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01. Febr. 2004

In Memoriam Hans J. Morgenthau

Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau wäre in diesem Jahr 100
Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass würdigt der an der Universität München lehrende Politologe
dessen Theorie des „Politischen Realismus“ als einzigen theoretischen Ansatz, der weltweit
auch bei Praktikern Anhänger gefunden hat.

Von dem vor einhundert Jahren am 17. Februar 1904 in Coburg geborenen Hans Joachim Morgenthau hat Stanley Hoffmann von der Harvard Universität sehr zu Recht gesagt, er sei der eigentliche „Gründervater“ der jungen politologischen Disziplin Internationale Politik. Ähnlich äußerte sich sein Schüler Henry A.

Kissinger, und Karl Kaiser schrieb, Morgenthaus Theorieansatz des klassischen olitischen Realismus sei „der am weitesten gehende Versuch, eine allgemeine Theorie der Internationalen Politik aufzustellen“.1 Seinen großen Durchbruch erzielte der 1937 in die USA eingewanderte Morgenthau durch seine richtungweisenden Interventionen im Rahmen der „great debate“ über Amerikas neue Weltrolle ab 1945.

Verbunden mit scharfer Kritik an moralistischen und legalistischen Tendenzen in außenpolitischen Denktraditionen der USA, die, wie er meinte, dem falschen Menschen- und Weltbild des „historischen Optimismus“ entstammten, entwickelte Morgenthau seine Theorie des politischen Realismus. Ihr zufolge verlangen eine erfolgreiche Analyse und Praxis auswärtiger Politik die Einsicht, dass deren primäre Triebkräfte in den realen, d.h. den praktisch verhaltenssteuernden Interessen der Staaten zu suchen seien. Eine „aufgeklärte“ Definition eigener außenpolitischer Interessen berücksichtige jedoch auch die Interessenlagen anderer Staaten, auf die sie Bezug nehmen müsse. Vornehmliche Triebkraft wie auch Mittel der Interessenverwirklichung sei das allem politischen Handeln innewohnende Phänomen der Macht. Von subtilsten Formen der Überredung und Beeinflussung reichten die vielgestaltigen Formen der Machtausübung bis letztlich hin zu den Dimensionen des tödlichen Machtmitteleinsatzes im totalen Krieg. Dementsprechend formuliert Morgenthau die zentrale Kategorie seines Ansatzes als den „im Sinne von Macht verstandenen Begriff des Interesses“. Intensiv befasst er sich folglich nicht nur mit Formen der Entstehung, der Bewertung, des Einsatzes und der Konstellationen der Macht – hier insbesondere mit Bedingtheiten eines „Gleichgewichts der Kräfte“ –, sondern auch mit den der Macht innewohnenden Gefahren, ihren Tendenzen zur Korruption und dem ihr oft unvermeidlich anhaftenden Element menschlicher Tragik. Für den politisch Handelnden gelte als Gebot der „Gesinnungsethik“ das Bedenken praktischer Folgen und nicht die Orientierung an abstrakten Prinzipien. Zeitweilige Ursachen selbstschädigender Fehlgriffe amerikanischer Außenpolitik seien deren Militarisierung wie auch ihr ideologischer Kreuzzugscharakter gewesen. Ethische Kriterien seien universal anzuwenden und nicht differenziert nach Freund oder Feind, Siegern oder Besiegten. Pauschale Verurteilungen ganzer Völker – so auch der Deutschen – seien sachlich falsch und ethisch unmo ralisch. In praktischer Hinsicht empfahl Morgenthau 20 Jahre vor Richard Nixon eine Entspannung der USA mit China wie auch sicherheitspolitische Absprachen mit der Sowjetunion. Im Zuge scharfer Kritik am Vietnam-Krieg sagte er richtig die Rückkehr traditioneller Konflikte zwischen China und Vietnam voraus.

Unter den Theorien der Internationalen Politik ist Morgenthaus politischer Realismus der einzige Ansatz geblieben, der weltweit auch bei Praktikern der Außenpolitik Anhänger gefunden hat. Obwohl Morgenthau zu jenen deutschen Emigranten gehörte, die im Ausland Weltruhm ernteten, ist er in Deutschland kaum bekannt und in Fachkreisen oft missdeutet worden. Doch einer vorzüglichen schweizer Morgenthau- Studie von Christoph Frei (1993)2 folgt 2004 als erste große deutsche Monographie das Werk von Christoph Rohde.3 Zu eminenten deutschen Politikwissenschaftlern, die dem Realismus nahe stehen oder sich zu ihm bekennen, gehören u.a. Christian Hacke, Werner Link, Carlos Masala, Alexander Siedschlag sowie Reinhard Meier-Walser. Für die fortwirkende Vitalität des Ansatzes von Morgenthau spricht die Entwicklung verschiedener Schulen des Neorealismus, in den USA insbesondere vertreten von Kenneth Waltz und in Deutschland von der Münchner Schule des Neorealismus.4 Dem Verfasser dieser Zeilen war es vergönnt, Morgenthaus Schüler, Doktorand und Mitarbeiter sowie später auch sein Freund gewesen zu sein.

1  Morgenthaus Hauptwerk: Politics Among Nations, 3. Aufl., New York 1962, erschien deutsch unter dem Titel: Macht und Frieden, Gütersloh 1963.

2  Christoph Frei, Hans J. Morgenthau – Eine intellektuelle Biographie, Bern 1993.

3  Christoph Rohde, Hans J. Morgenthau und der Weltpolitische Realismus, Wiesbaden 2004.

4 Vgl. Kindermann, Neorealismus und Analyse, in: Internationale Politik, 8/1996, S. 21–28 und Kindermann u.a., Grundelemente der Weltpolitik, 4. Aufl., München 1991.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2004, S. 85‑86

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