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01. Mai 2006

Selbstbestimmung neu bestimmen

Buchkritik

Hauptsache repräsentativ: Jenseits des Nationalstaats erfindet sich die Demokratie neu – und bleibt doch ganz die alte

Hinter den Kulissen von Europäisierung und Transnationalisierung raunt vielstimmig die Rede vom „Demokratiedefizit“. Doch ist die parlamentarische Repräsentation wirklich in der Krise, das vertraute demokratische Instrumentarium der westlichen Verfassungstradition nur noch Makulatur? Ist alles nur noch governance? Oder müssen wir nicht vielmehr fragen, ob neue Formen hoheitlichen Handelns tradierten Anforderungen an demokratische Selbstbestimmung verpflichtet sind? Acht Bücher repräsentieren eine Debatte: Andreas Maurer und Dietmar Nickel führen durchs Europäische Parlament, Berthold Rittberger skizziert dessen Baupläne. Stefan Kadelbach untersucht europäische Demokratie ganz direkt, Stefan Marschall vergleicht transnationalen Parlamentarismus in weiter Perspektive. Sean Wilentz erklärt Amerika, Michaela Salamun und Daniel Sven Smyrek spüren dem Demokratischen in international verwalteten Gebieten nach. Und Christoph Möllers bringt die Selbstbestimmung souverän zum Glänzen.

Natürlich wird demokratische Selbstbestimmung nicht selbstbestimmter, wenn sie sich dauernd ihrer selbst vergewissert. Im weiten Raum des Transnationalen schon gar nicht. Zu denken gibt sie aber doch, die große Stille in der europäischen „Denkpause“, die die Staats- und Regierungschefs der EU und ihren Bürgern nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrags vor fast einem Jahr verordnet haben. Wie geht es eigentlich weiter?1 Und sollten wir nicht mal wieder über Demokratie reden?

Während Europa schwieg, wurde zum Glück fleißig weitergedacht und publiziert, und zahlreiche neue Bücher verlocken zur Fortsetzung der Debatte. Unabhängig vom Schicksal des Verfassungsvertrags stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation, in Europa und über seine Grenzen hinaus. Wie im Märchen von Hase und Igel ist die Demokratiefrage in der Transnationalisierung immer schon da.2 Natürlich gibt es immer den Vorsprung des Hasen der Mobilität, der transnationalen subjektiven Rechte, die uns grenzüberschreitenden Handel und Wandel ermöglichen. Der stachlig schwerfällige demokratische Prozess kann nicht so schnell nachkommen – aus ganz praktischen Gründen (weil es schwieriger ist, ein Parlament einzurichten als ein Gericht), aber auch aus soziologischen (weil es schwieriger ist, Öffentlichkeiten zu aktivieren als Verfahrensparteien). Als Frage aber steckt die Demokratie, davon wird gleich noch zu sprechen sein, immer schon hinter jeder Ecke.

Demokratische Legitimation vermittelt sich in der EU zunächst natürlich noch immer über die nationalen Parlamente, deren Position der Verfassungsvertrag durch die neuen Instrumente von „Frühwarnmechanismus“ und „Subsidiaritätskontrolle“ stärken soll. Das Europäische Parlament, für das der Verfassungsvertrag einen deutlichen Kompetenzzuwachs vor allem im Gesetzgebungsverfahren bringt, konnte sich, so der Tübinger Politikwissenschaftler Martin Große Hüttmann, in der „Post-Nizza-Debatte“ einen „festen Platz im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung erkämpfen“; es „wandelte sich vom utopischen und abstrakten zum konkreten Systemgestalter“. Große Hüttmanns Analyse ist Teil einer aufschlussreichen Bestandsaufnahme des EP in seiner aktuellen 6. Wahlperiode, die der von Andreas Maurer, Leiter der Forschungsgruppe EU-Integration der Stiftung Wissenschaft und Politik, und Dietmar Nickel, Generaldirektor im Europäischen Parlament für die externen Politikbereiche der Union, herausgegebene Band versammelt. Ob es dem EP gelingen kann, durch eine verstärkte Politisierung künftig konturierter sichtbar zu werden – dies scheint angesichts der detaillierten Bewertungen der Europawahl 2004, die der Band bietet, doch fraglich. Einer wachsenden institutionellen Bedeutung stehen weiterhin sinkende Wahlbeteiligungen gegenüber.

