Weltspiegel

29. Aug. 2022

Strategischer Steilpass

Brüssel hat vorgelegt, jetzt ist Berlin gefordert: Was das neue Grundlagenpapier der NATO für Deutschlands erste umfassende Nationale Sicherheitsstrategie bedeutet.

Zur DNA deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehört seit jeher die Verankerung in multilateralen Bündnissen. Was immer Berlin außenpolitisch denkt oder entscheidet – es ist stets geprägt von den Bedingungen kollektiven Handelns.



Am deutlichsten zeigt sich diese multilaterale Ausrichtung in den Mitgliedschaften in NATO und EU. Auch bei der Strategieentwicklung orientiert man sich im Wesentlichen an Entscheidungen des euroatlantischen Verteidigungsbündnisses. So heißt es im noch gültigen Weißbuch „Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ aus dem Jahr 2016: „Wir wissen, dass unserer Sicherheit am besten gedient ist, wenn wir gemeinsam mit unseren Partnern und aus den Bündnissen heraus Sicherheitspolitik verantwortlich gestalten: mit einer starken NATO und einem handlungsfähigen Europa.“



Inhaltliche Fragezeichen

Nun unternimmt die Bundesregierung zum ersten Mal den Versuch, eine gesamtstaatliche Nationale Sicherheitsstrategie zu formulieren – so sieht es der Koalitionsvertrag der seit Dezember 2021 amtierenden Ampelregierung vor. Federführend durch das Auswärtige Amt und unter Einbeziehung anderer Ressorts wie dem Verteidigungsministerium entwickelt, soll das Strategiedokument zu Beginn des kommenden Jahres vorliegen.

Über den Prozess der Erstellung des Dokuments sind mittlerweile erste Details bekannt geworden. So sollen etwa die Ansichten von Bürgern und Bürgerinnen in eigens dafür organisierten Foren angehört werden und in den Strategiebildungsprozess einfließen. Außenministerin Annalena Baerbock war zu diesem Zweck auf einer Sommertour unterwegs durch die Bundesrepublik. Gleichzeitig sollen neben deutschen Parlamentariern und Parlamentarierinnen, neben Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auch verbündete Staaten in die Erstellung des Dokuments eingebunden werden.



Was bislang allerdings unklar bleibt, ist die inhaltliche Ausrichtung: Was gedenkt die Regierung in ein derart wegweisendes Papier einfließen zu lassen – zumal im Lichte der durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine entfachten Umwälzungen in der europäischen Sicherheitsarchitektur? Dass Entwicklungen, die zu einer Zeitenwende in Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik geführt haben, auch in der umfassenden Strategie berücksichtigt werden müssen, versteht sich von selbst. Jedoch sollten die an der Formulierung Beteiligten ihr Augenmerk nicht ausschließlich auf Russland und die Lehren aus Wladimir Putins Angriffskrieg gegen sein Nachbarland legen.



Zurück zu den Wurzeln

Vor dem Hintergrund komplexer internationaler Entwicklungen, die einander teils bedingen, teils im Widerspruch zu­einander stehen, und angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen wird es besonders wichtig sein, Ziele, Aufgaben und Instrumente nationaler Sicherheitspolitik in dem neuen Grundlagenpapier präzise zu gewichten. Wenn es darum geht, sich bei dieser Prioritätensetzung zu orientieren, kann ein aufmerksamer Blick auf das neue Strategische Konzept der NATO helfen. Das gilt sowohl in Fragen der Substanz als auch in denen des Stils. Denn dieses Dokument ist nicht sehr umfangreich, aber ausgesprochen inhaltsstark.



Nach über zehn Jahren haben sich die NATO-Verbündeten Ende Juni auf einem Gipfeltreffen in Madrid ein neues Strategiekonzept verordnet. Das zuletzt gültige Papier stammte aus dem Jahr 2010. In diesem Dokument hatten die Verbündeten festgehalten, sie strebten nach einer „echten strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und Russland“. Spätestens seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist diese Idee obsolet geworden.



Dementsprechend finden sich im neuen Konzept deutliche Worte: Die Russische Föderation sei, so heißt es da, „die größte und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum“. Dass eine Neubewertung Russlands Eingang in das neue Konzept finden würde, ist nicht überraschend. Ebenso wenig die erstmalige Erwähnung Chinas als Herausforderer; es ist ja bekannt, dass die USA ihr strategisches Hauptaugenmerk weiterhin und verstärkt auf den asiatisch-pazifischen Raum legen werden.



