Szenario 3: Russland massiert Truppen an der lettischen Grenze
Um einen tatsächlichen Angriff zu vermeiden, muss die Abschreckung der NATO glaubwürdig gestaltet werden. Dabei ist vor allem Deutschland in der Pflicht.
Ähnlich wie in den Monaten vor Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beobachten die NATO-Mitglieder eine beunruhigende Entwicklung: Russland zieht immer mehr Truppen und Militärgerät entlang der lettischen Grenze zusammen. Gleichzeitig registrieren auch die Behörden der anderen beiden baltischen Staaten vermehrt Cyberangriffe auf private und staatliche Einrichtungen, (versuchte) Angriffe auf kritische Infrastruktur ebenso wie Desinformationskampagnen über angebliche Unterdrückungsversuche von ethnischen Russen in Lettland und Estland.
Vor dieser sich zuspitzenden Situation richten sich viele Allianz-Augen auf die deutsche Bundesregierung, die seit dem offenen Krieg Russlands gegen die Ukraine an Bedeutung für euroatlantische Sicherheit gewonnen hat. Nicht zuletzt das geflügelte Wort der „Zeitenwende“ hat bei Deutschlands Verbündeten die Hoffnung geweckt, dass Berlin endlich verstanden hat, welche Verantwortung es für die Sicherheitsvorsorge von Alliierten tragen muss. Die drängenden Fragen sind: Hat Deutschland verstanden? Wenn nicht, was bleibt zu tun? Und: Wie würden Berliner Entscheidungsträger in diesem Szenario reagieren?
Es ist davon auszugehen, dass Deutschland auf drei Ebenen handeln würde: militärisch, diplomatisch, ökonomisch. Sobald die NATO-Mitglieder, die mittlerweile zu einem Großteil auch der EU angehören, eine Massierung russischer Truppen entlang alliiertem Territorium feststellten, ist es wahrscheinlich, dass koordinierte diplomatische Anstrengungen unternommen würden, um Moskau von einem Angriff auf das Bündnisgebiet abzuhalten. Außerdem lässt sich annehmen, dass im EU-Rahmen – rückgekoppelt mit den USA – weitere Sanktionspakete gegen Russland geschnürt würden, um diese im Falle einer sich weiter zuspitzenden Lage rasch verabschieden zu können.
Noch nicht einsatzbereit
In diesem Artikel liegt das Hauptaugenmerk allerdings auf der militärischen Ebene, da sich hier die größten Erwartungen an Berlin richten – und dort der dringendste Nachholbedarf besteht.
Im skizzierten Szenario hat Deutschland es noch nicht vollbracht, die großangekündigte „Litauen-Brigade“ vollständig und permanent ins baltische Partnerland zu verlegen. Neben dem bereits im September 2022 stationierten vorgeschobenen Führungselement (Forward Command Element, FCE) sind in der Zwischenzeit ein Vorkommando und ein Aufstellungsstab hinzugekommen. Erste Kampfeinheiten der für die Brigade vorgesehenen Panzer- und Panzergrenadierbataillone sind ebenfalls vor Ort eingetroffen, ebenso wie Unterstützungselemente und eingelagertes Material, zum Teil in Litauen selbst. Voll umfänglich einsatzbereit ist der Verband allerdings noch lange nicht.
Jedoch: Gemeinsam mit den seit 2017 präsenten Einheiten der multinationalen „enhanced Forward Presence“ (eFP)-Truppen, die Teil der versprochenen Brigade werden sollen, wären deutsche Soldatinnen und Soldaten im Verbund mit ihren Alliierten vor Ort abwehrbereit und -berechtigt im Falle eines russischen Angriffs. Man darf davon ausgehen, dass die eFP-Kräfte, gemeinsam mit den weiteren bereits stationierten Brigadeelementen, Verteidigungsstellungen beziehen würden. Ebenso ist davon auszugehen, dass die Versorgungs- und Unterstützungselemente entzerrt würden, um die Verwundbarkeit zu reduzieren.