In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hat die Verfassungsdiskussion für die Parlamentarier wenig bewegt, konstatiert Daniel Thym vom Berliner Walter-Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht. „Im Vergleich mit den Rechten des Parlaments in anderen Politikbereichen, einschließlich des auswärtigen Handelns nach dem EG-Vertrag, können der Status quo und die Regelung des Verfassungsvertrags die Befürworter einer Stärkung des Parlaments aber nur enttäuschen – auch wenn insoweit kein grundlegender Unterschied etwa zu den Regelungen des deutschen Grundgesetzes besteht. Sowohl nach dem geltenden EU-Vertrag als auch nach dem künftigen Verfassungsvertrag bleiben die Rechte des Parlaments rechtlich auf eine bloße Information und allgemeine Anhörung beschränkt. Besonders bemerkenswert ist hierbei, wie systematisch und nachdrücklich sowohl der Konvent als auch die Regierungskonferenz jeden Einbruch des Parlaments in die GASP verhindert haben, obwohl das Parlament erneut zu den Gewinnern der Vertragsreform zählt. Auch in der kommenden Legislaturperiode bleibt das Parlament daher auf seine Möglichkeiten der indirekten Einflussnahme angewiesen, aufgrund derer ihm in der Verfassungswirklichkeit gleichwohl Einfluss auf Inhalt und Ausrichtung der GASP zukommt.“

Unbefriedigend bleibe, „dass das Schicksal eines so zukunftsweisenden und ambitionierten Werkes wie der Europäischen Verfassung an Stimmungen gescheitert ist, die mit dem Entwurf selbst wenig zu tun haben“, schreibt der Europaabgeordnete Joachim Wuermeling in seinem Beitrag „Zum weiteren Schicksal der EU-Verfassung“. Doch trotzige Starre helfe nicht weiter, die paradoxe Lehre laute: „Europa muss sich grundlegend verändern, bevor die Verfassung eine Chance hat.“

Doch, bevor wir über Änderungen sprechen: Warum überhaupt ein Parlament auf europäischer Ebene? Weshalb schufen die Mitgliedstaaten des „Europa der Sechs“ schon Anfang der fünfziger Jahre die Gemeinsame Versammlung der EGKS, Vorläuferin des Europäischen Parlaments? Und was bewog die mitgliedstaatlichen Regierungen, dem Repräsentativorgan in den vergangenen 50 Jahren immer neue Kompetenzen zu übertragen? Wie kam das EP schrittweise zu immer weitreichenderen Kontroll-, Budget- und Gesetzgebungsrechten? Antworten auf diese Fragen gibt die Studie des in Kaiserslautern lehrenden Politikwissenschaftlers Berthold Rittberger. Hervorgegangen ist Rittbergers prägnantes und erhellendes Buch aus seiner 2005 von der European Union Studies Association ausgezeichneten Oxforder Dissertation, der nach Auffassung der Juroren besten im Zeitraum 2002 – 2004 in englischer Sprache verfassten europawissenschaftlichen Promotionsarbeit.

Rittberger nähert sich dem Phänomen des Parlaments im Exekutivföderalismus nicht mittels einer deskriptiv ansetzenden Analyse,3 sondern fragt nach Gründen. Warum also geht mit der „Entparlamentarisierung“ der nationalen Parlamente eine „Reparlamentarisierung“ auf europäischer Ebene einher? Den üblichen Erklärungsmustern eines rational choice, etwa im Sinne des von Andrew Moravcsik geprägten „liberalen Intergovernmentalismus“,4 mag der Autor nicht folgen. Vielmehr setzt er auf die gleichsam zwingende Überzeugungskraft des politiktheoretischen Modells der repräsentativen Demokratie, das weder durch direktdemokratische Elemente noch durch das schillernde Instrumentarium einer „advocacy democracy“ zivilgesellschaftlicher Partizipation zu ersetzen ist.

