch wichtigere Rolle. Compliance, die Beachtung von Recht und Gesetz bei jedem unternehmerischen Handeln, avanciert zur zwingenden Handlungsmaxime. Moralität ist zwar auch einer der Schlüssel zur Gewinnung der Hochkreativen, letztendlich müssen globale Unternehmen jedoch um ihrer selbst willen moralische Institutionen sein.

Zukunftsfähigkeit erlangt ein Unternehmen nur durch eine kluge und couragierte Wachstums- und Investitionspolitik. Im Hochtechnologie- und Servicesektor steht der Begriff Investition sowohl für Forschung und Entwicklung als auch für eine zielgerichtete Bildungs- und Qualifizierungspolitik. Angesichts der Polarisierung nationaler Arbeitsmärkte müssen sich Unternehmen und Staat der Kernfrage stellen, wie der Graben geschlossen oder zumindest Brücken gebaut werden können. In der unternehmerischen Bildungs- und Qualifizierungspolitik muss ein Schlussstrich unter die paternalistische Kultur des Kümmerns und Bevormundens gezogen werden – sie sollte vielmehr den Einzelnen dazu befähigen, das individuelle berufliche Fortkommen und die eigene Biographie selbst zu gestalten. Gleichermaßen sind die Regierungen der „alten“ Industriestaaten und aufstrebenden Schwellenländer gefordert. Vor allem in der Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik besteht eine Domäne nationaler Politik, der so oft die Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Ein integratives Bildungssystem mit vielfältigen Brücken zwischen den Ausbildungsgängen, die frühe Förderung aller Potenziale, praxisnaher Unterricht mit internationaler Ausrichtung und massive Investitionen in qualitätsgeprüfte, individuell gestaltete Qualifizierungsprogramme können die Spaltung des Arbeitsmarktes lindern. Globalisierte Unternehmen werden aus Eigeninteresse dazu beitragen müssen, das kreative Potenzial jeder Generation zu heben.

THOMAS SATTELBERGER  ist Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Deutschen Telekom AG.

  • 1Roland Berger, Institut der Deutschen Wirtschaft, Bundesvereinigung der Deutschen Industrie: Systemkopf Deutschland Plus, Berlin 2008.
  • 2Thomas Sattelberger: Überlegungen zum „Management of Loyalty“ und zur Ökonomie des Vertrauens in Unternehmen, in: Thomas Sattelberger, Harald Geißler: Management wertvoller Beziehungen, Wiesbaden, 2003.
  • 3McKinsey Global Institute: Global Talent Management, preliminary survey results, Januar 2008.
  • 4Stephan Jansen: Talent-Magnetismus, Financial Times Deutschland, Mai 2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2008, S. 32 - 34

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