Parallel zu einer russischen Truppenmassierung entlang der lettischen Grenze würden neben den Reaktionen in Litauen weitere Schritte von Seiten der NATO eingeleitet werden: Insbesondere dem NATO-Oberbefehlshaber (SACEUR) käme hierbei eine wichtige Rolle zu. Sehr wahrscheinlich würde er die erste Stufe („tier 1“) des NATO New Force Model (NFM), der neuen Streitkräftestruktur der Allianz, in Bewegung setzen. In dieser Stufe können bis zu 100 000 Soldatinnen und Soldaten abgerufen werden, die innerhalb von bis zu zehn Tagen „effektbereit“ im Einsatzland sein müssen.
Im militärischen Bereich würden sich die größten Erwartungen an Berlin richten
Ein solcher Entschluss von Seiten des SACEUR hätte zwei Ziele: Zum einen würde darüber die tatsächliche Verteidigungsbereitschaft für den Ernstfall erhöht, zum anderen könnte Russland gegenüber signalisiert werden, dass die NATO entschlossen ist, „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets zu verteidigen, so wie seit dem 24. Februar 2022 immer wieder betont – auch von höchster politischer Stelle.
Einberufung des Nordatlantikrats
Neben der militärischen Reaktion von Bündnisseite ist weiterhin anzunehmen, dass Lettland – womöglich im Verbund mit Estland und Litauen – Artikel 4 des NATO-Vertrags in Anspruch nähme. Laut dieser Regelung des Washingtoner Vertrags können Konsultationen zwischen Mitgliedstaaten und im Nordatlantikrat – dem höchsten politischen Gremium der Allianz – eingefordert werden, wenn einer der Bündnispartner das eigene Hoheitsgebiet, die politische Unabhängigkeit und Sicherheit bedroht sieht. Dieser Schritt kann, muss aber nicht als Vorbereitung für einen Artikel-5-Beschluss dienen.
Zur möglichen Aktivierung des „Herzstücks“ der NATO, Artikel 5, käme es ohnehin nur im Falle eines bewaffneten Angriffs auf alliiertes Territorium. Und selbst in einem solchen Szenario, das von dem oder den angegriffenen Bündnisstaaten gemeldet werden müsste, folgte nicht automatisch die Ausrufung des Bündnisfalls.
Berlins lange Hausaufgabenliste
Damit es erst gar nicht zu einem Angriff kommt, muss das Abschreckungsdispositiv der NATO glaubwürdig gestaltet werden. Dafür ist unabdingbar, dass Fähigkeiten zur unmittelbaren Verteidigung bereitstehen und bereitgehalten werden, um auf einen potenziellen Angriff unverzüglich reagieren zu können. Selbstverständlich müssen diese Schritte allianzübergreifend organisiert und koordiniert werden, jedoch hat Deutschland eine zentrale Rolle in diesen Vorbereitungen einzunehmen. Um auf das oben skizzierte Szenario so gut wie nötig reagieren zu können (ebenso wie im Falle eines tatsächlichen Angriffs), muss Berlin noch einige „Hausaufgaben“ erledigen.
Eine „flexible Brigade“ in Deutschland könnte eine Übergangslösung bis zur vollständigen und dauerhaften Einsatzbereitschaft der versprochenen „Litauen-Brigade“ sein
In erster Linie wird Deutschland dafür sorgen müssen, dass die versprochene „Litauen-Brigade“ schnellstmöglich dauerhaft und voll einsatzfähig im baltischen Partnerland vor Ort sein wird. Für den Übergang zwischen dem aktuellen Ist-Zustand und dem gewünschten Soll-Zustand wäre es sinnvoll, eine weitere in Deutschland ansässige Brigade für den Bedarfsfall bereitzustellen – so lange, bis die für Litauen vorgesehenen Truppenteile tatsächlich auf litauischem Boden stationiert sein werden. Laut gegenwärtiger Informationen soll die Brigade zwar 2025 bereits formell in den Dienst gestellt werden. Damit einher geht allerdings nicht zwangsläufig die Präsenz aller vorgesehenen Soldaten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Großverband erst ab dem Jahr 2028 vollumfänglich einsatzbereit sein wird.
