Buchkritik

01. Jan. 2017

Nicht-ganz-so-Vereinigte Staaten

Vier Neuerscheinungen zeichnen ein eher düsteres Bild Amerikas

Über die tieferliegenden Gründe für den Wahlsieg Donald Trumps werden Historiker, Politologen und Soziologen in den kommenden Monaten und Jahren zahlreiche Seiten füllen. Wer nicht so lange warten möchte, kann sich auf einige Bücher stützen, die vor der Wahl geschrieben wurden, aber bereits vieles von dem vorwegnehmen, was künftig diskutiert wird.

Das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen 2016 hat der Welt einmal mehr vor Augen geführt, wie tief und vielschichtig die Gräben innerhalb der amerikanischen Gesellschaft verlaufen. Globalisierungsgewinner stehen vermeintlichen Globalisierungsverlierern gegenüber, Internationalisten sehen sich mit Nationalisten konfrontiert. Daneben haben Fragen nach Herkunft, Religion und Kultur den Kampf ums Weiße Haus geprägt und zu einer bislang nicht gekannten Polarisierung geführt.

Die Analysen und Erzählungen der hier besprochenen vier Autoren unterscheiden sich zwar stark in Form und Inhalt. In einem Punkt sind sie sich jedoch einig: Ein „Business as usual“-Ansatz wird nicht ausreichen, um den Herausforderungen, denen sich die USA innen- und außenpolitisch gegenübersehen, zu begegnen.

Josef Braml, Amerika-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zeichnet in „Auf Kosten der Freiheit“ nach, welche Entwicklungen dazu geführt haben, dass ein selbst erklärter Anti-Establishment-Kandidat bei der Präsidentenwahl reüssieren konnte. Braml vertritt die These, dass die amerikanische Gesellschaft in wachsendem Maße ihrer Freiheit und der Wohlstandsversprechen des „American Dream“ beraubt werde. Statt dem Gemeinwohl zu dienen, lasse sich das Politik-Establishment immer stärker für die Durchsetzung von Partikularinteressen einspannen.

In das Zentrum seiner Analyse rückt der Autor die Medien- und Finanzdienstleistungswirtschaft, Informationstechnologien, den militärisch-industriellen Komplex (ein Begriff, den US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 bekannt machte) sowie die Ölindustrie. An ihrem Beispiel legt Braml dar, dass die USA im Inneren immer undemokratischer und unfreier geworden seien; eine Entwicklung, die auch den Rest der Welt nicht unberührt lassen werde.

Die Innenpolitik der Vereinigten Staaten habe insofern Einfluss auf den Rest der Welt, als eine Preisgabe von Demokratie und Freiheit zuhause eine illiberale Außenpolitik nach sich ziehen könne. Zwar sei die internationale liberale Weltordnung nach 1945 von den USA selbst aufgebaut und getragen worden; allerdings könne ihre Aufrechterhaltung in Zeiten massiver sozialer, wirtschaftlicher und politischer Probleme im Inneren für Wa­shington keine Priorität mehr sein. Was beim Demokraten Barack Obama noch als „nation-building at home“ bezeichnet wurde, fasst der designierte 45. US-Präsident Donald J. Trump unter dem Slogan „America first“ zusammen. Ungeachtet der unterschiedlichen politischen Erklärungen dieser Ansätze ist der Kern ihrer Botschaft derselbe: Amerika muss sich künftig im Wesentlichen den Problemen im eigenen Land widmen.

Washington als neues Rom?

Auch Harvard-Professor Joseph Nye zieht in seinem Essay „Is the American Century Over?“ innenpolitische Problemfelder wie Zuwanderung und Bildung heran, um abzuschätzen, wie es künftig um den Einfluss der USA in der Welt bestellt sein wird. Dabei unterscheidet der Autor zwischen absoluten und relativen Machtverlusten und Herausforderungen.

Zugespitzt fragt Nye, ob den USA ein ähnliches Schicksal bevorstehe wie dem alten Rom – ob das Land also nicht durch externe Herausforderer, sondern aufgrund interner Probleme dem Untergang geweiht sei. Er kommt zum Schluss, dass die Amerikaner eine solche Entwicklung abwenden könnten, sofern es gelänge, den politischen Stillstand in Washington zu überwinden. So naheliegend diese nicht unbedingt neue Rezeptur vor dem Hintergrund der jüngsten Präsidentenwahl klingt, so wenig spielt Nye die enormen Herausforderungen herunter, die damit verbunden sind.

