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05. Jan. 2018

Sondierungen für Europa

Wie die nächste Bundesregierung die EU vor dem Zerfall bewahren kann

Berlin muss überzeugende Antworten auf Macrons Reformvorschläge finden. Ebenso dringend sind europäische Kompromisse in drei großen Politikbereichen – Migration, Außenpolitik und Werteordnung –, damit sich die Spaltung der EU nicht weiter vertieft. Dafür muss die nächste Bundesregierung in größeren Zusammenhängen denken als zuvor.

Deutschland, die instabile Nation? Während die postamerikanische Welt immer unsicherer wird und Europa gespalten ist wie nie, scheint nun auch noch sein vielbeschworener „Stabilitätsanker“ auszufallen – just in dem Moment, in dem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das europäische Einigungsprojekt retten will.

Tatsächlich könnte die Berliner Regierungsbildungskrise aber eine Chance sein. In gewissem Sinne brächte Angela Merkel in einer dritten Großen Koalition (oder einer anderen Form der Kooperation) nicht nur die politischen Strömungen in Deutschland auf einen Nenner, sondern sendete auch ein Signal an die Nord- und Westeuropäer (durch die Fiskaldisziplin der CDU), an die Osteuropäer (durch die sozialkonservativen Positionen der CSU) und die Südeuropäer (durch die Betonung von Solidarität und europäischem Föderalismus durch die SPD unter Martin Schulz). CDU, CSU und SPD könnten einen „grand bargain“, eine umfassende Kompromisslösung, in drei Großbereichen finden, mit denen sie Deutschland den Weg zu einer Regierung und Europa einen Weg aus der Krise ebnen könnten: in der Migrationsfrage, bei dem Umgang mit Russland und der Türkei sowie dem Schutz einer regelbasierten Weltordnung. Zu welcher Regierung es am Ende in Berlin auch kommen mag, sie wird sich der Aufgabe, Europa vor der Erosion gerade in diesen drei Bereichen zu bewahren, nicht entziehen können.

Darüber hinaus muss die neue Bundesregierung eine Antwort auf Macrons Vorschläge zur Reform der EU finden. Das gilt insbesondere in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Ein simples Nein zu jeglicher Reform kann für die nächste Bundesregierung keine Option sein. Nach dem Wechsel von Wolfgang Schäuble in das Amt des Bundestagspräsidenten sind im Rahmen der Euro-Gruppe nun Veränderungen denkbar, die über reine Kosmetik hinausgehen. Das Mandat des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sollte erweitert werden, sodass dieser Euro-Ländern im Falle von besonders schweren Krisen mit Finanzhilfen zur Seite stehen kann.

Auch könnten Deutschland und Frankreich gemeinsame Anleihen ausgeben, um europäische Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Dabei muss es nicht um besonders große Summen gehen. Eine solche Maßnahme wäre vor allem ein wichtiges Zugeständnis an Macron. Es sollte Deutschland verhältnismäßig leichtfallen, weil es lediglich um Investitionen in Infrastruktur geht. Auch beim Thema eines eigenen Haushalts für die Euro-Zone könnte die neue Bundesregierung Paris entgegenkommen. Die Mittel könnten aus verschiedenen, bereits existierenden Finanztöpfen stammen, sodass Deutschland keine oder kaum zusätzliche Ausgabenlasten zu tragen hätte.

Das größte Potenzial für die Wiederbelebung Europas liegt aber in der Außenpolitik. Die Flüchtlingskrise, Russlands Annexion der Krim und die Angriffe von US-Präsident Donald Trump auf die liberale Weltordnung bedrohen die EU in ihren Grundfesten. Diese Krisen erfordern von der Europäischen Union neue, umfassende Kompromisslösungen. Die neue Bundesregierung wird in der beispiellosen Position sein, die EU im Rahmen dieser Kompromissfindungen wieder zusammenzubringen – auch, indem es die einzigartige deutsche Kompromisskultur auf die europäische Ebene transferiert. Mit einer Art „GroKo“-Geist sollten wegweisende Einigungen möglich sein.