Nicht nur die Haltung gegenüber tatsächlichen und potenziellen Rivalen hat sich deutlich gewandelt; auch mit Blick auf die Hauptaufgaben, denen sich die NATO künftig verschreiben will, zeigen sich Neuerungen in der Strategie. Zwar halten die Bündnispartner am Dreiklang aus Abschreckung und Verteidigung, ­Krisenprävention- und -management ­sowie kooperativer Sicherheit (mit anderen Worten: der Politik der offenen Tür und der Partnerschaften mit Nicht-­NATO-Staaten) fest. Bei näherer Betrachtung fallen allerdings zwei konzeptionelle Änderungen im Vergleich zum Vorgänger­dokument auf.



Erstens dient die kollektive Verteidigung nunmehr als übergeordnete Klammer, die die drei Hauptaufgaben umschließt; diese sind laut Konzept komplementär zu begreifen, um die kollektive Verteidigung und Sicherheit aller Verbündeten zu gewährleisten. Mit anderen Worten: Die kollektive Verteidigung ist die allem übergeordnete Aufgabe, die über verschiedene Wege sichergestellt werden soll.



Zwar kommt diese Festschreibung keiner konzeptionellen Abstufung der drei Hauptaufgaben gleich, dennoch ist ersichtlich, dass die konventionelle sowie nukleare Abschreckung und Verteidigung im Sinne des territorialen Schutzes des Bündnisgebiets das Fundament der kollektiven Verteidigung bilden. Der buchstäblich breite Raum, der Abschreckung und Verteidigung in dem sehr knappen Dokument von elf Seiten zugebilligt wird, unterstreicht diesen Befund.



 Im Lichte der russischen Aggression gegen die Ukraine und der Ankündigung Präsident Putins vom Dezember 2021, die bisherige europäische Sicherheitsordnung rückgängig machen zu wollen, findet konsequenterweise eine Verschiebung des Schwerpunkts statt: Die NATO soll ihre Anstrengungen verstärkt auf ihre Gründungsaufgabe legen und ein Gros der alliierten Streitkräfteplanung auf die Sicherung der Ostflanke konzentrieren.



Alles im Blick

Aber auch über das russische Bedrohungspotenzial hinausgedacht: Kollektive Verteidigung als Rahmen zu zeichnen, dem sich andere Belange der Allianz unterzuordnen haben, ist nur konsequent für ein defensives Bündnis – ganz gleich, aus welcher Richtung Gefahr droht. Schließlich legen die Mitgliedstaaten fest, welche Bedrohungen sie als relevant einstufen.



Deswegen ist es richtig, dass die Alliierten an ihrem 360-Grad-Ansatz festhalten, demzufolge die Bündnispartner alle sie betreffenden geografischen Räume sowie akuten und potenziellen Bedrohungen im Blick haben. Dieser Logik folgend bleiben Terrorismusbekämpfung und die damit häufig verbundenen Stabilisierungsversuche unterhalb der Südflanke der Allianz weiterhin ein Hauptanliegen; es ist davon auszugehen, dass sich insbesondere die Mittelmeeranrainer der NATO für die Aufrechterhaltung dieser Aufgabe stark gemacht haben dürften.



Transnationale Anliegen, die ebenfalls unter die inoffiziellen Schwerpunkte der kollektiven Verteidigung fallen, umfassen Herausforderungen wie die Eindämmung des Klimawandels, Energiesicherheit, den Schutz der kritischen Infrastruktur und das Wettrennen um neue und disruptive Technologien.



Gebündelt lassen sich diese und weitere Belange – und das ist die zweite offensichtliche Neuerung im Konzept im Vergleich zu seinem Vorgänger – unter dem Stichwort der demokratischen Widerstands­fähigkeit oder Resilienz zusammenfassen. So verspricht die neue NATO-Strategie bereits im einleitenden Kapitel „Aufgabe und Prinzipien“: „Wir werden unsere individuelle und kollektive Resilienz sowie unseren Technologievorsprung ausbauen. Diese Bemühungen sind von entscheidender Bedeutung dafür, die Kernziele der Allianz zu erreichen.“



Durch vermehrte nationale und gemeinsame Investitionen solle die Abwehrfähigkeit gegen Cyber- und hybride Bedrohungen gestärkt werden, heißt es an anderer Stelle in diesem Konzept – und ebenso im Abschlusskommuniqué des Madrider Gipfeltreffens. Trotz der prominenten Platzierung des Themas Resilienz in beiden Texten handelt es sich hierbei aber offenbar nicht um eine inoffizielle, gleichsam versteckte vierte Hauptaufgabe, sondern um ein Werkzeug, um die Hauptanliegen der Allianz erfüllen zu können.