Nichtsdestotrotz unterstreicht der Autor die Fähigkeiten der Amerikaner, Schwierigkeiten gleich welcher Natur zu überwinden und damit Untergangsgesänge zum Verstummen zu bringen. Zudem arbeitet Nye heraus, dass die USA im Verhältnis zu anderen Staaten (Japan, Russland, Indien, Brasilien) und Regionen (Europa) nach wie vor eine ausgeprägte Machtdominanz besitzen.

Am deutlichsten lasse sich diese Überlegenheit anhand der militärischen Stärke belegen. Und was Ökonomie und „Soft Power“ (Nye selbst hat dieses Konzept begründet) angehe, so seien die USA zwar nicht mehr der einzige dominante Spieler – andere Staaten hätten das Land in diesen Machtkategorien allerdings auch noch nicht überholen können. Auf absehbare Zeit sei nicht zu befürchten, dass Amerika durch eines der genannten Länder ernsthaft gefordert würde.

Einzig China stellt Nye als wirklich ernstzunehmende militärische und wirtschaftliche Herausforderung für Washington heraus. Doch das müsse nicht das Ende des amerikanischen Zeitalters bedeuten, im Gegenteil: Der relative Machtverlust könne gerade durch den Aufstieg Chinas abgewendet werden.

Hier tritt deutlich zutage, dass der Autor der Theorieschule des Liberalismus angehört. Nye zufolge muss Macht als ein Positivsummenspiel gedacht werden: „Wenn das amerikanische Jahrhundert sich fortsetzen soll, wird es nicht genügen, in Kategorien der amerikanischen Macht über andere zu denken. Man muss sich auch mit solchen Machtkategorien beschäftigen, bei denen es darum geht, bestimmte Ziele gemeinsam mit anderen zu erreichen – das schließt eine gemeinsame Machtausübung ein.“ Sofern die USA künftig eine liberale Politik nach außen und innen verfolgen, so Nyes Schlussfolgerung, werde das amerikanische Zeitalter noch Jahrzehnte überdauern.

Die große Entfremdung

Nyes Plädoyer für eine liberale Innen- und Außenpolitik liest sich, so scheint es, in deutlichem Kontrast zu Yuval Levins „The Fractured Republic“. Doch der Schein trügt. Zwar ist es in der Tat eine liberale Politik, die der konservative Publizist als eine der Ursachen für die wachsende Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft ausmacht. Gleichzeitig aber, und das macht den intellektuellen Reiz von Levins Essay aus, zeigt er auf, dass konservative Elemente gleichermaßen zur Entfremdung der amerikanischen Bürger untereinander und gegenüber Washington beigetragen haben: „Kollektivismus und Atomismus sind nicht die gegenüberliegenden Seiten des politischen Spektrums, sondern eher zwei Seiten einer Medaille.“

Ein überbordender Individualismus sowie eine wachsende staatliche Machtkonzentration verstärken, ja, bedingen einander, so Levin. Beide Extreme, die spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts befördert worden seien, hätten dazu geführt, dass zivilgesellschaftliche Einrichtungen ebenso übergangen worden seien wie etwa die Institution der Familie. Eine immer stärker um sich greifende Zementierung staatlicher Kompetenzen habe zur Folge, dass nichtstaatliche Einrichtungen entmachtet würden.

All das führe zu einer Erosion der Zivilgesellschaft und einer Isolierung des Individuums, das sich mangels Alternativen dem Staat zuwende. Levin beschreibt einen Teufelskreis, der von liberalen wie konservativen Kräften gleichermaßen befeuert werde.

Besonders interessant an dieser Erzählung ist aus europäischer Perspektive, dass Demokraten und Republikaner nicht immer einer liberalen bzw. konsolidierenden Politik gefolgt sind. Stattdessen zeichnet Levin nach, wie beide Kräfte zu unterschiedlichen Zeiten zur Liberalisierung der amerikanischen Gesellschaft oder zur Ausweitung staatlicher Aufgaben beigetragen haben. Der Autor, der neben seinem publizistischen Wirken sowohl im Kongress als auch in der Regierung George W. Bush tätig war, belässt es nicht bei einer historisch geprägten Analyse.

