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01. Mai 2005

Stärke durch Anpassung

Integrator und Vermittler: Deutschlands Rolle in der NATO

Die Bedeutung der NATO nimmt kontinuierlich ab. Doch trotz der divergierenden Wahrnehmungen des Bündnisses in Europa und Amerika bleibt die Allianz ein wichtiges transatlantisches Instrument, das dringend benötigt wird. Was ist also zu tun, um die NATO wieder zu stärken? Und welche Aufgaben sollte Deutschland in diesem Prozess übernehmen?

Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 12. Februar 2005 hat in Deutschland die Diskussion darüber intensiviert, wie sich die NATO verändern muss, um wieder ein Ort für die sicherheitspolitischen Debatten zwischen Europa und Amerika zu werden und gleichzeitig ein schlagkräftiges Bündnis zu bleiben. Dabei ist nicht allein die NATO-Organisation gefordert. Vielmehr kann die Allianz nur stark bleiben, wenn auch ihre Mitgliedstaaten ihre Sicherheitspolitik analog zur NATO an die neuen Strukturen des internationalen Systems anpassen.

In der Vergangenheit hat die Bundesrepublik diese Anpassung geleistet und parallel die Strategiediskussionen der NATO wesentlich beeinflusst. Bis zum Ende des Kalten Krieges, in dem Deutschland im Ernstfall bis zu 1,3 Millionen Soldaten gestellt hätte, waren beispielsweise die Bereiche Verteidigung, Rüstungskontrolle und Entspannungspolitik die dominanten Themen im Bündnis. Sie fanden ihre Entsprechung in den heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Nachrüstung (zum Beispiel um den NATO-Doppelbeschluss) und die Ostpolitik.

Nach dem Ende des Kalten Krieges durchlebte die Allianz in den neunziger Jahren einen Prozess langer und mühsamer Diskussionen, in deren Zentrum die Themen Öffnung der NATO, „Out of Area“-Einsätze, das Konzept des Zusammenwirkens mit anderen Institutionen („interlocking institutions“) und neue Einsatzfelder im Rahmen der Friedenserhaltung und -erzwingung bis hin zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus standen. Gleichzeitig war diese Neuausrichtung, die schließlich im Strategischen Konzept von 1999 festgeschrieben wurde, die notwendige Reaktion auf die neuen Aufgaben, mit denen das Bündnis ganz automatisch im Zuge der jugoslawischen Auflösungskriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina und durch die Beitrittsbestrebungen Ungarns, der damaligen Tschechoslowakei und Polens konfrontiert wurde.

Deutschland, das noch bis 1994 verfassungsrechtliche Einschränkungen für Auslandseinsätze besaß und dessen Streitkräfte (einschließlich jener der Nationalen Volksarmee) nach 1990 von der ausschließlichen Bündnis- und Landesverteidigung auf Kriseneinsätze umgestellt werden mussten, hatte selbst schon frühzeitig die Weichen für diese neuen Aufgaben gestellt und im Weißbuch von 1994 dargelegt. Den regierenden Christdemokraten war bewusst, dass das wiedervereinigte Deutschland nur dann seine volle Verantwortung für die eigene Sicherheit und jene Europas wahrnehmen kann, wenn es wie andere europäische Staaten ebenfalls an militärischen Missionen der UN, der NATO oder potenziell der Westeuropäischen Union (WEU, später der EU) teilnehmen könne. In der Folge beteiligte sich Deutschland an allen Operationen der NATO auf dem Balkan und stellte schließlich bedeutende Anteile an der Stabilisierungsmission SFOR in Bosnien.

Diese Rolle wurde auch von der sozialdemokratisch-grünen Bundesregierung ab Herbst 1998 übernommen. Unter dieser beteiligte sich Deutschland 1999 an dem ohne UN-Mandat geführten Krieg der NATO gegen das ehemalige Jugoslawien, wobei die Bundesregierung diese humanitäre Intervention in der Allianz und gegenüber der deutschen und internationalen Öffentlichkeit bereits im Vorfeld des Krieges engagiert verteidigte. Im Nachgang stellte Deutschland den ersten Kommandeur von KFOR und bis heute ihre größten Kontingente.

