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01. Sep 2004

Taiwan im Brennpunkt

Wird es dem erneut gewählten Präsidenten Taiwans, Chen Shui-bian, gelingen, eine neue Verfassung
für sein Land durchzusetzen, um es eines Tages in die Unabhängigkeit zu führen? Das „Ein-
China-Prinzip“ der Volksrepublik und die Status-quo-Politik der USA in der Region stehen den
Ambitionen der taiwanesischen Regierung im Wege. Die Taiwan-Frage wird zeigen, ob die Volksrepublik
in der Lage ist, diesen Konflikt wie auch andere friedlich zu lösen.

Kein anderes innenpolitisches Ereignis in Ostasien ist weltweit mit gespannterer Aufmerksamkeit verfolgt worden als Taiwans Präsidentschaftswahlen vom 20. März 2004.

Hinter der Spannung stand die Frage, ob und inwieweit dieses Ereignis die Beziehungsstrukturen einerseits zwischen Taiwan und China sowie andererseits zwischen Washington und Beijing stabilisieren oder verschlechtern würde.

Historisch ist kein Gebiet Ostasiens so häufig wechselnden Einflüssen internationaler Politik ausgesetzt gewesen wie die 36 000 qkm umfassende und 180 km vor der Küste Südostchinas liegende Insel Taiwan.1 Doch erst nach Invasionen der Japaner 1872 und der Franzosen 1884 erhob die Ch‘ing-Dynastie Taiwan 1885 zum Rang einer Provinz des chinesischen Reiches. Ein Jahrzehnt später musste Beijing am Ende des Krieges mit Japan 1894/95 Taiwan an die Japaner abtreten, die bestrebt waren, die Insel und ihre Bewohner zu einem Teil des so genannten „äußeren Japan“ zu machen. 1945 wurde Chinas Herrschaft auf der Insel wieder hergestellt. Doch Korruption und Repression des ersten chinesischen Gouverneurs bewirkten 1947 einen blutig niedergeschlagenen Volksaufstand einheimischer Taiwanesen, der bei diesen heute noch als stark emotional empfundener Beginn taiwanesischer Unabhängigkeitsbestrebungen gilt. Von Mao Zedongs Armeen besiegt, entzog sich die nationalchinesische Regierung 1949 durch ihren Rückzug nach Taiwan der Vernichtung. Washington, anfangs an Taiwan desinteressiert, übernimmt seit dem Korea-Krieg die bis heute wirksame Schutzfunktion der USA für die Insel.

Unter der autoritären Führung Chiang Kai-sheks und seiner Nationalen Volkspartei (Kuomintang) entwickelte sich Taiwan zum so genannten „Freien China“, das mit seiner erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung als Gegenmodell zu Maos Volksrepublik wirken sollte. Kurz vor seinem Tod ermöglichte der nachfolgende Präsident Chiang Ching-kuo ab 1987 die Entfaltung eines Systems pluralistischer Demokratie. Damit erhielten zuvor streng unterdrückte Anhänger der taiwanesischen Unabhängigkeitsidee die Möglichkeit zur politischen Betätigung als „Demokratische Fortschrittspartei“.

International hatte Taiwan erst 1971 seine Vertretung ganz Chinas in den Vereinten Nationen an Beijing abtreten müssen, ohne aber eine eigene Vertretung für Taiwan zu erlangen. Auch veranlasste Beijing 1978 die Regierung Jimmy Carters, den Bündnispakt der USA mit Taiwan zu kündigen und ihm sogar die diplomatische Anerkennung zu entziehen. Allerdings verabschiedete der amerikanische Kongress mit dem „Taiwan Relations Act“ von 1979 eine bis heute geltende unilaterale Selbstverpflichtung der USA zum Schutz Taiwans und zu dessen Versorgung mit Verteidigungswaffen.2 Somit blieben die USA de facto ein entscheidender Sicherheitsfaktor in Taiwans Position gegenüber der Volksrepublik China.