Migration: zwischen „offenem“ und „geschlossenem“ Europa

Die Flüchtlingskrise hat Deutschlands Politik erschüttert und tiefe gesellschaftliche Risse hinterlassen. Es muss eine umfassende Lösung gefunden werden, die Grenzschutz und Rückführung abgelehnter Asylbewerber einerseits mit der Öffnung legaler Migrationswege und der Bekämpfung der Fluchtursachen in Afrika und dem Nahen Osten andererseits in Einklang bringt. Ein denkbarer Kompromiss zwischen CDU, SPD und CSU läge genau in diesem Spannungsfeld – und brächte auch die Frontstaaten Griechenland und Italien, die Liberalen in Berlin und Stockholm und die Skeptiker in Osteuropa zusammen. Die neue Bundesregierung hat die Chance, die Spaltung des Kontinents in Verfechter eines „offenen“ und eines „geschlossenen“ Europas in einer gemeinsamen Initiative zu überwinden: für ein europäisches Migrationsmanagement, das unseren humanitären Verpflichtungen nachkommt, Europa aber vor weiteren externen Schocks dieser Art schützt.

Um den europäischen Bürgern zu zeigen, dass es nunmehr das oberste Ziel der EU ist, ihre Außengrenzen zu schützen, sollte sich die neue Bundesregierung hinter Macrons Idee eines gemeinsamen Raumes des Grenzmanagements, Asyls und der Migration stellen. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) sollte durch Tausende von Fachleuten verstärkt werden, um den nationalen Behörden stärker unter die Arme zu greifen. Dies alles sollte durch sichtbare Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger ergänzt werden. Dazu gehören zusätzliche Befugnisse für die beschlossene europäische Staatsanwaltschaft und eine engere Zusammenarbeit der Geheimdienste.

Die Sicherung der Außengrenzen allein reicht jedoch nicht aus. Der Schlüssel zu einem breiteren Ansatz in der Migrationspolitik liegt im Prinzip der „Aufnahme gegen Rückübernahme“ („admission for readmission“), wie es im EU-Türkei-Abkommen von 2016 verankert ist. Auch wenn das Türkei-Abkommen in der Praxis derzeit keine Anwendung findet, könnten Deutschland und die EU weitere solcher Abkommen insbesondere mit Nigeria, der Elfenbeinküste, Guinea und dem Senegal abschließen. Diese Abkommen entziehen Schleppern die Existenzgrundlage und reduzieren unkon­trollierte Migration, weil sie die Anreize für illegale Migration aufheben. Gepaart mit einem modernen Einwanderungsgesetz schafft diese Maßnahme die Möglichkeit kontrollierter legaler Migration nach Europa und entlastet gleichzeitig die Transitländer.

Deutschland hat ein besonderes Interesse an dem Abschluss weiterer Abkommen dieser Art: Sie bieten eine Lösung für das Problem der zahlreichen abgelehnten Asylbewerber in der Bundesrepublik, die bislang nicht abgeschoben werden können. „Aufnahme gegen Rückübernahme“ kann langfristig allerdings nur dann funktionieren, wenn die EU ihre Entwicklungszusammenarbeit, Maßnahmen zur Friedenssicherung und Unterstützung bei der Regierungsführung im Rahmen einer breiter aufgestellten Partnerschaft mit Ländern im Nahen Osten, in Nordafrika und der Sahel-Zone zur Verfügung stellt.

Die politischen Lager der CDU, CSU und SPD könnten in einer solchen Partnerschaft einen annehmbaren Kompromiss finden – und ebenso würde eine große Zahl an EU-Mitgliedstaaten sich darin wiederfinden. Diese Abkommen können auch mit einer Koalition der willigen EU-Staaten abgeschlossen werden. Hilfreich ist womöglich, dass mit Bulgarien ein weiterer Frontstaat Anfang 2018 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.

Wenn Deutschland tatsächlich einen ernstzunehmenden Ansatz für die Bekämpfung von Fluchtursachen entwickeln will, sollte die Bundesrepublik sich für ein stärkeres europäisches Engagement im Nahen Osten einsetzen. In der Region klaffen amerikanische und europäische Interessen immer weiter auseinander, während Russland sein eigenes Süppchen kocht. So fand sich Berlin 2015 in der frustrierenden Lage wieder, zwar am stärksten von den Konflikten in der Region betroffen zu sein, aber keine Mittel zu haben, um diese zu entschärfen.

