Stadt contra Staat – eine neue Hierarchie?
Urbane Ballungsräume sind noch keine eigenständigen internationalen Akteure
Die Urbanisierung der Welt schreitet unaufhaltsam voran: Überall entstehen immer gewaltigere Agglomerationsräume, bereits die Hälfte der Menschheit lebt heute in Metropolen und städtischen Ballungszentren. Die Wirtschaftskraft solcher Zentren liegt deutlich über der mancher Nationalstaaten. Damit wächst auch ihr politisches Gewicht. Das macht sie jedoch noch nicht zu eigenständigen internationalen Akteuren.
Unverkennbar haben Städte im Laufe der letzten 50 Jahre an Bedeutung gewonnen: 1950 lebte lediglich ein Drittel der Weltbevölkerung in städtischen Ansiedlungen, heute wohnt bereits die Hälfte aller Menschen in urbanen Ballungszentren. In Europa beträgt der Anteil sogar 75 Prozent und in Nordamerika rund 80 Prozent.1 Die Sogkraft der Städte dürfte auch in Zukunft kaum nachlassen. Insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern entstehen in atemberaubendem Tempo neue urbane Gesellschaften – in einigen Fällen beinahe aus dem Nichts.2 Die Vereinten Nationen erwarten, dass in 30 Jahren fast zwei von drei Menschen auf der Welt in Städten zu Hause sein werden. In den aufstrebenden Ländern Asiens und Lateinamerikas entstehen zunehmend Megastädte mit über zehn Millionen Einwohnern. Dass Städte an Bedeutung gewinnen werden, ist in diesem Lichte unstrittig. Doch ist dies bereits gleichbedeutend damit, dass Städte wichtiger werden als Nationalstaaten?
Um sich einer Antwort zu nähern, muss der Kern der Fragestellung zunächst konkretisiert werden: „Wichtiger“ in Bezug worauf? Nationalstaaten sind per definitionem größer als die zu ihrem Verbund zählenden Städte und müssten bereits aus diesem Grund zugleich auch mächtiger – und damit wichtiger – sein. Auf der Ebene des Zentralstaats liegen zudem die übergeordnete Gesetzgebungskompetenz und das Gewaltmonopol. Die Fragestellung muss daher an dem konstitutiven Element des Nationalstaats ansetzen, d.h. an dessen Rolle als ultimativer Souverän nach innen und autonomer Akteur nach außen. Untersuchen müssen wir daher die Frage: Werden Städte den Nationalstaat als wesentlichen Akteur auf nationaler und internationaler Bühne ersetzen?
Ein kurzer historischer Rückblick
Bevor jedoch der Blick in die Zukunft gerichtet wird, lohnt ein Blick zurück, denn in den letzten 10 000 Jahren haben Siedlungsstrukturen unsere Entwicklungsgeschichte entscheidend geprägt. In den meisten Fällen wurde der Übergang von einer Stammeskultur zu einem Staatenwesen durch den Ausbau von dörflichen Siedlungen zu befestigten Städten begleitet und durch diese beschleunigt. Die Parallelität des Entstehens dieser beiden soziopolitischen Einheiten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Frage nach dem Primat von Nationalstaat oder Stadt durchaus durch die Jahrhunderte zieht. Beispiele hierfür sind die Auseinandersetzungen des Hochmittelalters zwischen dem Kaisertum und den reichsfreien Städten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation oder etwa der Aufstieg und Fall der Hanse, die in ihrer Blütezeit mächtiger war als sämtliche Anrainerstaaten von Nord- und Ostsee. Weitere Beispiele liefert die Macht der von kaufmännischen Oligarchien regierten Stadtrepubliken Genua und Venedig sowie – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – der Kampf um die politische Vormachtstellung zwischen dem städtisch-industriellen Bürgertum und dem sich vornehmlich auf Landbesitz stützenden Adel. Die uns heute so normal erscheinende Dominanz des Nationalstaats ist also möglicherweise nur eine vorübergehende Erscheinung.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Städte
Der heutige Urbanisierungsprozess unterscheidet sich freilich in zwei zentralen Aspekten von früheren Entwicklungen: Zum einen verläuft der Prozess überall auf der Welt, und zwar gleichzeitig. Zum anderen entstehen immer gewaltigere Städte und Agglomerationsräume. Im Raum Tokio wohnen heute mehr als 35 Millionen Menschen; vier weitere städtische Ballungsräume – Mumbai, New York City, Mexico City und São Paulo – zählen nach Angaben der Vereinten Nationen bereits rund 20 Millionen Menschen. Vor 1000 Jahren, also zu Beginn des europäischen Hochmittelalters, lebten auf der ganzen Erde nicht einmal doppelt so viele Menschen wie heute in diesen fünf Ballungszentren.