Chens prekärer Wahlsieg

Innenpolitisch erzielte die separatistische Demokratische Fortschrittspartei bei Taiwans Präsidentenwahl 2000 einen überraschenden Sieg mit ihrem Kandidaten Chen Shui-bian, einem 1951 geborenen Rechtsanwalt und vormaligem Bürgermeister der Hauptstadt Taipei, der sich als Strafverteidiger angeklagter Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung einen Namen gemacht hatte.3

Seinen Wahlsieg von 2000 verdankte er insbesondere der Tatsache, dass sich die regierende Partei Kuomintang zuvor gespalten hatte: Ihr populärster Spitzenpolitiker James Soong hatte sich von der Partei getrennt und konkurrierte mit deren Kandidaten Lien Chan, einem vormaligen Ministerpräsidenten und Außenminister. Das ermöglichte es Chen Shui-bian, mit nur 39,3% der Stimmen als erster Oppositionspolitiker die Präsidentenwahl zu gewinnen und die seit 1949 regierende Kuomintang erstmals zu schlagen.

Der Schock der Niederlage bewirkte im Februar 2003 ein Wahlbündnis zwischen der Kuomintang und James Soongs neuer Volkspartei. Lien fungierte 2004 als Präsidentschaftskandidat mit Soong als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten für das aus Anhängern der Kuomintang und Soongs Volkspartei bestehende „Pan-Blaue Lager“, dem eine positivere Haltung gegenüber China zugeschrieben wurde. Dennoch waren Lien und Soong im Wahlkampf bestrebt, die „Souveränität“ Taiwans und das auch für ihr Lager geltende „Taiwan-first“-Prinzip zu betonen. Da sie 2000 vereint Chen Shui-bian eindeutighätten schlagen können, meinten die Kräfte von „Pan-Blau“, sie würden nach ihrem Zusammenschluss Chen 2004 relativ leicht schlagen können. Umso schockartiger wirkten auf sie die Wahlresultate von 2004, die Chen Shui-bian nach einem dramatischen Wahlkampf bei insgesamt 12.914.422 gültig abgegebenen Stimmen mit einem hauchdünnen Vorsprung von nur 29 518 Stimmen gewinnen ließen. Mit Chen erhielt das „Pan-Grüne Lager“ (bestehend aus der Demokratischen Fortschrittspartei und der Taiwan-Solidaritätsunion) 50,11% und das „Pan-Blaue“ Lager 49,89% der gültigen Stimmen.4

Unmittelbar nach Bekanntwerden dieser Resultate begannen die Führer des „Pan-Blauen“ Lagers mit deren Anfechtung. Der am Tag vor der Wahl im März auf Präsident Chen und Vizepräsidentin Anette Lü in Tainan verübte Mordanschlag, bei dem beide nur leicht verletzt wurden, habe beiden zu sonst nicht gegebenen Sympathiestimmen verholfen, sei möglicherweise absichtlich inszeniert worden und bedürfe einer eingehenden Untersuchung. Verdächtig sei auch die hohe Zahl von 337 297 abgegebenen ungültigen Stimmen. Fernerhin habe ein nach dem Attentat verhängter Alarmzustand viele Soldaten und Polizisten, unter ihnen zahlreiche Anhänger von „Pan-Blau“, am Wahlgang gehindert.

All dies und behauptete Unregelmäßigkeiten beim Wahlvorgang erforderten eine Neuauszählung der Stimmen.5 Um das durchzusetzen, organisierten die Führer des „Pan-Blauen“ Lagers tagelange, oft Nächte hindurch fortgesetzte Massendemonstrationen mit bis zu 500 000 Teilnehmern. Beijing drohte einzugreifen, sollte in Taiwan eine Anarchie ausbrechen. Am 10. Mai 2004 begann eine richterlich durchgeführte Neuauszählung und Neuüberprüfung aller abgegebenen Stimmzettel, ein Verfahren, das noch Monate dauern könnte.