Inzwischen hat sich die Situation geändert. Nach der russischen Intervention in Syrien, der neuen Linie der Regierung Trump, Großbritanniens Brexit-Referendum und der Wahl Macrons eröffnet sich für die EU ein größerer Handlungsspielraum in der Region. Dabei sollte Europa auf eine möglichst ­rasche Deeskalation des Syrien-Konflikts setzen, die Entmachtung von Baschar al-Assad hintanstellen und stattdessen auf eine dezentrale politische Ordnung in Syrien drängen. Deutschland könnte konkrete Anreize zur Stabilisierung schaffen, indem es zusammen mit der internationalen Gemeinschaft in manchen Gegenden zwischen den lokalen Machthabern vermittelt und beim Wiederaufbau hilft. Außerdem kann Europa eine Teilaufhebung der gegen das ­Assad-Regime gerichteten Sanktionen in Aussicht stellen, insbesondere im Finanzbereich.

Es geht darum, so schnell wie möglich so viele Gebiete wie möglich zu stabilisieren. Deutschland und die EU müssen also die wenigen politischen Hebel identifizieren, mit denen sie ihren Einfluss auf die Konfliktlösung erweitern können. Sie ergeben sich erstens aus dem Wunsch Russlands, durch die EU zumindest eine indirekte Legitimation für die eigene Intervention in Syrien zu erhalten, und zweitens durch deutsche und europäische Stabilisierungs- und Wirtschaftshilfen. All das kann es jedoch nicht zum Nulltarif geben. Die Maßnahmen müssen dazu beitragen, Europa zu schützen.

Russland und die Türkei: rote Linien ziehen!

Russland und die Türkei verfolgen seit einigen Jahren alternative politische Ordnungsvorstellungen, mit gravierenden Auswirkungen für Europa. Wir brauchen eine Politik, die aus den Ländern Nachbarn macht, mit denen Europa leben kann. Dies kann nur eine Politik der roten Linien leisten: Dialog, wenn möglich – aber keine Scheu, Europa selbstbewusst vor Gefahren zu bewahren. Die bisherige Große Koalition in Berlin hat es geschafft, ein im Umgang mit Moskau tief gespaltenes Europa hinter gemeinsame Russland-Sanktionen zu scharen. Doch diese Politik steckt nun in der Sackgasse. Es ist weder gelungen, die Gewalt in der Ostukraine zu beenden noch mit Russland in der Libyen- und Syrien-Politik effektiv ins Gespräch zu kommen. Zudem vertraut man im Baltikum, in Polen oder anderen osteuropäischen EU-Ländern seinen westlichen Partnern nicht mehr. Wegen Nord Stream 2 gilt die Energiepolitik der Bundesrepublik in Italien als heuchlerisch, weil Rom gezwungen wurde, das eigene South-Stream-Projekt aufzugeben. In Osteuropa betrachtet man die Energiepolitik als unmoralisch, weil man sich nun noch verwundbarer gegenüber Russland fühlt. Nord Stream 2 muss deshalb mit der Europäischen Energieunion in Einklang gebracht werden. Andernfalls besteht die Gefahr, die EU noch tiefer zu spalten. Die kommende Bundesregierung sollte den Beziehungen zu Russland einen Rahmen geben, indem sie einerseits eine neue Initiative zur Deeskalation in der ukrainischen Donbass-Region, andererseits aber die strategische Rückversicherung der Osteuropäer in Angriff nimmt.

Friedenssicherung im Donbass

Im Ukraine-Konflikt hat Russland im September 2017 vorgeschlagen, UN-Blauhelme zur Friedenssicherung in die umkämpfte Region Donbass zu schicken. Das ist wahrscheinlich ein halbherziges und taktisches Manöver. Doch der Vorschlag bietet zum ersten Mal seit Jahren eine Chance auf Stabilisierung, und Europa hat ein unmittelbares Interesse am Einfrieren des Konflikts. Ohne militärische Friedenssicherung lässt sich dies nicht bewerkstelligen. Die neue Bundesregierung könnte also auf den russischen Vorschlag eingehen, aber eine größere Mission fordern, als sie Russland bislang anbietet. Sie sollte das gesamte Gebiet und nicht nur die Kontaktlinie zwischen prorussischen Rebellen und ukrainischen Einheiten abdecken.