Auch die strategisch mindestens so bedeutende Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten hat Deutschland anfangs zögerlich, später jedoch entschlossen befürwortet. Denn auch wenn die Besorgnis, Russland könnte ein solches Anliegen nicht tolerieren, bei vielen Entscheidungsträgern noch lange anhielt, war doch eindeutig, dass eine volle NATO-Mitgliedschaft der mitteleuropäischen Länder ganz im Interesse der Bundesrepublik lag. Strategisch ergab sich 50 Jahre nach Kriegsende die Möglichkeit, die Randlage in der Allianz aufzugeben und gleichzeitig analog zur Wiedervereinigung Deutschlands die Wiedervereinigung Europas in Frieden und Freiheit zu erreichen.

Gegenwärtige Strukturen und Konfliktlinien

Diese 1997 auf dem NATO-Gipfel in Madrid beschlossene Öffnung der NATO ist nun mit der letzten Erweiterungsrunde auf 26 Staaten, der pa-rallelen Erweiterung der EU auf 25 Staaten und weiteren Zusagen für Rumänien, Bulgarien und Kroatien sowie der Beitrittsperspektive für die übrigen Balkan-Staaten und für die Türkei nahezu abgeschlossen. Außerdem haben die Entwicklungen zuletzt in der Ukraine gezeigt, dass der wesentliche Antrieb für Veränderungen in den Gesellschaften, die in Nachbarschaft zur NATO oder EU leben, die Attraktivität der Europäischen Union ist.

Während bei Polen, Tschechien, Ungarn und den baltischen Staaten das Sicherheitsbedürfnis in Anbetracht eines mächtigen russischen Nachbarn noch eine wichtige Rolle spielte, hat für die Ukraine die EU-Mitgliedschaft klare Priorität. Gleiches gilt für die Staaten des Westbalkans und zukünftig auch für Moldau und Weißrussland, sobald diese Länder einen Demokratisierungsprozess durchlaufen werden. Europa kann das Ziel eines „Europe whole and free“ (Präsident Bill Clinton) dank der Attraktivität und der Magnetkraft der EU zunehmend ohne amerikanische Unterstützung verfolgen.

Während diese strategische Klammer an Bedeutung verliert, sind infolge des 11. September 2001 zusätzlich Bewertungsunterschiede von Bedrohungsszenarien aufgetreten, die das gemeinsame Entscheiden und Handeln in der Allianz erschweren. Denn obwohl die im Strategischen Konzept von 1999 aufgeführten Gefahren wie Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, ethnische Konflikte, Staatszerfall und internationaler Terrorismus nach wie vor bestehen und auch Eingang in die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA vom September 2002 und in die Sicherheitsstrategie der EU (ESS) vom Dezember 2003 gefunden haben, besteht in der Allianz eine unterschiedliche Ansicht darüber, wie auf diese Gefahren – vor allem auf die Verbindung zwischen Terrorismus und Massenvernichtungswaffen – zu reagieren ist. Zwar herrscht Einverständnis, dass keinem Staat zugemutet werden kann, zunächst einen schweren terroristischen Angriff hinzunehmen, bevor er sich wehren darf und auch, dass Abschreckung gegen solche Gefahren nicht hilft. Unklarheit besteht jedoch bezüglich der Frage, wann vorbeugendes Handeln erlaubt ist.

Die amerikanische Regierung hat in der NSS die Option der „preemptive strikes“ formuliert, die besagt, dass die USA künftig selbst dann bereit seien präventive Militärschläge durchzuführen, „wenn noch Unsicherheit über die Zeit oder den Ort eines Angriffs besteht“. Der Irak-Krieg war in diesem Sinne ein gewählter Krieg gegen eine potenzielle Bedrohung, die in einer möglichen Verbindung von Massenvernichtungswaffen im Irak und dem internationalen Terrorismus gesehen wurde.

