Selbstverschuldete Ignoranz
Warum uns unsere Fehlurteile über den Islam so lieb sind
„Die islamische Welt“, die wir zu kennen meinen, existiert nur in unserer Phantasie: Klischees und geradezu groteske Simplifizierungen haben das westliche Bild muslimischer Länder zu einem Zerrbild werden lassen, gegen das differenziertere Berichterstattung nichts mehr ausrichten kann. Rolex im Slum. Oder: die Unterschätzung der Kultur
Zu Beginn ein kleines Gedankenspiel: Wir setzen einen blütenweiß gewandeten Saudi samt Rolex-Uhr in eine überflutete Hütte im Slum von Jakarta, dann fliegen wir die malaysische Zentralbankchefin in den Jemen, und während sie dort nach einem Restaurant sucht, wo sie als unbegleitete Frau essen kann, haben wir reichlich Zeit, einen indischen Sufi als Verstärkung zu den Separatisten in Mindanao zu schicken, die ägyptische Feministin in ein paschtunisches Wehrdorf umzusiedeln und den Beiruter Leitartikler bei den deutsch-anatolischen Rentnern in Kreuzberg zu postieren. Zu guter Letzt nageln wir an dieses Panoptikum ein Schild mit der Aufschrift: die islamische Welt.
So ähnlich machen wir es jeden Tag. In unserer Vorstellung ist „die islamische Welt“ keineswegs nur eine Ansammlung von Ländern und Regionen, die durch einen gemeinsamen Glauben grob umrissen wird. Unsere Phantasie macht daraus Gesellschaften, in denen die Religion mehr Definitionsmacht besitzt als jedwede andere Kategorie. Ob Klasse oder Ethnie, Nation oder Stamm, Sitte, Kulturgeschichte, Demographie – all dies scheint zweitrangig gegenüber der Kraft des Islams. Unbewusst folgt dieses Denken eben jener fundamentalistischen Verführung, die wir im selben Moment wortreich geißeln.
In Wirklichkeit sind die Kulturen, die Lebens- und Geisteswelten der Muslime zwischen Kirgisien und Nigeria nicht minder heterogen als jene in der christlichen Welt. Warum befällt uns also beim Thema Islam diese wilde Lust der Verallgemeinerung? 90 Prozent aller staatlichen Hinrichtungen weltweit geschehen in China, und doch gesellt unser Denken dem Stichwort Todesurteil nicht automatisch das Adjektiv chinesisch (oder konfuzianisch) zu. Auf Ehrenmord klebt hingegen unverrückbar das Etikett: islamisch. Und wer sich den Hinweis erlaubt, dass Verbrechen im Namen der Ehre kulturelle Wurzeln haben, nicht religiöse, handelt sich rasch den Vorwurf der Verharmlosung ein. Warum eigentlich? Haben wir – die säkularen, entnazifizierten, TUI-gestählten Deutschen – vielleicht vor fremder Kultur mehr Respekt als vor fremder Religion? Wir entlasten die Kultur, wo sie archaisch daher kommt, und weigern uns standhaft anzuerkennen, dass der Islam auch eine fortschrittliche Rolle spielen kann; logisch ist das alles nicht.
Vielleicht muss man gesehen haben, mit welcher Leidenschaft in Pakistan (muslimische) Nichtregierungsorganisationen gegen die Ehrenmordpraxis ankämpfen um zu begreifen: Was uns entsetzt, entsetzt viele Muslime genauso. Im Wohnzimmer einer Familie, die einen Sohn verlor, weil er das falsche Mädchen liebte, war von Islam nicht die Rede. Sondern von Macht, von Grundbesitz, Reichtum und Einfluss: Die Mörder kamen aus der feudalen Kaste, sie ist in Pakistan eine Bastion der Ehrverbrechen. Aber wollen wir es so genau überhaupt wissen?
Die Worte-Polizei. Oder: der Mangel an Neugier
Örtliche Sittengeschichte, regionale Kultur und die jeweilige Ausprägung des Islams: All dies verschränkt sich in jedem Land anders. Ich habe vier Jahre in Malaysia gelebt, das hilft mir im Iran kaum weiter – wie sollte es auch? Aber weil wir die Vielfalt islamischer Lebenswelten verleugnen und ihre kulturelle Prägung ignorieren, hat sich im öffentlichen Diskurs eine Furcht erregende Gewissheit breit gemacht: Beim Thema Islam kann jeder mitreden. Tatsächlich verharren wir in einem Zustand selbstverschuldeter Ignoranz. Die Flut von Veröffentlichungen über islamische Länder in den deutschsprachigen Medien hat den Wissensstand der meisten Konsumenten auf geheimnisvolle Weise unberührt gelassen.