Insofern ist es umso dringlicher, dass für den Übergang bis zur vollständigen Einsatzbereitschaft eine Lösung gefunden wird: Eine „flexible Brigade“ in Deutschland könnte dieser Baustein sein. Weiterhin sollten über das FCE, das eine Scharnierfunktion zwischen den litauischen Streitkräften und der noch auf deutschem Boden vorgemerkten Brigade bildet, so häufig wie möglich Truppenteile des Großverbands für Übungen nach Litauen verlegt werden, um die deutschen Soldatinnen und Soldaten so rasch wie möglich mit ihrem Einsatzterrain vertraut zu machen.
Außerdem sollte Deutschland in Erwägung ziehen, die eFP-Kräfte aus der „Litauen-Brigade“ entweder auszugliedern und durch ein anderes Bataillon aus Deutschland für die dauerhafte Stationierung in Litauen zu ersetzen. Alternativ – und das muss im Verbund mit den Alliierten geschehen – sollte auf den rotierenden Charakter der eFP-Truppen verzichtet werden, um diese permanent in Litauen und bei den anderen Kräften der Brigade halten zu können. Ein solcher Schritt hätte den Vorteil, dass alle dem Großverband zugeordneten Kräfte dauerhaft an einem Ort wären, was die Abschreckungswirkung gegenüber Russland stärken und die Verteidigungsfähigkeit qua häufiger gemeinsamer Übungen im Einsatzgebiet verbessern könnte.
Hinzu muss kommen, dass eine ausreichende Stückzahl einsatzbereiten Materials auf litauischem Boden vorgehalten wird, allen voran Kampf- und Schützenpanzer, die Hauptwaffensysteme der Panzer- und Panzergrenadiertruppen. Bedarf zum Fähigkeitsausbau besteht zusätzlich bei der Flugabwehr, insbesondere bei der kurzen bis mittleren Reichweite, hinsichtlich potenzieller Angriffe im Nahbereich – einschließlich der Bedrohung durch Drohnen.
Die richtigen Lehren ziehen
Grundsätzlich muss Deutschland überprüfen, ob es hinsichtlich der nötigen Ausrüstung für künftige Kriege die richtigen Lehren aus dem russischen Überfall der Ukraine zieht. So hat Deutschland unter anderem Aufholbedarf in Sachen elektronischer Kampfführung, weitere Ausstattung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen und Artillerieabwehr.
Neben der Frage nach angemessener Ausstattung muss die Vereinfachung und Verschlankung verteidigungspolitischer Prozesse und Abläufe weiter vorangebracht werden. Eine im September 2023 bekannt gewordene Fehlleistung – digitale Funkgeräte, die nicht in Fahrzeuge eingebaut werden können, weil die dazugehörige Montage nicht rechtzeitig organisiert wurde – unterstreicht beispielhaft den ministeriellen Wirrwarr in Beschaffungsprozessen.
Was auf den ersten Blick wie eine Lappalie anmutet, hat Auswirkungen auf Deutschlands Rolle in der NATO. So hat die Bundesregierung gegenüber der Allianz gemeldet, dass sie ab dem Jahr 2025 eine voll ausgestattete Division mit drei Brigaden bereithalten werde. Zur Vollausstattung gehört allerdings auch die digitale Befähigung, wofür besagte Geräte in unterschiedliche Fahrzeugtypen eingebaut werden müssten. Ohne diesen Schritt wären Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nicht in der Lage, verschlüsselt mit den Streitkräften alliierter Nationen zu kommunizieren.
Solche Fehlleistungen dürfen sich nicht wiederholen, will Deutschland dauerhaft eine verteidigungspolitische Zeitenwende vollbringen und verlässlicher Partner für seine Alliierten im euroatlantischen Raum bleiben.
Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2024, S. 46-49