In Europa und unabhängig davon, ob die Regierungen den Irak-Krieg unterstützten, besteht dagegen Konsens, dass eine lediglich potenzielle Gefahr kein Grund für einen Krieg sein darf. Doch während die EU in ihrer Sicherheitsstrategie keine Antwort auf diese Problematik gibt, haben einzelne europäische Staaten und auch die Vereinten Nationen konsensfähige Lösungen für das Problem massiver terroristischer Bedrohungen erarbeitet. Gemäß dem französischen Militärprogramm (2003–2008) beispielsweise ist ein Militärschlag legitim, wenn eine „explizite und überprüfbare Bedrohung“ besteht. Und  das Expertengremium zur UN-Reform konstatiert, dass die Legitimität von Präventivmaßnahmen davon abhängt, „ob glaubwürdig nachgewiesen werden kann, dass tatsächliche Gefahr droht (unter Berücksichtigung der Fähigkeit und auch des konkreten Vorsatzes) und ob ein militärisches Vorgehen unter den gegebenen Umständen als die einzig vernünftige Lösung erscheint“.

Deutschland hat zu diesem amerikanisch-europäischen Dissens bisher keine offizielle Position entwickelt. Stattdessen hat es bei der Ausarbeitung der ESS eine gemeinsame europäische Formulierung zu militärischen Präventivmaßnahmen verhindert. Die Veröffentlichung eines neuen ressortübergreifenden Weißbuchs zur Sicherheit der Bundesrepublik (das letzte datiert von 1994), das entsprechende Antworten auf Maßnahmen gegen terroristische Bedrohungen liefert, wird seit Jahren verschoben.

Die NATO – politisches Bündnis oder militärische „tool-box“?

Eine weitere Entwicklung betrifft die unterschiedliche Wahrnehmung der Allianz und ihrer Strukturen einerseits als politisches Bündnis von Amerikanern und Europäern und andererseits als ein Pool von militärischen Fähigkeiten, aus dem wie aus einem Werkzeugkasten („tool-box“) die notwendigen Instrumente herausgenommen werden.

Die zweite, hauptsächlich in den USA anzutreffende Sichtweise geht vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Kosovo-Krieg davon aus, dass langwierige Abstimmungsprozesse in der Allianz und die mühsame Rücksichtnahme auf Alliierte, deren militärische Relevanz beschränkt ist, den Erfolg einer Mission mehr gefährden als sicherstellen. Dies war der Grund, warum die USA auf die Nutzung der NATO für ihren Feldzug gegen die Taliban und Al-Qaida in Afghanistan verzichteten, obwohl diese am 4. Oktober 2001 als Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September erstmalig den Bündnisfall ausgerufen hatte. Stattdessen schmiedeten sie für die Operation Enduring Freedom in Afghanistan eine „Koalition der Willigen“ mit jenen Staaten, die über nützliche mi-litärische Fähigkeiten verfügten. Deutschland beispielsweise nahm mit einigen Dutzend Spezialkräften an dem Einsatz teil.

Demgegenüber war im Fall des Irak aufgrund der unterschiedlichen Lage- und Bedrohungsanalyse im Bündnis ein Einsatz der NATO ausgeschlossen. Dennoch gab es vor dem amerikanischen Angriff und in der jetzigen Stabilisierungsphase erhebliche, nicht zuletzt deutsch-amerikanische Differenzen. Sie zeigen, dass einige Europäer geneigt sind, dem amerikanischen „Tool-box“-Ansatz einen umgekehrten Ansatz des „pick and choose“ entgegenzustellen. Beispielsweise ließ Deutschland im Vorfeld des Irak-Kriegs erkennen, dass es eigene Offiziere aus den AWACS-Aufklärungsflugzeugen abziehen würde, wenn diese bei ihren Flügen über die Türkei Aufgaben wahrnähmen, die der amerikanischen Kriegsvorbereitung nützten. Bis heute weigern sich Deutschland und andere Staaten, ihre Offiziere aus integrierten NATO-Stäben für die auf dem Gipfel in Istanbul 2004 beschlossene Ausbildungsmission auch im Irak einzusetzen, weswegen der Umfang der Ausbildung in Bagdad reduziert werden musste.