Gescheitertes Referendum

Zeitgleich mit der Wahl hatte Präsident Chen zwei Referenden anberaumt. Das eine fragt die Wähler, ob sie angesichts der von Beijing gegen Taiwan aufgestellten 500 Raketenstellungen die Beschaffung höher entwickelter Abwehrwaffen befürworten. Das zweite Referendum stellt die Frage, ob die Wähler friedlichen Verhandlungen ihrer Regierung mit Beijing zustimmen.6

Kritiker vermuteten, hier handle es sich nur um wahltaktische Effekthascherei. Der amerikanische Präsident George W. Bush, als dessen Gast Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao damals in Washington weilte, kritisierte das geplante Referendum am 9. Dezember 2003 als mögliche Ursache einer Destabilisierung der Lage in der Taiwan-Straße. Es sei besser, wenn es unterbliebe.7 Sein stellvertretender Außenminister Richard Armitage meinte, nicht der Wortlaut zähle, sondern das Motiv. In Frankreich bezeichnete Präsident Jacques Chirac die Idee eines Referendums als „schweren Fehler“.8 Auch deutsche, japanische und russische Spitzenpolitiker waren bestrebt, Taiwan abzuraten.

Im Gegensatz hierzu heißt es in einer Rede Chen Shui-bians vom 14. Dezember 2003, es sei ein moralischer Doppelstandard, Demokratie für Irak zu fordern, zugleich aber Taiwan an der Ausübung demokratischer Rechte zu hindern. Doch alle Bedenken erwiesen sich als gegenstandslos, da das Referendum nicht die erforderliche Mindestzahl von 50% gültiger Stimmen erhielt. Die Angelegenheit zeigte jedoch Beijings in letzter Zeit intensivierte Bemühungen, Druck auf Taiwan auch durch dritte Staaten ausüben zu lassen.

Beijing, dessen Führer und Medien gewarnt hatten, das Referendum verkörpere eine Taktik, um unter dem Anschein von Demokratie Schritte zur permanenten Abspaltung Taiwans von China vorzubereiten, begrüßte das sein Gesicht wahrende Scheitern des Referendums.9 Habe es doch gezeigt, dass die Mehrheit der „Landsleute“ in Taiwan Chen Shui-bians Separatismus ablehne.

Die seit 1949 bestehende kommunistische Volksrepublik China versteht sich als de jure Souverän ganz Chinas einschließlich Taiwans, das sie allerdings nie de facto regiert hat. In den 119 Jahren, seit Taiwan 1885 den Status einer Provinz Chinas erhielt, ist die Insel wegen Japans Kolonialherrschaft und wegen des chinesischen Bürgerkriegs faktisch überhaupt nur insgesamt 14 Jahre lang von Regierungen in China beherrscht worden. Über Taiwans Politik hängt das durch die Stationierung von 500 Mittelstreckenraketen sichtbar gemachte Damoklesschwert der Drohung Beijings mit militärischer Gewalt, sollte Taiwan es wagen, seine Unabhängigkeit von China zu proklamieren.

Nach einer kurzen Phase scheinbar vielversprechender halbamtlicher Kontakte zwischen Beijing und Taiwan zu Beginn der neunziger Jahre beschränkt sich Beijings Taiwan-Politik mit selbstschädigender Einfallslosigkeit auf militärische Drohung und diplomatische Isolierung. Ergänzt wird das durch das Angebot einer zeitlich beschränkten Autonomie im Zeichen des Prinzips „ ein Land, zwei Systeme“, das Beijing aber Hongkong gegenüber selbst durch einschränkende Handhabung in seiner Attraktivität zunehmend entwertet. Auf Chen Shui-bians erwähntes Referendum und seine weitere Zielsetzung taiwanesischer De-jure-Unabhängigkeit reagierte Washington mit irritierter Skepsis und der Warnung, nicht am gegebenen Status quo der ambivalenten und ungelösten Dreierbeziehungen zwischen Beijing, Taipei und Washington zu rütteln. Mit krisenhaften Situationen in Irak, in Palästina wie auch in Korea belastet, wäre der Regierung Bush eine neue Krise im Pazifik extrem unerwünscht.