Breit gefasstes Sicherheitsverständnis

Das neu-alte Leitmotiv der Allianz für die kommenden Jahre lautet also die kollektive Verteidigung. Wohl bezieht sich das im Wesentlichen auf die Abschreckung und Abwehr eines möglichen russischen Angriffs auf NATO-Territorium. Nichtsdestoweniger geht aus dem Dokument deutlich hervor, dass kollektive Verteidigung nicht mehr nur auf die territoriale Integrität des Bündnisgebiets beschränkt bleiben wird. Stattdessen halten die 30 Verbündeten fest: „Die NATO ist entschlossen, die Freiheit und Sicherheit der Verbündeten zu garantieren. Ihr Kernziel und ihre Hauptverantwortung bestehen darin, für unsere kollektive Sicherheit einzustehen, gegen sämtliche Bedrohungen aus allen Richtungen.“ Der konzeptionellen Weitung des Begriffs der kollektiven Verteidigung liegt ein breit gefasstes Sicherheits- und Verteidigungsverständnis zugrunde. Gleich, aus welcher Richtung und in welcher Form die Mitglieder der Allianz eine potenzielle Bedrohung wähnen: Gemeinsam setzen sie dieser etwas entgegen.



Diese Interpretation sollte die erste deutsche Nationale Sicherheitsstrategie als Leitmotiv übernehmen – in Verbindung mit einem verstärkten Augenmerk auf Verteidigung und Abschreckung. Den Anstoß für diesen Ansatz lieferte Außenministerin Annalena Baerbock in ihrer Auftaktrede zum Beginn des Findungsprozesses der Nationalen Sicherheitsstrategie. In ihrem Vortrag im März dieses Jahres legte sie die Leitprinzipien für das Strategiedokument dar: „Sicherheit heißt erstens: Die Unverletzlichkeit unseres Lebens. Der Schutz vor Krieg und Gewalt, vor akuter, konkreter Bedrohung. Zweitens heißt Sicherheit, die Freiheit unseres Lebens zu schützen (…). Das dritte Element ist die Sicherheit der Grundlagen unseres Lebens.“



Hier finden sich die leitenden Gedanken und Hauptaufgaben des euroatlantischen Strategiekonzepts wieder: Die vornehmste Aufgabe eines Staates gegenüber seiner Bevölkerung ist die Gewährleistung der körperlichen und territorialen Unversehrtheit – hier im engen Verbund mit seinen Alliierten und Partnern. Alle weiteren Anliegen fügen sich unter dieses Ziel und sollten den Anspruch und Zweck haben, zur Erfüllung dieses Vorsatzes beizutragen.



Eine solche Priorisierung legt nahe, dass geografisch und funktional zugeschnittene Aufgaben wie die Abschreckung und mögliche militärische Abwehr Russlands oder aber internationale Stabilisierungseinsätze zum übergeordneten Ziel der kollektiven Sicherheit und Verteidigung beitragen. Gleiches gilt für all jene Anliegen, die sich unter dem Begriff der demokratischen Resilienz fassen lassen und die für die Sicherheit Deutschlands eine ebenso herausragende Bedeutung haben, wie sie es laut Strategiekonzept für die NATO-Verbündeten besitzen.



Sicherung der Nordostflanke

Abgeleitet aus dieser Aufgabenpriorisierung sollte Deutschland im strategisch-militärischen Sinne den Fokus auf die Absicherung Nordosteuropas legen, da das Bedrohungs- und Risikopotenzial Russlands gegenüber den Verbündeten entlang der Ostflanke auf absehbare Zeit am schwersten wiegt. Berlin wird seine bisherige Führungsrolle gerade in und für Litauen weiter ausbauen müssen – wie von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem ­Madrider Gipfel angekündigt.