Nicht dass alle Beiträge schlecht wären, keineswegs! Oft sind da Kollegen am Werk, die kundig, viel gereist und erfahren sind. Aber es scheint eine geheime Absprache zwischen Medienproduzenten und Konsumenten zu geben, sich nur ja keine Neugier anmerken zu lassen. Keine Neugier auf das Leben jener 99 Prozent Muslime, die keine Terroristen sind; wenig Interesse zu erfahren, wie eine Gesellschaft funktioniert, in der jeder zweite unter 25 ist. In vielen Berichten scheinen die islamischen Länder nicht von realen, anfassbaren Menschen besiedelt zu sein, sondern von Prototypen: der verschlagene Mullah, die unterdrückte Frau, der Terrorist, der säkulare Dissident. Das sind Rollen von hohem Wiedererkennungswert, die Zahl der Akteure ist extrem überschaubar, und jede neue Folge der Serie hinterlässt das vage Gefühl, das alles doch irgendwie schon einmal gesehen zu haben.
Zur Vorbereitung meiner ersten Reise in den Iran las ich mich durch einen dicken Stapel von Zeitungsartikeln aus dem Archiv, lauter kundige Berichte von Iran-Kennern; nach tagelanger Lektüre war die einfachste meiner Fragen immer noch unbeantwortet: Wie leben die Leute da?
Westliche Berichterstatter sehen ihre Aufgabe in islamischen Ländern zumeist darin, Schandtaten zu enthüllen und anzuprangern. Mit gutem Recht. Über die Hintergründe von Terrorismus aufzuklären, über Korruption, Verletzung von Menschenrechten oder Unterdrückung von Frauen, das ist die Pflicht von Journalisten – und Hut ab vor allen Kollegen und Kolleginnen, die sich dabei in Gefahr begeben. Der Mangel an Pressefreiheit in den arabischen Ländern wie auch im Iran führt indes zu einem Stellvertretersyndrom: Die ausländischen Berichterstatter übernehmen eine Wächterfunktion, die eigentlich einheimische Journalisten ausfüllen müssten. Die Folge: Wir hören fast ausschließlich von den dunklen Seiten dieser Gesellschaften, fast nichts von ihren lichten. Es scheint sich um Gesellschaften zu handeln, wo jeder im permanenten Ausnahmezustand lebt, wo es keine uns geläufige Normalität gibt, keinen Alltag, der mit unserem irgendetwas gemein hätte, kein Glück, das mit unserem verwandt wäre.
Für die Wahrnehmung des Islams gilt in besonderem Maße eine Regel aus der Rezeptionsforschung: Medien bekräftigen vor allem vorhandene Einstellungen, schaffen selten neue. Stereotype sind gefräßige Gesellen, sie finden überall Nahrung, sie machen sich in Überschriften breit, auch wenn darunter ein differenzierter Artikel steht, sie reiten auf den Rücken von Büchern, weil Verlage glauben, das fördere den Verkauf. Steht man in einem Berliner Kulturkaufhaus vor dem Regal mit Büchern über islamische Länder, so befällt einen der Eindruck, es müsse eine Geheime Worte-Polizei geben; sie lässt für Titel nur Worte durch, die zwischen Orientsehnsucht und Islamfurcht hin- und herhinken.
Runde Rücken. Oder: die Überschätzung von Autorität
In unserer Wahrnehmung ist der Islam autoritär. Diese Ansicht ist verständlich, denn in jenem Ausschnitt, den wir beständig sehen, geht es in der Tat fast ausschließlich autoritär zu – inklusive jener illegitimen Gewalt, die keinen Widerspruch duldet: Bomben, Hinrichtungen, repressive Regime, unverständliche bellende Ansprachen in krachende Megaphone, patriarchalische Männermacht. Die Bildersprache unterstreicht den Eindruck, dass in dieser Religion einige wenige kommandieren und die Masse folgt. Wir sehen Fäuste schüttelnde Schreihälse und daneben die runden Rücken der sich Niederwerfenden in der Moschee.