Stellte man eine gemeinsame Liste aus Nationalstaaten und großen Agglomerationsräumen auf und ordnete sie nach der Zahl ihrer Einwohner, erreichte die Region Tokio bereits Platz 34, oder anders ausgedrückt: 80 Prozent aller Staaten zählen weniger Einwohner als die Region Tokio. Gerade in den Industrienationen unterstreicht diese Rangliste einmal mehr die wirtschaftliche Bedeutung der Agglomerationen. So zählt der Großraum London mit seinen gut 7,5 Millionen Einwohnern zwar deutlich weniger Menschen als Schweden (rund 9 Millionen) oder Belgien (10,4 Millionen). Die Wirtschaftskraft Londons liegt jedoch um 15 Prozent oberhalb jener Schwedens und um ein Viertel höher als jene Belgiens.3 Allein in der Londoner Innenstadt wird ein höheres Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet als in ganz Portugal.
All diese Rechenbeispiele zeigen, dass große Städte häufig wirtschaftlich bedeutender sind als vergleichsweise kleine Staaten. Sie veranschaulichen jedoch noch nicht einen etwaigen relativen wirtschaftlichen und politischen Bedeutungsverlust der Nationalstaaten.
Nationale Grenzen sind keine wirtschaftlichen Grenzen mehr
Spätestens seit der industriellen Revolution bilden Städte zugleich auch die Zentren der Wirtschaftsräume. Bei der Analyse dieser Wirtschaftsräume fallen zwei Dinge auf: Zum einen gibt es zwischen den Regionen eines Landes nicht nur gravierende Unterschiede hinsichtlich ihrer jeweiligen Wohlstandsniveaus. Auch die nachhaltige Wachstumsdynamik ist mitunter sehr unterschiedlich. So lag z.B. die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (in Kaufkraftparitäten) im Landkreis München im Durchschnitt der letzten 15 Jahre fast 3,5 Prozentpunkte über dem deutschen Mittel von knapp 1,5 Prozent. Gleichzeitig ging die Wirtschaftsleistung in anderen Kreisen zurück – vornehmlich in Ostdeutschland. Auch expandierte die Wirtschaft im Landkreis München deutlich schneller als die Wirtschaft Madrids, obwohl die deutsche Wachstumsrate in diesem Zeitraum nur halb so hoch ausfiel wie jene der spanischen Wirtschaft. Offensichtlich profitierte der Landkreis München stärker von der lokalen Wachstumsdynamik, als er durch die gesamtdeutsche Wachstumsschwäche gebremst wurde. Diese Beobachtung ist keineswegs ein statistischer Ausreißer: Insgesamt entwickeln sich die europäischen Volkswirtschaften auf Landesebene homogener als einzelne Regionen in den jeweiligen Ländern.4
Zum anderen – und inhaltlich damit verbunden – weisen Wirtschaftsgeographien darauf hin, dass Wirtschaftsräume heute nicht mehr durch politische Grenzen bestimmt, sondern als Ländergrenzen übergreifende Räume definiert sind. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die so genannte „blaue Banane“, mit der Roger Brunet 1989 bildhaft den Aktivraum Europas, also den Raum mit der größten Wirtschaftskraft, bezeichnet hat. Dieser Raum krümmt sich von Manchester über London, die Benelux-Staaten, das Ruhrgebiet und die Schweiz bis nach Norditalien.5 Nach Überwindung der politischen Grenzen im Zuge der europäischen Einigung spielen nunmehr die wirtschaftlichen Grenzen zwischen Aktiv- und Passivräumen eine größere Rolle. Im konkreten Beispiel Brunets befindet sich innerhalb des Aktivraums ein regelrechtes Städteband. Dieses Band hat sich über viele Jahrhunderte durch die Verbindung der Städte untereinander entwickelt. Die historischen Handelswege zwischen diesen Industrie- und Dienstleistungszentren haben dabei die Bildung von Knotenpunkten verstärkt.
Natürlich wird das Bild der Banane, die sich durch Europa krümmt, nicht der Komplexität der europäischen Wirtschaftsgeographie gerecht. Es gibt andere, die blaue Banane schneidende und sie ergänzende Städteverbindungen. Der Begriff des blauen Sterns, der sich unregelmäßig über ganz Europa ausbreitet, spiegelt die Realität wohl eher wider. Darüber hinaus wäre es heute unangemessen, dieses Netzwerk der Städte und Regionen auf Europa zu beschränken. Sowohl die Güter als auch die Datenströme vernetzen schon seit geraumer Zeit Städte auf der ganzen Welt miteinander – entlang der Welthandelsrouten und Datenautobahnen. Doch auch in diesem Netz bilden Städte unweigerlich die entscheidenden Knotenpunkte heraus.
Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Letztlich führt ein Zusammenwirken von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten auf der einen und die Bereitschaft seitens der nationalen Politik, Macht abzugeben, auf der anderen Seite zu dieser Netzbildung. Die Machtverlagerung erfolgt dabei zweigeteilt. Zum einen werden nationale Kompetenzen an supranationale Institutionen (z.B. die Europäische Union) abgegeben. Dies beschleunigt den Abbau von Handelshemmnissen und den Ausbau einer grenzüberschreitenden Infrastruktur. Zum anderen werden in vielen kleinen Schritten mehr Freiräume für die Kräfte des Marktes zugelassen. Staatliche Monopole werden beseitigt und Regulierungen gelockert. Kapital, Arbeitskräfte, Waren und Dienstleistungen können heute leichter politische Grenzen überschreiten als in früheren Jahrzehnten – und sie tun dies vornehmlich auf den Trampelpfaden zwischen den Knotenpunkten. Dabei folgen sowohl die Inputfaktoren als auch die produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen zwei wichtigen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten: der Vorteilhaftigkeit der regionalen Arbeitsteilung sowie der Clusterbildung von Industrien.
Die Möglichkeiten der Städte, diese Entwicklung aktiv zu gestalten, sind jedoch begrenzt. Zwar fördern alle größeren Städte nachhaltig ihre Wirtschaft und ringen um die Ansiedlung neuer Unternehmen, indem sie Infrastrukturprojekte anschieben, günstiges Bauland ausweisen oder im Rahmen ihrer Handlungsspielräume Steueranreize bieten. All diese Maßnahmen berühren jedoch nur Facetten der komplexen Standortentscheidungen von Unternehmen. In Einzelfällen können sie sicherlich den Ausschlag geben. Vielfach sind die finanziellen Möglichkeiten der Städte jedoch zu gering, um große und vor allem auch dauerhafte Erfolge zu erzielen.
Wichtiger noch: Damit das Prinzip der Arbeitsteilung überhaupt zu seiner vollen Entfaltung kommen kann, bedarf es der Bereitschaft seitens des Nationalstaats, die Freiheiten des Marktzugangs zu gewähren. Ohne die Gewährleistung des freien Austauschs blieben komparative Standortvorteile ohne ökonomischen Wert.
Sobald der Staat jedoch einmal diesen Austausch ermöglicht hat, kommt es infolge der Arbeitsteilung zu einer Clusterbildung. Branchenzentren entstehen vornehmlich in Industrieländern, weil dort der Faktor Humankapital die derzeit knappste Ressource ist. Neue Unternehmen siedeln sich in der Nähe der etablierten an, um so leichter an branchenspezifische Experten zu kommen.6 Ein erfolgreicher Wirtschaftscluster übt darüber hinaus eine starke Sogwirkung auf Arbeitskräfte in anderen Regionen aus. London und New York City beispielsweise ziehen Finanzmarktexperten aus aller Welt an, denn für diese Hochqualifizierten bieten diese Städte derzeit die besten Entwicklungschancen. Damit steigt zugleich die Wahrscheinlichkeit, dass die Finanzinnovationen der nächsten Generation wieder in diesen bestehenden Zentren entwickelt werden. Der Cluster bleibt somit stabil.
Nun lässt sich das Argument der globalen Clusterbildung für New York City und London rasch nachvollziehen. Was bedingt jedoch die Entwicklung solcher Megastädte in Schwellen- und Entwicklungsländern wie Mexico City oder Mumbai? Diese Ballungsräume besitzen keine globale Spezialisierung und sind dennoch deutlich größer als London. Grundsätzlich gelten auch hier die ökonomischen Prinzipien unverändert. Allerdings weisen diese Städte drei zusätzliche Besonderheiten auf: Zunächst ist für Mumbai oder Mexico City ihre Funktion als regionaler Cluster ausschlaggebend. Diese Städte sind zwar keine Spezialisierungszentren auf globaler, wohl aber auf regionaler Ebene. Darüber hinaus geht es bei diesen Städten sehr häufig um absolute Vorteile – die zuwandernden Menschen sehen oftmals keine andere Wahl, als aus den ländlichen Regionen in die Städte zu fliehen. Schließlich wird ihnen häufig die Zuwanderung in die Wirtschaftszentren der Industriestaaten äußerst schwer gemacht. Umgekehrt bedeutet dies: Je höher die Anforderungen an die Arbeitnehmer sind, desto eher führt die Globalisierung dazu, dass nicht mehr allein national bedeutsame Cluster, sondern internationale Cluster entstehen. Die attraktivsten Städte ziehen die besten Köpfe an. Der viel beschworene Standortwettbewerb ist daher für Industrieländer in erster Linie ein Städtewettbewerb und – allenfalls davon abgeleitet – ein Wettbewerb der Nationen.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die einfache Dichotomie zwischen Ländern mit hochwertiger Produktion und Ländern mit einfacher Fertigung im Zuge der Globalisierung an Trennschärfe verliert. Längst hat sich beispielsweise Bangalore von einem Standort für einfache Datendienste zu einem beachtlichen IT-Cluster entwickelt. Und andere Städte folgen diesem Vorbild. Unser weltumspannendes Städtenetz dehnt sich dadurch nicht nur stetig aus, es ändert auch permanent seine Form. Auch dies ist eine Folge der Globalisierung.