Die Europäische Union sollte zudem einen EU-Sondergesandten für die Ukraine ernennen. Eine Persönlichkeit von der Statur eines Wolfgang Ischinger oder Martti Ahtisaari, die nicht für die Brüsseler Institutionen oder eine bestimmte europäische Regierung steht, könnte der Vertrauensbildung in dem Konflikt helfen und so dazu beitragen, dass er effektiv eingefroren wird. Die USA haben mit der Ernennung von Kurt Volker zum Sondergesandten für die Ukraine bereits vorgelegt.

Eine der großen Gefahren in der Ära Trump ist die Entstehung eines sicherheitspolitischen Vakuums, das es Russland ermöglichen könnte, die amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa auszutesten. Deutschland hat in den vergangenen Jahren mehr und mehr Verantwortung übernommen. Doch die weiterhin unzureichenden militärischen Fähigkeiten, die eher pazifistische Einstellung der Bevölkerung und der Mangel an strategischer Kultur sorgen dafür, dass das Land weiterhin zögerlich ist, wenn es um militärische Interventionen geht.

Etwas anders verhält es sich, wenn es um Landes- und europäische Verteidigung geht. Wenn die neue Bundesregierung ein deutliches Zeichen setzen will, dass sie kein gefährliches Vakuum im Osten zulässt und ihr die Einheit Europas wichtig ist, dann kann sie die Initiative für eine gemeinsame militärische Übung ergreifen. Das Vorbild dazu könnte „Reforger“ („Return of Forces to Germany“) sein, ein NATO-Manöver aus der Zeit des Kalten Krieges. Mit „Reforger“ simulierten die NATO-Verbündeten die Verteidigung der Bundesrepublik im Falle einer sowjetischen Invasion. Die neue Situation in Europa erfordert plötzlich genau diejenigen defensiven Fähigkeiten, die im Einklang mit der Tradition der Bundeswehr stehen. Stärker noch als die militärische Logistik steht dabei die Signalwirkung deutscher Führung für Europa im Mittelpunkt. Polen und Balten könnten mit einer „Reforger“- oder „­Reforbaltics“-Übung beruhigt werden, von der ein Signal der Kooperation zwischen West- und Osteuropäern ausginge.

In der Türkei-Politik sollte Deutschland eine Linie verfolgen, die das eigene europäische Interesse in den Vordergrund stellt. Der türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan ist für Europa unberechenbar geworden. Er ist sich seiner Machtmittel wie der Mobilisierung der türkischen Diaspora bewusst und scheut nicht davor zurück, sie einzusetzen. Der neuen Bundesregierung kommt eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, Europa vor solcher Volatilität zu schützen. Sie sollte die Vorteile, die die Türkei genießt – EU-Beitrittshilfen, gute Wirtschaftsbeziehungen und die Einnahmen aus dem Tourismus – mit der Respektierung europäischer Interessen verknüpfen. Gleichzeitig darf die Bundesregierung diejenigen Türken nicht vergessen, die keine Erdogan-Anhänger sind; das ist die Hälfte der türkischen Bevölkerung. Kontakte zur Zivilgesellschaft und zu freien Medien werden in Zukunft deshalb noch wichtiger.

Für eine regelbasierte Weltordnung: Revolution der Handelspolitik

Die aktuell größte Herausforderung für Europa ist Donald Trumps Angriff auf die liberale Weltordnung. Trumps Politik bringt diese Ordnung in Bezug auf Handel, Klima und Nichtverbreitung von Atomwaffen gefährlich ins Wanken. Natürlich kann Deutschland nicht allein den „Anführer der freien Welt“ ersetzen. Doch kann Berlin Errungenschaften verteidigen, die für die liberale Weltordnung von herausragender Bedeutung sind, und den Kritikern dieser Ordnung den Wind aus den Segeln nehmen. Deutschland profitiert mehr als jedes andere Land von dem liberalen Handelssystem, zugleich schätzen seine Bürger die soziale Marktwirtschaft. Die EU gilt vielen ihrer Kritiker als Verkörperung der zügellosen Globalisierung. Deshalb ist eine Revolution im handelspolitischen Denken notwendig: Statt Symbol des Freihandels sollte die EU zum Garanten des fairen Handels werden – und eine abermalige Große Koalition in Berlin wäre gut gerüstet, diesen Wandel zu gestalten.