Kern der deutschen Präsenz in Litauen bildet bislang einer von vier multinationalen Gefechtsverbänden im Umfang etwa eines verstärkten Bataillons (1200 bis 1500 Soldaten und Soldatinnen) im Rahmen der „enhanced Forward Presence“ (eFP) der NATO. Beim NATO-Gipfel in Warschau 2016 hatten sich die Mitgliedstaaten auf die Stationierung der eFP-Kräfte in Estland, Lettland, Litauen und Polen geeinigt, die in sechsmonatiger Rotation zur Verbesserung der alliierten Abschreckung gegenüber Russland beitragen sollten. Man möchte Moskau signalisieren, dass es sich selbst im Fall eines begrenzten militärischen Einfalls in das Territorium eines der vier Verbündeten augenblicklich mit der gesamten NATO im Krieg befände, einschließlich der Nuklearmächte USA, Großbritannien und Frankreich.



Nicht nur der russische Krieg gegen die Ukraine, sondern auch die von Putin im Dezember 2021 formulierten ­Vorstellungen einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur geben der Allianz mit Recht Anlass zur Sorge. In Ultimaten an die USA und NATO forderte der Präsident unter anderem die Rückabwicklung der NATO-Erweiterung seit 1999 sowie einen de-facto (nuklearen) Rückzug der USA aus Europa.



Im Lichte dieser Gemengelage und der Kritik der Verbündeten daran, dass Deutschland bislang zu wenig an der Nordostflanke getan habe, hat Berlin sich bereit erklärt, seine Unterstützung für Litauen weiter auszubauen. Den bisherigen Plänen zufolge soll die Bundeswehr eine Kampfbrigade zur Verfügung stellen und anführen. Auf dem NATO-Treffen in Madrid beschlossen alle 30 Verbündeten, dem deutschen Vorstoß zu folgen, indem sie im Kommuniqué festhielten: „Die Verbündeten haben sich verpflichtet, zusätzliche robuste, kampfbereite Streitkräfte vor Ort an unserer Ostflanke einzusetzen, die von den bestehenden Kampfgruppen auf Brigadengröße aufgestockt werden sollen, wo und wann immer es erforderlich ist.“



Deutschland als „Rahmennation“

Dass die NATO dem deutschen Beispiel gefolgt ist, sollte Berlin ermuntern, nicht nur im Falle Litauens eine Führungsrolle an- und einzunehmen. In diesem Zusammenhang kann eine Wiederbelebung des von Deutschland in die NATO eingebrachten „Rahmennationenkonzepts“ als nützliche Brücke dienen, um die deutsche Rolle in der Allianz insgesamt zu stärken und sich zum politisch-militärischen Rückgrat des europäischen Pfeilers des euroatlantischen Bündnisses zu entwickeln.



Nach diesem Konzept stellt ein größerer Staat, eben die „Rahmennation“, die militärische Grundausstattung einschließlich Logistik und Kommandostruktur, und kleinere Staaten bringen Spezialfähigkeiten wie etwa Luftabwehr ein. So ergibt sich ein kompletter militärischer Verbund, ohne dass alle europäischen NATO-Staaten sämtliche Fähigkeiten vorhalten müssen. Dabei sollte Berlin allerdings darauf hinwirken, dass nicht nur die Bundeswehr zum Gerüst europäischer Verteidigung wird, sondern dass hier auch Streitkräfte der Verbündeten eine maßgebliche Rolle spielen. Diese Schritte sollten in enger Ab- und Rücksprache mit den europäischen Partnern erfolgen, insbesondere mit den mittel- und osteuropäischen Verbündeten.



Nur mit einer substanziellen Stärkung der europäischen NATO-Militärkomponente kann es mittelfristig gelingen, für die Vereinigten Staaten ein Partner auf Augenhöhe zu werden. Schließlich ist absehbar, dass die Amerikaner ungeachtet ihres derzeit erhöhten Engagements für NATO-Europa den strategischen Schwerpunkt auf den asiatisch-pazifischen Raum legen werden.



Um die amerikanischen Verbündeten davon zu überzeugen, trotz und neben der Konzentration auf China weiterhin ein verlässlicher (nuklearer) Garant für Europa zu bleiben, müssen die europäischen Verbündeten ihre strategische Verantwortung wahrnehmen und die entsprechenden konventionellen Mittel zur Verfügung stellen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 73-78

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Dr. Aylin Matlé ist Research Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).