Um beide Entwicklungen – Hyper­individualismus und Zentralisierung – abzufedern, schlägt Levin eine Politik der Subsidiarität vor. So könnten Institutionen der Zivilgesellschaft (wieder) verstärkt Aufgaben übernehmen, die derzeit beim Staat angesiedelt sind. Im Umkehrschluss würden die Zentralregierung entlastet und der Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft auf lokaler Ebene gestärkt. So ließen sich Levin zufolge die Fragmentierung und Polarisierung Amerikas aufhalten. Am besten gerüstet für die Abmilderung der „twin pressures“ seien die Republikaner, da eine Politik der Subsidiarität stärker in ihrer soziologischen DNA angelegt sei als bei liberalen Kräften.

Im Rostgürtel

Zu der Schlussfolgerung, dass „Big Government“ mitverantwortlich für die Misere vieler Amerikaner sei, kommt auch J. D. Vance. In der autobiografischen Erzählung „Hillbilly Elegy“ widmet sich der Autor der weißen Arbeiterklasse im Osten der USA. Eine übertriebene Regulierung durch den Staat, die Abwanderung von Arbeitsplätzen und die daraus resultierende wirtschaftliche Unsicherheit bilden in Vances Augen eine zutreffende, aber unvollständige Erklärung für den sozioökonomischen Abstieg der weißen Arbeiterklasse.

Der Autor ergänzt diese Argumente um einen kulturellen „Hillbilly“-Faktor, der sozialen Zerfall begünstige, statt diesem entgegenzuwirken. Was Vance damit meint, illustriert er anhand seiner Familiengeschichte. So hätten es seine Großeltern, die in ärmlichen Verhältnissen in Kentucky aufwuchsen, mit dem Umzug nach Middletown – einer Stadt im so genannten „Rostgürtel“ – geschafft, den materiellen Komfort der Mittelklasse zu erreichen. Die Werte und Bräuche, die Vance Hillbillys zuschreibt, habe man aber nicht in den Weiten Kentuckys zurückgelassen. Und während der Autor Loyalität oder Patriotismus als durchaus ehrbare Eigenschaften herausstreicht, erwähnt er auch überaus problematische Aspekte. So sei ein weit verbreiteter verbaler und physischer Missbrauch in Familien verantwortlich für das Elend und Zurückbleiben vieler Kinder dieser gesellschaftlichen Gruppe.

Ohne je in Rührseligkeit abzugleiten, beschreibt Vance, dass er ohne die Unterstützung seiner Großeltern ein weiterer Fall für Statistiken über das Leid der amerikanischen Unterschicht gewesen wäre. Stattdessen verbrachte er vier Jahre bei den Marines, diente im Irak-Krieg und absolvierte anschließend ein Studium an der Ohio State University und Yale Law School.

Vances Erzählung lässt sich also auch als Beleg dafür lesen, dass es so etwas wie den amerikanischen Traum immer noch gibt. Damit sein sozioökonomischer Aufstieg aus einer Stadt, in der viele Kinder noch nicht einmal die High-School beenden, nicht eine Ausnahme bleibt, schreibt Vance sowohl dem Staat als auch der Familie eine wichtige Rolle zu. Ersterer solle seine Wohlfahrtsprogramme zurückschrauben, die teilweise zu Missbrauch und dem Gefühl der „Entrechtung“ einlüden. Stattdessen solle der Staat der Institution Familie und Zivilgesellschaft mehr Verantwortung und Handlungsspielraum übertragen, um der Lebensrealität und den Problemen der amerikanischen Arbeiterklasse besser gerecht zu werden.

Den Büchern von Braml, Nye, Levin und Vance ist eines gemein: Sie sind – zum Teil lange – vor der Wahl Donald Trumps verfasst. Doch bieten sie eine ausgesprochen aufschlussreiche Analyse der sozialen und politischen Gemengelagen, die den unberechenbaren Milliardär letztlich ins Amt gebracht haben – und bieten eine nützliche Orientierungshilfe, um den innen- und außenpolitischen Herausforderungen der USA Herr zu werden.

Aylin Matlé promoviert an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über die Auswirkungen des US-Engagements auf NATO-Europa unter Barack Obama.

Josef Braml: Auf Kosten der Freiheit. Der ­Ausverkauf der amerikanischen Demokratie und die Folgen für Europa. Köln: Quadriga 2016. 270 Seiten, 22,00 €

Yuval Levin: The Fractured Republic: Renewing America’s Social Contract in the Age of Individualism. New York: Basic Books 2016. 272 Seiten, 23,49 €

Joseph S. Nye: Is the American Century Over? New York: John Wiley & Sons 2015. 152 Seiten, 46,90 €

J. D. Vance: Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis. New York: HarperCollins 2016. 272 Seiten, 15,99 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 134-137

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