Die kostbare militärische Struktur der Allianz kann jedoch nur beibehalten werden, wenn sich alle Mitgliedstaaten als Minimum mit ihren integrierten Fähigkeiten und Kräften an gemeinsam beschlossenen Aktionen beteiligen. Die USA wiederum hatten nach ihrem Sieg dafür geworben, dass die NATO Teil des Besatzungsregimes werden und einen Sektor im Irak übernehmen solle. Damit riskierten sie die Glaubwürdigkeit der NATO in der arabischen und muslimischen Welt. Es ist jedoch die Bedeutung der NATO als ein Bündnis der Amerikaner und Europäer, die Einsätze im Auftrag der UN wie die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan, an der sich Deutschland mit derzeit 2000 Soldaten beteiligt, zu ermöglichen. So erklärbar diese Verhaltensweisen aufgrund der politischen Umstände sein mögen, letztlich zeigen sie divergierende Ansichten über den Zweck und die Zukunft der Allianz. Deswegen ist anzunehmen, dass diese Auffassungsunterschiede trotz der deutsch-amerikanischen Wiederannäherung und des Deutschland-Besuchs von Präsident Bush bestehen bleiben.

Europäische und amerikanische Effizienz

Berechtigt ist die amerikanische Kritik an den mangelnden Fähigkeiten der Europäer, deren militärische Bedeutung für Einsätze im oberen Leistungsspektrum zunehmend in Frage steht. Dabei sind weniger die geringen Verteidigungsetats das Problem, als vielmehr die Ressourcenvergeudung zugunsten einer nationalen Organisation der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

2003 gaben die 17 europäischen NATO-Staaten 220 Milliarden Dollar für Verteidigung aus (Deutschland aktuell rund 23 Milliarden Euro), was immerhin mehr als 50 Prozent des damaligen amerikanischen Budgets von 400 Milliarden Dollar entspricht. Gleichzeitig hatten die Europäer, trotz ihrer regionalen Beschränkung auf Europa und seine Nachbarschaft, mit 2,2 Millionen Mann deutlich mehr Soldaten unter Waffen als die USA mit 1,4 Millionen.

Insgesamt liegt die Effizienz der Europäer jedoch bei einem Bruchteil des amerikanischen Niveaus. Die Bundeswehr zum Beispiel steht mit ihren knapp 7000 Soldaten im Einsatz (bei einer angestrebten Gesamtstärke von 250 000 Soldaten) in manchen Bereichen ebenso an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit wie ganz NATO-Europa mit aktuell rund 55 000 Einsatzkräften in Stabilisierungsoperationen. Die Beschlüsse des Prager Gipfels von 2002, zu denen neben dem Ziel einer militärischen Transformation neue Kommandostrukturen, die Schaffung der NATO Response Force (NRF) und eine neue Initiative zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten (Prague Capabilities Commitments) gehörten, sollten auf diese Entwicklung reagieren.

Tatsächlich werden die Initiativen von Prag dazu führen, dass zumindest in jenen Einheiten und Fähigkeiten, die die Länder für die NRF melden, eine qualitative Steigerung der europäischen Beiträge erreicht wird. Aufgrund angespannter Budgets in Europa ist allerdings abzusehen, dass die Bemühungen lediglich zu einer Umverteilung in den Haushalten und zu Unterfinanzierungen in anderen Bereichen der Streitkräfte führen werden. Deshalb verwundert es nicht, dass die Europäer bei der Erfüllung der Fähigkeitsvereinbarungen für die NATO und für die EU (Helsinki Headline Goals von 1999) hinter den selbstgesteckten Zielen zurückbleiben.