Beijing nahm den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten Richard Cheney in China im April 2004 zum Anlass, erneut scharfe Kritik am Taiwan Relations Act von 1979, zu üben, der u.a. Waffenlieferungen der USA an Taiwan vorsieht, und forderte die Regierung Bush dazu auf, offizielle Kontakte zu Taiwan ebenso zu unterlassen wie auch jede Ermutigung taiwanesischer Unabhängigkeit.10 Zuvor hatte Anfang April 2004 das Pentagon den Beschluss bekannt gegeben, Taiwan ein hoch entwickeltes Radar-Frühwarnsystem im Wert von 1,78 Milliarden Dollar zu verkaufen. In einem begleitenden Kommentar des Pentagons hieß es, die Stärkung der taiwanesischen Abwehrfähigkeit diene zugleich auch der Außen-und Sicherheitspolitik der USA.11

Grundelemente des viel zitierten Status quo in der Taiwan-Frage sehen China und die USA in der Einhaltung einer so genannten „fünffachen Verneinung“. Diese bezieht sich auf eine formale Unabhängigkeitserklärung Taiwans, die Abschaffung seines offiziellen Namens „Republik China“, die Festschreibung einer Zweistaatlichkeit Chinas in der Verfassung, ein Referendum über die Unabhängigkeit und die Abschaffung von Taiwans „Richtlinien der Nationalen Wiedervereinigung“. Wie zu Beginn seiner ersten Amtszeit im Jahr 2000 hat Chen auch nach der Wahl 2004 die Einhaltung dieser Status-quo-Kriterien zugesagt.

Was aber dennoch den bisherigen Status quo praktisch in Frage zu stellen scheint, ist Chens schroffe Ablehnung des „Ein-China-Prinzips“, seine Betonung der faktischen, wenn auch „unerklärten“ staatlichen Selbständigkeit Taiwans, sind seine rastlosen Bemühungen zur Vertiefung eines taiwanesischen Identitätsgefühls sowie Geschichts-und Kulturverständnisses. All dies hat er im Wahlkampf pausenlos betont und seinen Wähleranteil von 39% im Jahr 2000 auf 50% im Jahr 2004 erhöhen können. Ein Generationswechsel, der biologisch viele der 1949 zugewanderten Festländer ausschaltete, bestärkte auf der Insel interdependente Prozesse der Demokratisierung und Taiwanisierung, die nicht durch die Willenshaltungen auswärtiger Mächte beeinflusst werden können. Hieraus erwächst eine objektive Herausforderung des von Beijing und Washington bevorzugten Status quo.

„Taiwan first“

Zum Wandel auf Taiwan trägt auch der Haltungswandel der Kuomintang, einer Partei mit großer Tradition in Chinas Geschichte, bei. Ihr Führer Lien Chan sagte dem Verfasser, sie sei eine „völlig neue Partei, nur ihr Name ist gleich geblieben“. Sie identifiziere sich mit Taiwan, das sie als „souveränen Staat“ betrachte, und wolle China gegenüber vorläufig den Status quo erhalten. Dessen Weiterentwicklung müsse der Geschichte überlassen werden. Liens Koalitionspartner James Soong fügte hinzu, es gäbe „keinen Zeitplan für eine Wiedervereinigung“.

Trotz ihrer neuen „Taiwan-first“-Parole blieben die Aussagen der Kuomintang zur Grundsatzfrage des Verhältnisses zu China dennoch oft ambivalent. So heißt es z.B. im Wahlkampfprogramm des blauen Lagers „wir verwerfen ‚Unabhängigkeit jetzt‘ wie aber auch ‚Wiedervereinigung jetzt‘.“12 Viele Beobachter sahen in dieser Ambivalenz einen Hauptgrund für die Stimmenverluste des blauen Lagers. Denn im Kontrast hierzu hämmerten Chens Wahlkampfreden seinen Hörern ein, die Frage der Identität Taiwans bilde die Schicksalsfrage für die Insel und ihre Bewohner. Für das Wahlergebnis insgesamt ergibt sich aus dem Stimmenzuwachs für Chen wie auch aus der relativ stärkeren Taiwan-Orientierung der vormals China-orientierten Kuomintang die Tendenz zu einer deutlicher als je zuvor gewordenen Distanzierung Taiwans von China. Diese könnte sich maßgeblich vertiefen, sollte es „Pan-Grün“ bei den kommenden Parlamentswahlen vom Dezember 2004 gelingen, die absolute Mehrheit zu erringen. Dies würde die Führung in Beijing vor die Notwendigkeit einer Neuüberprüfung und eventuellen Änderung ihrer Taiwan-Politik stellen.