Die politische Bedeutung der Städte wächst
Solange die Grenzen der globalen Wirtschaft offen bleiben, werden Städte an wirtschaftlichem Gewicht gewinnen. Steigt damit aber auch automatisch oder gar zwingend ihr politisches Gewicht – gar so weit, dass sie den Nationalstaat als dominanten Akteur auf der internationalen Bühne ersetzen?
Wenn (viele) Städte immer größer und wirtschaftlich stärker werden, dann ist es plausibel, dass auch ihr politisches Gewicht entsprechend größer wird. Dass eine große Stadt im politischen Diskurs eher Gehör findet als eine kleine Stadt, ist trivial – aber gleichwohl wichtig, weil es den Bestand des wirtschaftlichen Vorteils dieses Ballungszentrums sichern kann. Darüber hinaus ist es ebenfalls plausibel, dass Städte mit klaren Branchenclustern wesentlich erfolgreicher nationale Politik zu ihren Gunsten gestalten können als Städte ohne eine derart deutliche Ausprägung. Zusätzlich können Städte dann ihre Interessen besonders effektiv artikulieren, wenn auch die vertretenen Branchen vergleichsweise homogene und gleichlaufende Interessen haben. Das gilt beispielsweise für die deutsche oder die amerikanische Montanindustrie. Kohlesubventionen oder Einfuhrbeschränkungen werden dann auf nationaler Ebene nicht nur durch die Branchenvertreter, sondern auch durch die Kommunal- und Regionalpolitiker in den Branchenclustern verteidigt.
Weniger eindeutig hingegen ist, ob sich dieses politische Gewicht in der Innenpolitik auch in der Außenpolitik manifestiert – sei es in Form einer Art Neben-Außenpolitik durch die Stadt selbst, sei es in Form der Einflussnahme oder gar der Bestimmung des außenpolitischen Kurses der Zentralregierung.
Dass Städte eigenständige Akteure auf der internationalen Bühne wären, ist derzeit nicht erkennbar. Dass dominante wirtschaftliche Interessen jedoch maßgeblichen Einfluss auf die sie interessierenden Politikbereiche nehmen, ist offensichtlich – man denke z.B. an die Rolle, die die drei großen US-Automobilproduzenten auf die Position der USA bei Klimaschutz und Währungspolitik spielten oder an das Steuerprivileg ausländischer Investmentbanker in London. Allerdings: Erstens ist dieser Einfluss wirtschaftlicher Interessen, zumindest bisher, auf eng definierte Politikbereiche begrenzt, und zweitens zeigt sich hier weniger „die Stadt“ als vielmehr „eine Branche“ als handelnder Akteur. Für viele Felder der Außen- oder Verteidigungspolitik ist darüber hinaus zweifelhaft, ob Städte überhaupt ein sachlich zu rechtfertigendes Interesse an einer Übernahme dieser Aufgabenbereiche haben können. Diese Politikfelder stellen klassische öffentliche Güter bereit, die nur auf nationaler oder supranationaler Ebene effizient „produziert“ werden können. Hier kommunale Sonderwege anzustreben, würde letztlich nur zu höheren Gesamtkosten führen. Daher bleiben die nationalstaatlichen Institutionen in diesen Bereichen wohl auch in Zukunft tonangebend.
Schlussbemerkungen
Solange Nationalstaaten bereit sind, die Märkte und den Zugang zu ihnen international offen zu lassen oder sogar noch weiter zu liberalisieren, dürften Städte wirtschaftlich an Bedeutung gewinnen. Die Globalisierung wäre in diesem Szenario gleichsam der Taktgeber für das weitere Wachstum der Städte. Die Vernetzung findet global statt, die wirtschaftlichen Zentren bilden die lokalen Knotenpunkte dieses Netzes.