Annähernd im Plan ist Europa lediglich beim Luft- und Seetransport, der Luftbetankung und der ABC-Waffenabwehr. Wenn die NRF im Oktober 2006 ihre volle Einsatzfähigkeit erreicht, wird die NATO ein starkes, europäisch dominiertes Instrument für Kampfeinsätze erhalten. Es wird jedoch die grundsätzliche Schwäche der europäischen Streitkräfte vor allem bei der Durchhaltefähigkeit und bei der Verfügbarkeit geeigneter Streitkräfte nicht kompensieren.

In Bezug auf die NRF stellt der deutsche Parlamentsvorbehalt ein zusätzliches Problem dar. Er führt dazu, dass eine deutsche Zustimmung zu einem militärischen Einsatz im Nordatlantikrat erst gültig wird, wenn diesem auch der Deutsche Bundestag zustimmt. Da die NRF jedoch innerhalb von fünf bis dreißig Tagen nach einem Beschluss des Nordatlantikrats einsetzbar sein soll, wird die Entsendung der deutschen Kontingente bis zur Zustimmung des Bundestags verzögert. Verweigerte er diese, müssten die deutschen Beiträge durch andere Staaten ersetzt werden, was bei seltenen Schlüsselfähigkeiten nicht immer möglich sein wird. De facto ergibt sich so die gleiche Problematik wie bei den integrierten Strukturen der NATO, deren Funktion ebenfalls gefährdet ist, wenn ein Mitgliedstaat den Einsatz seiner Soldaten verweigert.

Autonomes Europa

Ein letztes Konfliktfeld resultiert aus der wachsenden Bedeutung, die die EU für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU-Mitglieder in der Allianz besitzt. Mit ihrer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die unter anderem einen europäischen Streitkräftepool von 60 000 Soldaten für EU-Einsätze vorsieht, sowie mit dem neuen Projekt der Europäischen Kampfgruppen (Battle Groups), die jeweils 1500 Soldaten umfassen sollen und innerhalb von zehn Tagen in ihre Einsatzorte verlegt werden können, hat die EU eigene militärische Ambitionen formuliert. Während der militärische Nutzen dieser Streitkräfte begrenzt bleibt, da sie sich aus den gleichen Streitkräften speisen wie der europäische Anteil der NATO („single set of forces“), ist der politische Nutzen bedeutend.

So versucht die EU einerseits zu demonstrieren, dass sie in der Lage ist, autonom ohne die USA zu handeln. Andererseits kann sie als Komplettanbieter für militärische, polizeiliche, ökonomische, juristische und sonstige Unterstützung auftreten. Militärisch wird die EU dabei in der Regel auf die Nutzung von NATO-Ressourcen gemäß dem Berlin-Plus-Abkommen angewiesen bleiben. Die Übernahme von SFOR durch die EU (EUFOR) war nur unter dieser Bedingung möglich, weswegen die Operationen EUFOR in Bosnien und KFOR im Kosovo weitgehend über die gleichen Kommandostrukturen der Allianz geführt werden. Die einzige autonome Operation der EU, ARTEMIS, zur Unterstützung der UN im Kongo, stützte sich dagegen fast ausschließlich auf nationale französische Strukturen und Planungen.