Ist also die Erwartung nicht berechtigt, dass eine derart autoritär strukturierte Religion Schluss machen könnte mit dem religiös gerechtfertigten Terrorismus, wenn die muslimischen Oberhirten nur wirklich wollten? Ein Besuch an der Kairoer Al-Azhar-Universität belehrt rasch eines Besseren. Die Universität sowie die Institution des Azhar-Großscheichs gelten im sunnitischen Islam als wichtigste Instanz für Glaubensfragen. Als Großscheich Tantawi palästinensischen Selbstmordattentätern den Märtyrerstatus absprach, erntete er so lange Widerspruch von anderen Azhar-Gelehrten, bis er sich „korrigierte“ – so formulieren es fein die Kritiker. Und als Tantawi während des Irak-Krieges in einer Freitagspredigt nach Ansicht der Zuhörer zu sanft mit Amerika umging, unterbrachen ihn die Gläubigen in der Moschee mit wütenden Zwischenrufen: „Sprich die Wahrheit! Du bist der Großscheich!“ Man stelle sich vor, im Petersdom würden Frauengruppen den Papst lauthals zur Rechenschaft ziehen!
Im Vergleich zur Katholischen Kirche ist der sunnitische, also der Mehrheitsislam geradezu antiautoritär. Er kennt keinen Stellvertreter Gottes auf Erden, jeder darf den Großscheich kritisieren. Ein islamisches Machtwort, eine Enzyklika gegen die religiöse Rechtfertigung von Terrorismus kann es unter diesen Umständen nicht geben. Und eine Fatwa, ein islamisches Rechtsgutachten, ist nur eine religiöse Empfehlung, ihr zu folgen ist im sunnitischen Islam keine Pflicht. Der Gläubige kann andere Meinungen einholen, bis er eine für sich passende findet – eine überraschend pragmatische Seite des Islams.
Unsere Annahme, der Islam sei autoritär, ist in mehrfacher Hinsicht ein Missverständnis. Wir missverstehen die runden Rücken in der Moschee: Die Ästhetik ist uns verdächtig, diese ostentative Unterwerfung unter den göttlichen Willen kennen wir nur noch aus Kloster-Spielfilmen, wenn hadernde Jungmönche auf kaltem Marmorboden ihre Hormone kühlen. Die gleichförmigen Reihen runder Rücken in der Moschee erscheinen uns als Zeichen von Entindividualisierung, wir deuten sie leichtfertig als eine Bereitschaft zur Unterwerfung ganz anderer Art, zur Unterwerfung unter Willkürherrschaft und undemokratische Regime (jeder Muslim würde die Beziehung zwischen religiöser und weltlicher Unterwerfung vermutlich genau entgegengesetzt erklären). Unsere Fehlinterpretation religiöser Rituale ist sozusagen die Mutter aller weiteren Fehlurteile: Wir unterschätzen „den Durst“ nach Demokratie (eine Formulierung des jüngsten Arab Human Development Report) und die Wut auf die hauseigenen Regime, und weil wir dies tun, überschätzen wir zwangsläufig jenen Anteil der Wut, der sich gegen den Westen richtet.
Die Gleichförmigkeit der Moscheereihen beschwört noch ein weiteres Missverständnis herauf: Es gehe im Islam geordnet zu. Tatsächlich herrscht eine große Konfusion. Einem wachsenden Bedürfnis nach religiöser Orientierung steht eine gleichfalls wachsende Zahl von Antworten gegenüber. Durch Internet, Satellitenfernsehen und Telefonhotlines ist ein Fatwa-Wildwuchs entstanden; oft sind die Urheber von Rechtsgutachten nicht ausreichend qualifiziert, und manche neutral oder wissenschaftlich daherkommende Webseite wird von islamistischen Interpretationen dominiert.
Während wir erstaunlicherweise längst zu wissen glauben, was Islam bedeutet, wirft die globalisierte Kommunikation für Muslime selbst immer mehr Fragen auf. „Wir sind wie mitten in einem Aufruhr“, sagte mir die Vorsitzende des Nationalen Frauenrats im Jemen, „jeder ruft etwas anderes, wir wissen nicht, ob wir nach rechts, nach links, vor oder zurück gehen sollen.“ Zuvor hatte Rashida Al-Hamadani über Guantánamo, Abu Ghraib und die Frauenquote gesprochen, und dann sagte diese resolute, gebildete Mittfünfzigerin: „Ich war mein ganzes Leben lang nicht so verwirrt wie heute.“
Kronzeugin wider Willen. Oder: die missverstandene Rolle der Frauen
Kürzlich wagte eine muslimische Professorin für Islamwissenschaft in den USA einen Vorstoß: Sie leitete das Freitagsgebet, eine Versammlung von Männern und Frauen. Weltweit setzte unwilliges Raunen ein, auch der moderate Großscheich der Azhar in Kairo protestierte: Es gehöre sich nicht, wenn Männer während des Gebets den Körper einer Frau sähen. Um die gleiche Zeit herum wurde der Papst beerdigt, und die einzigen Frauen, die auf dem Petersplatz einen geistlichen Job zu verrichten hatten, waren zwei Nönnchen, die am Sarg Staub wischen durften.