 „Lange bevor Wissenschaftler, Journalisten und selbst einige Politiker der Rede vom ,Demokratiedefizit‘ irgendwelche Bedeutung beimaßen, schufen die politischen Eliten das Europäische Parlament und statteten es mit Kontroll-, Budget- und Gesetzgebungskompetenzen aus“, resümiert Rittberger. Als 1987 die Einheitliche Europäische Akte in Kraft getreten sei, bevor die ersten wissenschaftlichen Aufsätze zum „Demokratiedefizit“ geschrieben worden seien, sei die Entscheidung der politischen Eliten der Mitgliedstaaten, als Teil des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft eine parlamentarische Institution zu etablieren, aus deren Überzeugung erwachsen, dass ein Defizit demokratischer Legitimität bereits existiere – ein dringender Behebung bedürftiges Defizit, das verstärkt wurde durch Entscheidungen der Souveränitätsbündelung und -übertragung.

Das im europäischen Recht und in der Verfassung angelegte Demokratieverständnis sei scheinbar von einem Paradox bestimmt, schreibt der Schweizer Europarechtler Roland Bieber in dem von Stefan Kadelbach herausgegebenen Band, der die Referate einer Tagung am Frankfurter Wilhelm-Merton-Zentrum für Europäische Integration und Europäische Wirtschaftsordnung dokumentiert. „Gleichzeitig mit einer immer deutlicheren Bekräftigung des repräsentativen Charakters der Demokratie auf Ebene der Union erfahren die Rechte der Bürger durch eine unmittelbare Beteiligung an der Tätigkeit der Organe Verstärkung.“ Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildeten die gleichzeitig formulierten Postulate der repräsentativen und der „partizipativen“ Demokratie in Art. I-46 und I-47 des Verfassungsvertrags. „Das scheinbare Paradox spiegelt die (…) parallele Entwicklung im Verfassungsrecht der europäischen Staaten zu einem Verfassungsmodell, das beide Demokratieformen nicht als unterschiedliche Herrschaftsmodelle, sondern als prinzipiell kompatible Modalitäten bürgerlicher Selbstbestimmung versteht.“ Als wesentliche Komponente dieses „dualen Demokratiekonzepts“ macht Bieber die mitgliedstaatlichen Verfahren zur Billigung des Verfassungsvertrages aus, die in der Zusammenschau das Referendum fast schon als die parlamentarische Zustimmung ergänzenden Normalfall der Ratifikation des Verfassungsvertrags erscheinen lassen. Sie hätten als „Katalysator für dieses gemeineuropäische Verfassungsrecht“ gewirkt, das die Kombination aus mittelbarer und unmittelbarer Legitimation hoheitlichen Handelns geradezu als gemeinsames Kennzeichen europäischer Staatsverfassungen erscheinen lasse. Genügen lassen sollte man es sich daran allerdings nicht: „Sowohl wegen der Gleichartigkeit als auch wegen der gleichen Intensität der Legitimation für die EU-Verfassung wäre es wünschenswert gewesen, in allen Mitgliedstaaten und möglichst zu einem gleichen Zeitpunkt die Zustimmung der Bürger zur Ratifizierung der Verfassung einzuholen.“ Doch was nicht war, lässt sich doch künftig verwirklichen: „Sollte ein umfassender Neuanfang zur Verfassunggebung erforderlich werden, könnte eine strukturierte Konsultation aller europäischen Bürger, z.B. in Verbindung mit der Wahl des Europäischen Parlaments, der Verfassung die ihr gemäße gemeinsame Legitimation vermitteln.“

Unter dem „Grundsatz der partizipativen Demokratie“ (Art. I-47) finden sich auch im Verfassungsvertrag Bekenntnisse zu Transparenz, zum „Dialog mit der Zivilgesellschaft“ und zur Bürgerbeteiligung. Das Prinzip der Transparenz umschließt dabei die Grundsätze der Öffentlichkeit (erstmals auch für Sitzungen des Rates, vgl. Art. I-50 Abs. 2 EVV) und das Recht auf Zugang zu Dokumenten (bisher Art. 255 EG). Als Partner des „Dialogs“ begegnen im Vertragstext ausdrücklich repräsentative Verbände (Art. I-47 Abs. 2 EVV), die Sozialpartner (Art. I-48 EVV) sowie die Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften (Art. I-52 EVV).