Deutschland, für das die europäische Integration und die transatlantische Partnerschaft die Eckpfeiler der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bilden, hat für dieses pragmatische Verhältnis zwischen den Institutionen geworben und wiederholt zwischen dem auf einem Primat der Allianz bestehenden Großbritannien und einem auf europäische Autonomie bedachten Frankreich vermittelt. Dass diese Ziele militärisch gut vereinbar sind, zeigt die Entwicklung der multinationalen Verbände. Die von Deutschland ausgehenden Gründungen des Eurokorps mit Frankreich, Belgien, Luxemburg und Spanien 1993, des Deutsch-Niederländischen-Korps 1995 und des Deutsch-Dänisch-Polnischen Korps 1997 haben allesamt sowohl zur Stärkung der europäischen Integration als auch der Allianz beigetragen.

Allerdings ist nicht zu leugnen, dass die in der späteren Diskussion revidierten Brüsseler Gipfelbeschlüsse Belgiens, Frankreichs, Deutschland und Luxemburgs vom 29. April 2003, die ein autonomes Hauptquartier der EU beinhalteten, gezeigt haben, dass es auch in Deutschland einflussreiche Anhänger für die Idee eines eigenständig handelnden Europas in einer multipolaren Weltordnung gibt. Die abschließenden EU-Beschlüsse zur ESVP und der deutsche Beitrag dazu bewiesen jedoch, dass für Deutschland letztlich eine europäische Sicherheitspolitik nur unter der Beteiligung Großbritanniens und mit einer komplementären und nicht konkurrierenden Beziehung zur NATO denkbar ist. Deutschland weiß nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen vor dem Irak-Krieg, dass eine europäische Sicherheitspolitik, die gegen die USA gerichtet wäre, die EU spalten und ein handlungsunfähiges Europa schaffen würde.

Gleichwohl sind Szenarien denkbar, in denen europäische Staaten Abwägungen treffen müssen, ob sie ihre Soldaten in autonome Einsätze der EU, beispielsweise in Afrika, entsenden, oder aber in NATO-Missionen in andere Teile der Welt. Die wachsenden militärischen Ambitionen der EU erfordern deshalb einen intensivierten strategischen Dialog in Europa und mit Amerika über die künftige Zusammenarbeit zwischen den Institutionen. Die gemeinsamen Sitzungen des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK) der EU mit dem Nordatlantikrat, bei denen eine große Schnittmenge europäischer Staaten letztlich mit sich selbst diskutiert und verhandelt, kann dafür langfristig keine Lösung sein.

Jenseits des Militärischen beweist die Kraft der EU, dass die Allianz künftig nur noch eine beschränkte Rolle in den internationalen Beziehungen spielen kann. Diese liegt vor allem dort, wo die Stabilitätspolitik von Amerikanern und Europäern auf militärische Unterstützung angewiesen ist oder eine konkrete Gefährdung ihres Territoriums vorliegt. Das Bündnis bleibt damit trotz seiner veränderten Rolle ein herausragendes transatlantisches Instrument, das dringend benötigt wird, da es durch nichts zu ersetzen ist.

Was ist zu tun?

1. Um die NATO als gemeinsames Instrument zu stärken, müssen die Mitglieder ein neues Verständnis dafür entwickeln, dass sie nur dann ein starkes Bündnis ist, wenn sie wieder ein Ort für gemeinsames Analysieren, Entscheiden und Handeln wird. Dies bedeutet, dass die sicherheitspolitische Lageanalyse und die Schlussfolgerungen für gemeinsames Handeln einschließlich des Themas Prävention gemeinsam in der Allianz erfolgen müssen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen muss Eingang in ein überarbeitetes Strategisches Konzept finden. Wie in der Vergangenheit muss Deutschland versuchen, eine integrierende Rolle innerhalb Europas und zwischen europäischen und amerikanischen Positionen einzunehmen. Deswegen muss es seinerseits die eigene nationale Willensbildung über die wichtigen Fragen vorantreiben und klare Positionen vertreten. Ein neues Weißbuch könnte dafür eine Referenz sein.