In Thailand, wo die buddhistischen Mönche eine hoch geachtete Stellung haben, ist es Frauen per Gesetz verboten, die Robe zu tragen. In keiner der Weltreligionen sind Frauen spirituell gleichberechtigt. Trotzdem konzentriert sich unsere Empörung auf den Islam. Viele Musliminnen haben deshalb den Eindruck, dass der Westen sie in die Rolle von Kronzeuginnen gegen ihre eigene Religion drängt – und darauf reagieren sie sehr empfindlich.
Verallgemeinerungen sind immer gefährlich, aber aufgrund meiner Gespräche mit Frauen in sechs islamischen Ländern erlaube ich mir folgendes vorläufige Resümee: Für die meisten war Emanzipation und Islam kein Widerspruch; vom westlichen Gleichstellungsdenken unterschieden sie sich insofern, als sie mehr Unterschiede zwischen den Geschlechtern, auch Rollenunterschiede, für natürlich und gegeben erachteten, ohne daraus Statusunterschiede abzuleiten. Das größte Fehlurteil über Frauen im Islam ist die Verleugnung ihrer Stärke. Gemeint ist nicht jene Stärke, von der immer mal wieder orientalistisch gesäuselt wird: Die Musliminnen hätten zwar draußen nichts, aber zu Hause viel zu sagen. Gemeint sind Positionen in Beruf und Gesellschaft: Die Staatspräsidentin, die Chefredakteurin, die Firmenchefin, und manches andere, wozu es Frauen in Deutschland bisher noch gar nicht oder nur mit Mühe gebracht haben.
Ob im Iran, in Libyen oder Malaysia: Frauen stellen die Mehrheit an den Universitäten. Eine Generation bildungshungriger Mädchen drängt nach vorne, verlangt nach Mitsprache, nach Teilhabe in Gesellschaft und Erwerbsleben. An der konservativen islamischen Azhar-Universität in Kairo, einst eine Männerbastion, studieren gegenwärtig 15 000 Mädchen, das ist fast die Hälfte der Studentenschaft.
Zweieinhalb Jahrzehnte Reislamisierung haben für Frauen keineswegs nur Nachteile gebracht. Das Bildungsversprechen der Regime, der Ausbau der Universitäten haben ihnen genutzt. Und die konservativ-religiösen Kleidungsvorschriften ha-ben manchem Mädchen geholfen, die Bedenken der Familie gegen Studium oder Berufstätigkeit zu überwinden. Im Iran ist jeder westliche Reisende überrascht, wie sehr die öffentliche Präsenz der Frauen und ihr Selbstbewusstsein unsere Klischees dementieren. Und im Jemen sind die erfolgreichen Pionierinnen der Emanzipation, darunter die Ministerin für Menschenrechte, die Töchter von Analphabetinnen – Fortschritt im Zeitraffer.
Es gibt einen bestimmten Typ von Frauen in islamischen Ländern, ich nenne sie „die Ernsthaften“. Sie sind jung, gebildet und religiös, sie treten selbstbewusst auf, aber vermeiden Effekthascherei. Sie tragen ein Kopftuch auch dort, wo es nicht Pflicht ist, und sie benutzen wenig oder gar kein Make-up. Oft sind es Frauen dieses Typs, die etwas vorantreiben in ihren Gesellschaften, sie übernehmen Verantwortung, sie haben Mut. Und sie sind dezidiert muslimisch. Zum Beispiel diese Juristin im Iran: eine schmale Frau Anfang 30, schlicht gekleidet mit einem braunen Mantel und einem schwarzen Kopftuch. Sie berät die Eltern von Minderjährigen, die zum Tode verurteilt wurden. Offiziell gibt es diese Hinrichtungen nicht. Iranische Menschenrechtsgruppen haben eine Kampagne begonnen, damit die entsprechenden Gesetze geändert werden. Die Juristin versorgt diese Kampagne mit Informationen. Und sie tut noch mehr: Wenn Jugendliche einen Mord begangen haben, dann geht die Juristin zu den Eltern des Mordopfers und versucht sie zu überzeugen, dass sie dem jungen Täter vergeben. Denn nach islamischem Recht kann auf die Todesstrafe verzichtet werden, wenn die Opferseite vergibt.
Es fällt schwer, von solchen Frauen in Deutschland zu erzählen. Sie passen in keines unserer Raster, sind weder unterdrückt noch säkular. Sie sind etwas Eigenes, ein Gewächs ihrer Kultur. Und sie werden die islamischen Länder mehr verändern, als wir uns heute überhaupt vorstellen können.
