Servicestationen für Passageriten
Werkstatt Deutschland
Die spirituell verarmten europäischen Kirchen werden als Institutionen überleben. Denn die nächste Phase der Sinnsuche kommt bestimmt – auch hierzulande
Individualisierung – das war das Zauberwort der 80er und 90er Jahre. Einiges spricht dafür, dass der Zauber sich nunmehr verflüchtigt. Gewiss, der gesellschaftliche Trend der Individualisierung setzt sich fort, aber die Begeisterung darüber schwindet offenkundig dahin. Zu Beginn des Individualisierungsprozesses haben die meisten Menschen die Lösung aus den alten Bindungen – den Tyranneien von Gemeinschaften, Milieus und Großkollektiven – noch freudig begrüßt. Sie erweiterte den Raum für eigene Verantwortlichkeiten, für selbstbestimmte Biographien. Aber der jähe Zuwachs an Optionen barg auch Strapazen und produzierte Erschöpfungen. Die aus den kollektiven Bettungen entlassenen Einzelnen mussten sich permanent selbst entscheiden, besaßen dabei weder den Rückhalt noch die Orientierungsgewissheit der zurückgelassenen Solidargemeinschaften. Die Emanzipation erwies sich als anstrengend. Der fortwährende Zwang zur Originalität führte manchen in die Depression, in den Burn-out.
Etliche Erhebungen von Soziologen und Psychologen belegen bereits, dass alsbald die Lobgesänge auf die individualisierte Gesellschaft verstummen werden, dass stattdessen das Bedürfnis nach Ligaturen, Loyalitäten, Zugehörigkeiten, auch nach der Sicherheit einer stabilen Deutungs- und Sinnperspektive zunehmen wird. Die Moderne hat in den letzten 40 Jahren viel von solchen Traditionsstoffen aufgezehrt. Insofern werden diese knappen Ressourcen – um es im gefälligen marktwirtschaftlichen Jargon zu formulieren – in den nächsten Jahrzehnten massiv nachgefragt werden. Mehr noch: Nach allen Erfahrungen mit historischen Zyklen von Generations- und Mentalitätswechseln dürfte es keineswegs überraschen, wenn spätestens Mitte des nächsten Jahrzehnts nach einer dann langen Ära der Ideologieverdrossenheit, des Pragmatismus, des Ökonomismus und der sachrationalen Effizienz, des puren Utilitarismus also, sich abermals gemeinschaftszentrierte spiritualisierte Suchbewegungen aus der Mitte des deutschen Bürgertums zum Marsch nach einem neuen Monte Verità aufmachen.
Nun könnte eine Renaissance der Sinnsuche auch die klassischen Anbieter von Sinn, die christlichen Kirchen mithin, wieder zurück ins Spiel bringen. Die letzten Jahrzehnte waren nicht einfach für die katholische und evangelische Amtskirche in Deutschland. Seit den späten 60er Jahren nahm die Zahl der Gläubigen Jahr für Jahr gleichsam um eine Großstadt – also um jeweils mehr als 100 000 Menschen – ab. In kaum einem anderen europäischen Land wuchsen Misstrauen und Verdruss gegen die Einrichtung Kirche und ihre hierarchischen Anführer so stark wie in der Bundesrepublik. Vor allem in den 70er und 80er Jahren, in den Jahrzehnten der Individualisierung, war zornige, nicht selten hämische Kritik insbesondere an der katholischen Kirche in den nachwachsenden Kohorten des deutschen Bildungsbürgertums weit verbreitet. Und mit der deutschen Vereinigung wurden der Bundesrepublik schließlich noch die am weitesten entkirchlichten Regionen des alten Kontinents zugeführt.