2. Allen Staaten muss bewusst sein, dass eine Reduzierung der NATO auf ihre militärische Struktur und ihre Fähigkeiten die politische Einheit der Allianz und damit das Bündnis insgesamt gefährdet, aber gleichzeitig alles unternommen werden muss, diese Fähigkeiten und die integrierte Struktur der Allianz zu schützen. Dabei dürfen Stabilisierungskräfte nicht gegenüber den schnellen Einsatzkräften vernachlässigt werden. Vielmehr ist sicherzustellen, dass auch für diese langfristigen Operationen, an denen Deutschland mit den größten europäischen Kontingenten beteiligt ist, die benötigten Ressourcen und Fähigkeiten bereitgestellt werden. Gleichzeitig muss sich frühzeitig darüber verständigt werden, wo in der Zukunft Einsätze notwendig sein könnten. Bereits jetzt sollte sich die NATO darauf vorbereiten, ein zukünftiges Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina militärisch abzusichern, wenn beide Parteien dies wünschen.

Um Deutschlands Bündnistauglichkeit zu sichern, muss das soeben beschlossene Parlamentsbeteiligungsgesetz überarbeitet werden. Der Parlamentsvorbehalt darf die uneingeschränkte Funktion integrierter Verbände und die Teilnahme der Bundeswehr an der NRF nicht beeinträchtigen.

3. Die Europäer müssen eine effiziente, an europäischen Erfordernissen ausgerichtete Sicherheitspolitik betreiben. Dafür müssen militärische Fähigkeiten gebündelt werden, die nationalen Streitkräfte eine europäische Arbeitsteilung vornehmen und in einigen Fällen integrierte europäische Fähigkeiten aufgebaut werden. Europa benötigt komplementäre Strukturen, in denen die Europäer in EU und NATO gemeinsam über ein breites und modernes Spektrum an Fähigkeiten verfügen.

Ansätze dafür bestehen bereits beim Aufbau des europäischen Seetransportkommandos sowie beim Lufttransportkommando, bei dem Deutschland die Führungsnation ist. Die gemeinsame deutsch-französische Pilotenausbildung für den Kampfhubschrauber TIGER ist ein weiteres Beispiel. Vor allem kleinere Staaten wie die Niederlande haben noch entschlossener gehandelt und sich in enge Abhängigkeiten zu ihren Nachbarn begeben. Ein radikalerer, aber notwendiger Schritt würde getan, wenn die Europäer ihre nationale Luftraumüberwachung einigen wenigen Staaten überließen, die länderübergreifende Kontrollzonen überwachen. Die übrigen Staaten könnten ihre Mittel dann in andere Fähigkeiten investieren, die in Europa dringend benötigt werden. Entscheidend wäre, dass die europäischen Lösungen einen Ersatz und keine Ergänzung zu den nationalen Fähigkeiten darstellen.

4. Die NATO muss klären, für welche Themen sie ein Forum für eine strategische Debatte zwischen Amerika und Europa sein will. Dies wird nicht auf alle transatlantischen Themen zutreffen. Sei es, weil ihnen der militärische Bezug fehlt, sei es, weil der operative Charakter von Verhandlungen mit externen Akteuren eine Diskussion im Kreis der 26 unmöglich macht oder weil sich offensichtlich kein Konsens erzielen lässt. Die Politik gegenüber Iran oder China kann auch einmal Thema in der NATO sein, aber es wäre nicht zweckmäßig, diese Themen vorrangig in der Allianz zu diskutieren.

Um dennoch bei den wichtigen Themen das Problem der großen Zahl im NATO-Rat zu bewältigen und eine verstärkte Abstimmung mit anderen Institutionen zu gewährleisten, sollte die NATO Arbeitsgruppen mit acht bis zehn Staaten einführen. In ihnen können konkrete Positionen vorbereitet werden, ehe sie dem NATO-Rat zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Zusammensetzung dieser Gremien könnte durch Wahl oder Rotation erfolgen. So würde gewährleistet, dass eine Arbeitsgruppe konsensfähige Vorlagen erstellt. Beispielsweise könnten Arbeitsgruppen zur Entwicklung der Beziehungen mit der EU, zum Mittelmeer-Dialog, zu den NATO-Russland Beziehungen oder anderen Themen entstehen. Der NATO mangelt es nicht an bedeutenden Themen, die sinnvoll in der Allianz diskutiert werden können, wenn dies die Staaten wünschen.