Gott und die Pizza. Oder: unsere Angst vor Religion
Selbst die Verabredung, am nächsten Abend Pizza essen zu gehen, bekräftigen manche Muslime mit „Insh’allah“. So Gott will. Das stößt uns auf, und wir vergessen, dass man sich in Teilen unseres Landes mit einem „Grüß Gott“ am Stammtisch niederlässt und der Kaffeefleck auf dem neuen Kostüm den Ausruf „Um Gottes Willen!“ provoziert. Bei uns sind das natürlich nur Floskeln, aber Muslime meinen es ernst, nicht wahr? Und das ist uns verdächtig.
Ich habe oft von Muslimen, gerade von unpolitischen, das umgekehrte Argument gehört: Ein areligiöser Mensch ist ihnen verdächtig, erscheint ihnen haltlos, unkalkulierbar, gefährlich fremd. Sie sagten: Besser irgendeine Religion als gar keine. Oder: Religiöse Menschen seien bessere Menschen.
Wenn sich zierliche Thailänderinnen vor einer Buddhastatue niederwerfen, müsste das für uns rätselhafter sein als die runden Rücken in einer Moschee. Buddha, ein Lehrer, kein Gott, warum sich niederwerfen? Und dann noch der Geisterglaube: diese Häuschen, wo Essen hineingelegt wird! Aber kein Thailand-Tourist ist beunruhigt; das alles ist eben irgendwie Kultur. Wie wir unsere Angst vor Religion verteilen, das folgt keinem rationalen Muster. Die regierende Junta in Birma gibt sich sehr buddhistisch; das ficht das gute Image des Buddhismus nicht an. Der Islam hat hingegen ein schlechtes Image, und folglich ist für uns nur der säkulare Muslim ein guter Muslim. Je weniger er auf die Rituale und Regeln seines Glaubens gibt, umso mehr vertrauen wir ihm.
Fortschritt bedeutet fortschreitende Säkularisierung, anders können wir uns eine Verbesserung der Verhältnisse in den islamischen Ländern nicht vorstellen. Am weitesten gediehen ist die Säkularisierung möglicherweise unter den Iranern, aus Enttäuschung über 26 Jahre real existierenden Islamismus. Viele Jugendliche drücken ihren Protest gegen das Regime durch eine Abwendung von der Religion aus. Zugleich ist Drogensucht erschreckend weit verbreitet, und viele leiden unter Depressionen. Wer Säkularisierung nicht zum Fetisch macht, könnte auf den Gedanken kommen: Der Rückzug der Religion hinterlässt ein ungutes Vakuum.
Codewort Allah. Oder: der Gott der anderen
Als ich zusammen mit einer amerikanischen Konvertitin eine Familie in Kairo besuchte, fragte mich ein junges Mädchen, warum ich nicht auch übertreten würde. Sie sagte sehr lieb und sehr werbend: „Der Islam ist wunderschön. Wir haben Allah!“ Sie war tatsächlich der Annahme, ihr Allah sei nicht mein Allah. Viele ungebildete Muslime denken so, leider; sie wissen zu wenig über die gemeinsamen Wurzeln der abrahamischen Religionen, und es ist nicht zu ihnen vorgedrungen, dass der Islam die Anerkennung von Judentum und Christentum verlangt.
Und wie verhält es sich mit uns gebildeten Westlern? Ob gläubig oder nicht, wir sind aufgewachsen in einer Kultur des Monotheismus. Erstaunlich also, wenn man Äußerungen hört wie „Na, dann sieh mal zu, ob dein Allah dir hilft!“ Oder Zeilen liest wie: „Die einen glauben an Gott, die anderen an Allah.“
Allah ist arabisch für Gott, folglich nennen auch die arabischen Christen Gott Allah. Ich habe mir in Ägypten eine Kassette mit Gebetsgesängen der (christlichen) Kopten gekauft; nahezu jeder in Deutschland sagt nach einer Hörprobe, das sei „irgendwas Islamisches“. Allah, der Gott der anderen. Wieviel Emotionen kann ein einziges Wort hervorrufen, wenn darunter ein Graben liegt, der in unser Archaisches führt.
Zum Schluss ein Selbstversuch: Nehmen Sie einen beliebigen Zeitungsartikel, der sich besonders scharf mit dem Islam auseinander setzt, und ersetzen Sie das Wort „Allah“ einfach durch „Gott“. Die Wirkung ist verblüffend: Die Schärfe, die Feindseligkeit verpufft.
Internationale Politik 11, November 2005, S. 111 - 116