Tatsächlich hat Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao im Mai 2004 die Erarbeitung eines neuen „Taiwan-Gesetzes“ angekündigt. Es soll Chinas Gegenstück zum „Taiwan Relations Act“ der USA werden. Fast zeitgleich gab Chen Shui-bian in Taiwan am 6. Mai die Errichtung eines „Rates zur Regelung friedlicher Beziehungen zwischen den Systemen diesseits und jenseits der Meeresstraße von Taiwan“ und die Ausarbeitung neuer Richtlinien hierfür bekannt.13 Beijing reagierte am 17. Mai, drei Tage vor Chens Amtseinführung, flexibel, indem es die Wiederaufnahme des Dialogs mit Taiwan unter dem Aspekt des „Ein-China-Prinzips“ anbot. Themen des Dialogs könnten sein: mehr internationaler Spielraum für Taiwan, Maßnahmen zur militärischen Vertrauensbildung und beiderseits vorteilhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit.14 Für den Fall konkreter taiwanesischer Schritte in Richtung Unabhängigkeit wird allerdings mit massivsten Reaktionen gedroht.

Hinter Chens Plan für eine Verfassungsreform bis 2008 – dem Jahr der in Beijing geplanten Olympiade – vermuten China wie auch USA eine mögliche Gefährdung des Status quo. Dieser besteht einerseits für China in seinem De-jure-Anspruch auf Oberhoheit über ein widerstrebendes Taiwan, das es für den Fall einer Unabhängigkeitserklärung mit Krieg bedroht, sowie andererseits für die USA in einer Strategie der Zweideutigkeit, die ein Lippenbekenntnis zu einem nicht näher definierten „Ein-China-Prinzip“ mit einer faktischen Abschirmung Taiwans gegen chinesische Gewaltanwendung verbindet. Daher wird Taiwan von Washington ermahnt, sich mit seiner „unerklärten Unabhängigkeit“ zu begnügen, da seine Proklamation einer De-jure- Unabhängigkeit China zu Gewaltanwendung veranlassen und die gesamte Sicherheitsarchitektur des westpazifischen Raumes erschüttern könne. China scheint sich vorläufig damit zu begnügen, dass Taiwan nominelle Bindungen zu China – so z.B. seinen offiziellen Namen „Republik China“ oder seine gesamtchinesische Verfassung – nicht preisgibt.

Somit beinhaltet die Konstellation des Taiwan-Problems Widersprüche und Frustrationen für alle beteiligten Mächte: für China, da seinem Anspruch auf Taiwan einerseits die Verweigerung der Taiwanesen und andererseits die Taiwan gegen Gewalt schützende Macht der USA entgegensteht; für Taiwan, weil Beijing und die USA es daran hindern, seine faktische Unabhängigkeit auch formell zu erklären und international anerkennen zu lassen, und für die USA, weil sie – selbst aus einer Unabhängigkeitsbewegung entstanden – Taiwan aus Gründen der Krisenprävention im Westpazifik ein gleiches Recht verweigern müssen.

Doch überschatten die neuen politischen Spannungen fortgesetzte, fast normale Wirtschaftsbeziehungen des gegenseitigen Handels, im Jahr 2002 z.B. mit einem Gesamtvolumen von 37,4 Milliarden Dollar (davon 78,8% Exporte aus Taiwan und 21,2% Exporte aus China). Zudem ist Taiwan zum viertgrößten Investor in China geworden, wo sich etwa 300 000 Geschäftsleute aus Taiwan niedergelassen haben. Im gleichen Jahr zählte man 3,6 Millionen Besuchsreisen aus Taiwan nach China.15 Zur politischen Dimension sagte Chen in einem Interview mit der Washington Post vom 30. März 2004, für Beijing sei „Ein-China“ ein „Leitprinzip“, für Taiwan nur ein mit China diskutierbares „Problem“.16 Für ihn bedeute der unumkehrbare Status quo Taiwans eine De-facto-Existenz als „unabhängiges, souveränes Land“. Doch habe er nicht die Absicht, den erwähnten „fünf Verneinungen“ zuwider zu handeln; der Frieden in der Straße von Taiwan habe Vorrang. Dementsprechend vermied Chens vom Weißen Haus als „verantwortlich und konstruktiv“ bezeichnete Antrittsrede vom 20. Mai 2004 jede direkte Provokation Beijings.17 Wenige Tage später erklärte Taiwans neu ernannter Vorsitzender des Rates für Festlandsangelegenheiten, Jaushieh Wu, Taiwan begrüße einen Besuch des Chefs der entsprechenden Beijinger Behörde Wang Daohan.18