Bei vielen dieser Fragen kann Deutschland aufgrund seiner bilateralen Beziehungen eine Führungsrolle im Bündnis übernehmen. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung der NATO-Russland-Partnerschaft mit den wichtigen Themen Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Rüstungskontrolle, Kampf gegen internationalen Terrorismus und Stabilisierungspolitik im Kaukasus.

5. Europäer und Amerikaner müssen sich bewusst werden, dass die vordringliche strategische Herausforderung nach der fast vollendeten Einigung des Kontinents in einer Ausweitung der gemeinsamen Stabilitätspolitik über die Grenzen Europas hinaus besteht. Unverändert steht Europa vor der Wahl, die eigene Stabilität zu exportieren oder die Instabilität in ihrer Nachbarschaft zu importieren. Deswegen müssen zunächst die Programme im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) mit den Staaten des Kaukasus intensiviert werden, um diese Länder stärker in die euro-atlantischen Strukturen einzubinden. Die wichtigste Aufgabe für die USA und Europa ist allerdings die Stabilisierung der Region des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas, die auch eine Maßnahme im Kampf gegen den Terrorismus bedeutet. Als Mittel der Allianz sind dafür sowohl die Stabilisierungs- und Hilfseinsätze in Afghanistan und die Ausbildungsmission im Irak geeignet als auch die Intensivierung des Mittelmeer-Dialogs mit den arabischen Staaten in der Region und mit Israel. Die Zusammenarbeit mit den Ländern des Golf-Kooperationsrats ist ein weiterer Baustein dieser Stabilitätspolitik, der zudem zur langfristigen Rohstoffsicherung beitragen wird. Die Gipfelbeschlüsse von Istanbul weisen  also in die richtige Richtung und müssen in konkrete Projekte umgesetzt werden.

Die Erfahrung mit den Staaten Mittel- und Osteuropas hat gezeigt, dass auch die militärische Kooperation viel zum Gesinnungswandel der politischen und militärischen Eliten beitragen kann. Deswegen sind die NATO- Initiativen eine sinnvolle Ergänzung der zivilen Programme, die die USA und die EU in den Regionen haben.

6. Die Bundesrepublik muss bei dieser Anpassung der Allianz wie in der Vergangenheit eine führende Rolle einnehmen. Die beträchtlichen Beiträge zu den Stabilisierungsaufgaben der Allianz reichen allein nicht aus. Deswegen muss Deutschland seine eigene militärische Transformation noch entschlossener vorantreiben und bei seinen Partnern dafür werben, die europäischen Ressourcen effizienter zu nutzen. Gleichzeitig muss Deutschland seine enge Partnerschaft zu Frankreich einerseits und die guten Beziehungen zu den USA und den neuen Mitgliedern der Allianz und der EU, vor allem zu Polen, nutzen, ein gegenseitig stärkendes Verhältnis zwischen der EU und der NATO zu begründen. Der jüngste Besuch Präsident Bushs in Europa und Deutschland ist ein Beleg dafür, dass die amerikanische Seite zum Dialog bereit ist.

Die Partnerschaft Deutschlands mit der NATO war so erfolgreich, weil sich beide stets miteinander gewandelt und an die Veränderungen des internationalen Systems angepasst haben. Wenn sowohl die Allianz als auch die Bundesrepublik diese Anpassung entschlossen fortsetzen, wird man auch in den kommenden Jahrzehnten mit Blick auf die Allianz von einer transatlantischen Erfolgsgeschichte sprechen können.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 80 - 89.

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