Städte und Regionen werden sich zwar auch in Zukunft nicht völlig von nationalen Konjunkturzyklen abkoppeln können und sich von wirtschaftspolitischen Richtungsentscheidungen emanzipieren. Gerade Städte mit einem international bedeutsamen Branchencluster können sich jedoch aus dem zuweilen engen Korsett der nationalen Konjunktur befreien. Dies liegt in erster Linie daran, dass der mit Abstand wichtigste Standortfaktor für diese Cluster die Verfügbarkeit von hoch qualifizierten Arbeitnehmern ist. Je intensiver darüber hinaus der Standortwettbewerb zwischen ähnlichen Branchenclustern in anderen Ländern ist (z.B. zwischen London oder New York City), umso eher könnte sogar die konkrete Standortpolitik zu Gunsten einer Stadt zur nationalen Aufgabe werden, die wohlgemerkt von dem Nationalstaat selbst und nicht von der betroffenen Stadt zu lösen sein wird.
Für die Megastädte der Entwicklungs- und Schwellenländer ist in den kommenden Jahrzehnten mit nahezu ungebremstem Wachstum zu rechnen. Produktivitätsfortschritte in der Landwirtschaft und wirtschaftliche Dynamik in den Städten werden weiterhin für eine massive Zuwanderung aus den ländlichen Regionen sorgen. Das Beispiel Tokio zeigt zwar, dass Ballungsräume mit 35 Millionen Menschen durchaus effizient arbeitende Wirtschaftsentitäten sein können. Dies ist aber nur möglich, weil eine moderne und belastbare kommunale Infrastruktur sowie zuverlässige politische Institutionen existieren. Damit die wirtschaftliche Entwicklung in den aufstrebenden Städten Asiens, Lateinamerikas oder Afrikas nicht an ihre Grenzen stößt, müssen diese unerlässlichen Vorbedingungen gewährleistet sein. Sie dürften die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte für diese Regionen darstellen. Die oben angesprochene weitere Öffnung der Märkte stellt dann eine flankierende Maßnahme seitens der Nationalstaaten dar, denn sie erlaubt den Städten in Entwicklungs- und Schwellenländern einen höheren Wachstumspfad.
Städte sind in wirtschaftlicher Hinsicht bereits heute von zentraler Bedeutung für die jeweiligen Nationalstaaten. Auch dürfte ihr wirtschaftspolitisches Gewicht zunehmen. Dafür sind sie jedoch in mehrfacher Hinsicht auf nationalstaatliche Hilfe angewiesen: Zum einen müssen die Zentralstaaten die wirtschaftliche Liberalisierung weiter vorantreiben. Zum anderen müssen sie auch künftig wichtige politische Felder (wie die Außen- und Verteidigungspolitik) besetzen. Hier ist mittelfristig nicht zu erwarten, dass Städte diese Aufgaben übernehmen werden oder dies überhaupt wollen. Eine (außen-)politische Dominanz von Städten ist daher nicht zu erwarten. Eine neue Hanse wäre allenfalls dann realistisch, wenn ein oder mehrere Zentralstaaten die ihnen obliegenden übergeordneten Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten.
Dr. JOSEF ACKERMANN, geb. 1948, ist Vorsitzender des Vorstands und des Group Executive Committee Deutsche Bank AG.
- 1Gemäß der Definition der Vereinten Nationen zählen hierzu nicht nur die Städte in ihren administrativen Grenzen, sondern auch deren dicht besiedeltes Umland. Städte selber werden definiert als geschlossene Orte mit einer bestimmten Mindestgröße, die zentrale Funktionen in Handel, Kultur und vor allem in der Verwaltung übernehmen.
- 2So hat sich beispielsweise die Bevölkerungszahl der bolivianischen Stadt El Alto seit 1992 auf über 800 000 Einwohner im Jahr 2006 verdoppelt.
- 3Wirtschaftskraft wird gemessen in Kaufkrafteinheiten des Bruttoinlandsprodukts.
- 4Als Maß hierfür dient die Standardabweichung zwischen den Wachstumsraten der Regionen; also zwischen den Teilregionen eines Landes auf der einen Seite sowie zwischen den Staaten auf der anderen Seite.
- 5Roger Brunet: Les villes européennes, Rapport pour la DATAR, Montpellier 1989.
- 6Vgl. hierzu Paul Krugman: Geography and trade, Leuven 1991.
Internationale Politik 11, November 2006, S. 30-37