Vermutlich wird es aber erst anlässlich der Parlamentswahlen auf Taiwan im Dezember 2004 voll erkennbar werden, ob und wie die neue Krise auf und um Taiwan bewältigt werden kann. Sollte „Pan-Grün“ dann die absolute Mehrheit erlangen, wäre Chens Position maßgeblich gestärkt. Um das zu verhindern, ringen die Parteien von „Pan-Blau“ um die Frage, ob und wie sie zuvor mit einander fusionieren und der Wählerschaft ein neues Profil bieten sollen.19

Ungeachtet neuer militärischer Drohmanöver Beijings hat Taipei drei kleinere Staaten, von denen es diplomatisch anerkannt wird, ersucht, die Frage einer UN-Mitgliedschaft Taiwans auf die Agenda der Generalversammlung im Herbst 2004 zu setzen, um mit dieser Geste Beijings „Ein-China-Prinzip“ ebenso in Frage zu stellen wie auch die Sinnhaftigkeit der Nichtzulassung Taiwans zur Weltorganisation. Ein praktischer Erfolg ist indes nicht zu erwarten.

Anmerkungen

1  Zur Geschichte Taiwans: Hungdah Chiu, (Hrsg.), China and the Question of Taiwan. New York 1973 und Oskar Weggel, Die Geschichte Taiwans . Köln 1991.

2  Lester L. Wolff, u.a. (Hrsg.): Legislative History of the Taiwan Relations Act. Jamaica N.Y. 1982.

3  Vgl. dazu Kindermann, Machtwechsel in Taiwan – Versöhnung mit Peking?, in: Internationale Politik (IP), 7/2000, S. 37–38 sowie Urs Schoettli, Politikwechsel in Taiwan, in IP, 2/2002, S. 45–50.

4  Zu den Wahlresultaten s. Taiwan News, 21. und 22.3.2004 sowie Taipei Times, 21.3.2004, u. Taiwan Aktuell, 22. 3.2004.

5  China Post, 21.3.2004 sowie Taiwan News, 21. und 28.3.2004.

6  Government Information Office: Questions and Answers about Taiwan‘s Referendum. Taipei, März 2004. Taiwan News, 18.3. und 20.4.2004.

7  Taiwan Aktuell, 15.12.2003, China Post, 11.12.2003.

8  China aktuell, Januar 2004, S. 30-32.

9  Taipei Times, 21.3.2004 und Taiwan News, 22.3.2004.

10  Siehe die Berichte von Kai Strittmatter in der Süddeutschen Zeitung, 14. und 15.3.2004.

11  Zu diesem Kommentar der Defense Security and Cooperation Agency des Pentagons siehe China Post, 2.4.2004.

12  Lien-Soong Policy Papers. Lien-Soong Campaign Headquarters, March 2004, S. 16–22.

13  China Post, 7.5.2004.

14  Xinhua Nachrichtenagentur, 17.5.2004. Siehe auch Text der gemeinsamen Erklärung der Taiwan Büros des Staatsrats und des Zentralkomitees der KP Chinas vom 17.5.2004 in: Beijing Review, 27.5.2004.

15  Government Information Office: Taiwan Yearbook 2003. Taipei 2003, S. 98 und 141–143.

16  Voller Text des Interviews in: China Post, 31.3.2004.

17  Text der Antrittsrede von Chen Shui-bian vom 20.5.2004, ebda., 21.5.2004, in Auszügen in der Dokumentation, S. 132 ff.

18  China Post, 29.5.2004.

19  Ebda., 20.5.2004.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2004, S. 23‑29

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