Als Element direkter Demokratie sieht der Verfassungsvertrag in Art. I-47 Abs. 4 EVV ein europäisches Bürgerbegehren vor, die „Unionsinitiative“, mittels derer eine Zahl von mindestens einer Million Unionsbürgern die Kommission zu Rechtsetzungsvorschlägen auffordern kann. Die genauen Einzelheiten dieses Initiativrechts im Gesetzgebungsverfahren sind indessen noch durch Europäisches Gesetz festzulegen. Der Vertragstext selbst lässt, wie die an der Universität Fribourg lehrende Europarechtlerin Astrid Epiney in ihrem Beitrag zu dem von Kadelbach herausgegebenen Band erläutert, wesentliche Fragen offen. Wieviele Mitgliedstaaten etwa konstitutieren jene „erhebliche“ Anzahl von Mitgliedstaaten, aus denen die Unterschriftenmillion der Unionsbürger kommen soll? Welche inhaltlichen Anforderungen sind an die Unionsinitiative zu stellen, muss sie eine „gewisse inhaltliche Homogenität“ aufweisen? Und, vor allem: Ist die Kommission verpflichtet, einer solchen Initiative Folge zu leisten? Oder kann sie die Unionsinitiative als eine Art Denkanstoß betrachten, den sie nach freiem Ermessen weiterverfolgen kann oder nicht? Nach Epineys Auffassung spricht die Formalisierung der Initiative „eindeutig für eine Rechtspflicht der Kommission, zu den betroffenen Bereichen Gesetzgebungsinitiativen vorzulegen“. Eine „inhaltliche Bindungswirkung“ entfalte das Begehren der Unionsbürger indessen nicht, das „Initiativmonopol“ liege weiterhin grundsätzlich bei der Kommission, die frei sein müsse, die Vorschläge zu unterbreiten, die ihr im Gesamtkontext des Unionsrechts und der Unionspolitiken sachdienlich erschienen. Für diesen Ansatz spreche auch, dass jedenfalls Rat und Parlament nicht an den Inhalt einer Unionsinitiative gebunden wären, außerdem könne demokratietheoretisch eingewendet werden, dass es doch nur um das Anliegen einer sehr kleinen Minderheit der Unionsbürger gehe. Die „Unionsinitiative“ entpuppt sich also als bloßes „Gesetzgebungsanstoßungsrecht“ (Epiney), das die bestehende Struktur des gemeinschaftsrechtlichen Legislativverfahrens nicht modifiziert oder erweitert. Dies schließt für Astrid Epiney die Einführung wirklicher direkt demokratischer Rechte nicht aus, sofern sich diese in den institutionellen Rahmen der Union einfügen und die konstituierende Rolle der Mitgliedstaaten berücksichtigen.

Das innovative Potenzial der parlamentarischen Repräsentation dabei auch in der Mehrebenendemokratie nicht aus dem Blick zu verlieren, dazu ermutigt Stefan Marschalls wichtige Untersuchung transnationaler Repräsentation.5 In seinem Düsseldorfer Habilitationsprojekt hat der Politikwissenschaftler Demokratie und Parlamentarismus jenseits des Nationalstaats unter die Lupe genommen, in der konkreten Gestalt der „Parlamentarischen Versammlungen“. Eine Reihe internationaler Organisationen umschließt in ihrem Gefüge repräsentative Körperschaften, die nominell und in ihrer Konsistenz an den nationalstaatlichen Parlamentarismus erinnern. Diese bislang von der Wissenschaft eher vernachlässigte Institutionengruppe definiert Marschall als „transnational-multilaterale korporative Akteure, die aus Abgeordnetengruppen nationaler Parlamente zusammengesetzt sind“.

45 solche Körperschaften erfasst die Bestandsaufnahme des Autors, von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über das Amazonas-Parlament und die Afrikanische Parlamentarische Union bis hin zu den Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und der NATO – und schon dieses detaillierten Überblicks wegen lohnt die Lektüre des Buches. Zugegeben, ob man eine Abgeordneten-NGO wie die in New York ansässigen „Parlamentarians for Global Action“ in diesen Definitionsrahmen einbeziehen kann, scheint zumindest fraglich – ist hier doch das Ziel die Vernetzung von als Einzelpersonen auftretenden Parlamentariern („to link individual legislators across borders and party lines“), weniger die transnationale Repräsentation mit Wählerauftrag handelnder, national verwurzelter Interessengruppen.