Indes, die schlimmste Zeit für die Kirchen scheint vorbei zu sein. Die Aggressionen ihrer Gegner sind abgeflaut. Militante Kirchenfeindschaft ist auch unter dissidentischen Intellektuellen kaum mehr anzutreffen. Diesseits der großen Städte haben die beiden christlichen Kirchen ihr jahrhundertealtes Monopol auf Riten und Rituale an den freudigen oder traurigen Wendepunkten des menschlichen Lebens über alle Krisen bemerkenswert zäh hinweggerettet. Wenn die westdeutschen Bundesbürger heiraten, ihre Kinder in die Welt setzen, ihre Angehörigen zu Grabe tragen, bedienen sie sich nach wie vor des kulturellen Erfahrungsreichtums der amtskirchlichen Ritenexperten. Auch die philanthropische Professionalität der Kirchen wird geschätzt. Ebenso hoch im Ansehen, selbst bei bekennend säkularisierten Bürgern, stehen kirchliche Privatschulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen.
Als Servicestationen für überlieferte Passageriten und soziale Dienstleistungen sind die Kirchen in der gesellschaftlichen Kultur also sicher verwurzelt. Aber das ist es dann auch schon. Vom missionarischen Impetus der Religion wollen die Bundesbürger mehrheitlich verschont bleiben. Seit etwa 40 Jahren goutieren sie keine päpstlichen Belehrungen zur Lebensführung, Moral oder Sexualität mehr. Einen Wahrheitsanspruch der Kirchen lassen sie nicht gelten. Im Grunde erwarten die Bundesbürger mehrheitlich, dass die Kirchen sich nicht als Kirchen verhalten, dass das institutionelle Christentum sich seines genuin religiösen, also auch anstrengenden, provokativen, stacheligen, demonstrativ bekennenden und menschenfischenden Kerns entledigt. Und mehr oder weniger stillschweigend haben sich die beiden christlichen Amtskirchen dieser Erwartungsmentalität der individualisierten Gesellschaft gebeugt. Sie haben ihre Dienstleistungsfähigkeiten nach den Empfehlungen von McKinsey säkularisiert. Als Vermittler von Heilsvisionen, als Künder der Erlösung, als Botschafter der Transzendenz treten sie nicht mehr – jedenfalls nicht mehr selbstbewusst – auf. Die Kirchen sind kein leuchtender Ort der gemeinschaftlichen Zuversicht, gar der Ekstase und des Überschwangs, der kultischen Vitalität und seelischen Kraftquellen mehr. In gewisser Weise ähneln die früheren Volkskirchen den vormaligen Volksparteien. Diese wie jene sind sich des eigenen Projekts und Zukunftsversprechens nicht mehr sicher, wirken daher im Alltag mutlos, verzagt, ängstlich, sprachlos und ermattet. Sie können neue Anhänger nicht gewinnen, Zweifler nicht bekehren, Abtrünnige nicht halten, da sie erkennbar von sich selbst nicht mehr überzeugt sind. Sollte es also wirklich – sagen wir: im Jahr 2015 – zu einer neuen Heils- und Sinnbewegung kommen, dann werden die selbstsäkularisierten Kirchen das erwachende Transzendenzbedürfnis weder nutzen noch gar prägen können. Dazu fehlen ihnen die frohe Botschaft und eine lebendige Vision vom gelobten Land. Dafür mangelt es ihnen an Propheten, Magiern und Charismatikern.
Aber als Institution werden die Kirchen überleben. Es wird das institutionelle Christentum auch dann noch existieren, wenn die nächste jugendliche Such- und Sinnbewegung sich abermals den bürgerlichen Gegebenheiten angepasst hat und als Hoffnungsträger längst verschwunden ist. Und vielleicht ist das Beharrungsvermögen der Kirchen gar nicht wenig in einer Zeit, die durch die Erosion verlässlicher und erfahrungspraller Institutionen charakterisiert ist. Zumindest der immer breitere Rand von Überflüssigen und Leistungsunfähigen in der deutschen Humankapitalrepublik wird am Ende der Ausdünnung sozialstaatlicher Einrichtungen heilfroh sein, dass es zumindest noch die karitativen Hilfsleistungen der spirituell verarmten, aber bürokratisch intakten Kirchen geben wird.
Internationale Politik 4, April 2005, S. 78 - 79.