Tatsächlich hängt die Ratifikation von Freihandelsverträgen – sei es mit Kanada, Vietnam, Mercosur oder Mexiko – von der Frage ab, ob Europas Bürger darin eine Gefahr oder eine Chance zur Linderung von Globalisierungs- folgen sehen. Das bedeutet, dass man die hohen europäischen Standards beim Umweltschutz und bei der Arbeitsgesetzgebung gegenüber äußeren Vertragspartnern aufrechterhalten und seine eigenen Bürger im gemeinsamen europäischen Markt vor Lohn- und Sozialdumping schützen muss. Auch der Schutz vor ausländischen Investitionen in Sektoren von strategischer Bedeutung gehörte zur Revolution der EU-Handelspolitik. Die Europäische Kommission hat hierzu im September 2017 Vorschläge vorgelegt, mit denen Brüssel Europas Unternehmen insbesondere vor der Übernahme durch chinesische Staatskonzerne schützen will.

Schließlich sollte Europa zu einer regulatorischen Supermacht des digitalen Zeitalters avancieren. Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte wurde maßgeblich von Unternehmen wie Amazon, ­Apple, Google und Facebook geprägt, die aufgrund ihrer Umsätze und ihres Einflusses auf einer Ebene mit großen Staaten angesiedelt werden können. Die Europäische Union ist der einzige Rechtsraum mit der Fähigkeit und nötigen Macht, die eigenen Werte und damit ihre Gesellschaften vor den negativen Auswirkungen des digitalen Zeitalters zu schützen. Die nächste Bundesregierung hat außerdem die Chance, wichtige Fortschritte in der europäischen Verteidigungspolitik zu erzielen. Auch in diesem Bereich ist die EU gespalten; aber Reformen sind möglich. So sollten die Verteidigungsausgaben von den Maastricht-Kriterien ausgenommen werden – eine Idee der etwas radikaleren Art aus den Reihen der SPD. Dies würde den Südeuropäern entgegenkommen und der EU-Verteidigungspolitik helfen, den vielen großen Worten nun endlich Taten folgen zu lassen.

Das Atomabkommen mit dem Iran verteidigen

Zudem muss die neue Bundesregierung das Atomabkommen mit dem Iran mit aller Entschlossenheit verteidigen. Es ist eine der größten Errungenschaften europäischer Diplomatie. Zerstören die USA das Abkommen, droht im schlimmsten Fall ein atomares Wettrüsten im Nahen und Mittleren Osten; auf globaler Ebene würde dies das Ende des Nichtverbreitungsregimes bedeuten. Kommt es zu einer amerikanischen Aufkündigung, muss Brüssel zusammen mit Moskau und Peking Washington diplomatisch isolieren und womöglich dem Iran einen Ausgleich für den erlittenen wirtschaftlichen Schaden anbieten. Hilfen der Europäischen Investitionsbank wären dann eine Option. Sollten die USA europäische Firmen mit Sanktionen für ihre Geschäfte mit dem Iran belegen, müsste die EU mit Gegensanktionen reagieren. Diese Politik würde jedoch viel Fingerspitzengefühl erfordern, um keinen Handelskrieg mit der Regierung Trump zu provozieren. Die EU könnte auch erwägen, es den europäischen Unternehmen zu verbieten, dass sie der amerikanischen Sanktionsgesetzgebung Folge leisten.

Um es ganz deutlich zu sagen: Keinesfalls lautet mein Vorschlag, dass die Welt „am deutschen Wesen genesen“ sollte. Dennoch meine ich: Ein neuer deutscher Geist des großen Kompromisses könnte dafür sorgen, dass Europa wieder ein Stück zusammenwächst und sich effektiver vor Gefahren schützt. Dafür muss die nächste Bundesregierung aber stärker in größeren Zusammenhängen denken als alle Regierungen seit Gründung der Bundesrepublik.

Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations (ECFR).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2018, S. 37 - 43

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