Das Europäische Parlament jedenfalls hat seit seiner ersten Direktwahl 1979 die Qualität einer Parlamentarischen Versammlung verloren, und so begreift es auch Marschall als „transnationales, unmittelbar gewähltes und mit weitreichender Politikgestaltungskompetenz versehenes Organ – vor allem aber als eine Körperschaft, innerhalb derer Prozesse ablaufen, die sich von denen in Parlamentarischen Versammlungen grundlegend unterscheiden“. Dieser Unterschiede wegen dient das Europäische Parlament in der vorliegenden Untersuchung als Koordinate in einem Kontinuum zwischen parlamentarischer und territorialer Repräsentation, an dessen Enden der Autor einerseits klassische Einkammerparlamente wie die französische Assemblée Nationale, andererseits die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Ministerräte internationaler Organisationen platziert. Auf dieser Folie analysiert Marschall zunächst institutionelle Idee, Einbindung und Funktionen der Parlamentarischen Versammlungen, dann deren jeweilige Größe, Bestallung und Zusammensetzung, bevor Organisation und Verfahren sowie die Rolle und Stellung des einzelnen Delegierten untersucht werden. Als Funktionsbereiche lassen sich „Konsultation und Kontrolle, die Förderung des Organisationsziels und die Förderung regionaler Integration, advokatorische Aufgaben, die Stärkung der Parlamente und der parlamentarischen Demokratie, die Netzwerkbildung und die Kommunikation sowie die Koordination legislativer Tätigkeit“ ausmachen.

„Letzten Endes bleibt die formal schwache Stellung der Parlamentarischen Versammlungen innerhalb der internationalen Organisationen ein entscheidendes Manko“, resümiert Marschall. Zwar gehe formale Schwäche nicht zwangsläufig Hand in Hand mit der faktischen Bedeutungslosigkeit eines politischen Akteurs. Aber es fehlten geregelte, zuverlässige und sanktionsbefähigte Mechanismen, den Einfluss zu garantieren und zu verstetigen. Parlamentarische Versammlungen wirkten demokratisierend in nationale politische Systeme hinein, indem sie „parlamentarische Kultur pflegen, exportieren und Abgeordnete sozialisieren“. Doch alle „Hoffnung auf neoparlamentarische und demokratische Perspektiven“ muss für den Autor angesichts der Vielschichtigkeit gegenwärtiger Politik eine vorsichtige bleiben. Parlamentarische Körperschaften böten jedoch für die komplexe Demokratiefrage eine bedenkenswerte Teilantwort – und dies nicht obwohl, sondern weil sie „paradoxe Institutionen“ (Gerhard Loewenberg) seien.

Die „komplexe Demokratiefrage“ – sie beginnt und endet in den hier vorgestellten Büchern immer wieder bei Abraham Lincoln, der in seiner „Gettysburg Address“ vom 19. November 1863 die Formel von der Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“ prägte. Den Weg von Philadelphia nach Gettysburg beschreibt das gewichtige Opus des in Princeton lehrenden Historikers Sean Wilentz. Sein Buch über die Geschichte der amerikanischen Demokratie von Jefferson bis Lincoln ist ein faszinierendes Meisterstück stupender Gelehrsamkeit, das tragende Wurzeln der demokratischen Verfassungstradition des Westens freilegt. „Ein grundlegender Fehler der Amerikaner war es“, schrieb der spätere Lexikograph Noah Webster 1789, „dass sie die Revolution schon als vollendet ansahen, als diese eben erst begonnen hatte.“

Sean Wilentz zeigt, dass auch die Demokratie sich erst entfalten musste, in zähen und dauerhaften politische Konflikten. „Demokratie in Amerika, das war das Schauspiel des Streites der Amerikaner über die Demokratie“, schreibt er in seiner gewichtigen Chronik, deren Blick auf die sozialen Auseinandersetzungen, die „Klassenkämpfe“ des ersten amerikanischen Jahrhunderts, manchmal in der Perspektive des heutigen Beobachters stecken bleibt. Doch gerade dies vielleicht macht sein Buch zu einem anregenden Beitrag in der aktuellen transnationalen Demokratiedebatte. Schließlich geben, der Verfassungsrechtler Bruce Ackerman hat es gerade mit einer kleinen Studie über die durch die Präsidentschaftswahl Jeffersons ausgelöste „Revolution von 1800“ belegt,6 kenntnisreiche Beschreibungen historisch gewachsener politischer und verfassungsrechtlicher Grammatik auch dem zukunftsgewandten Leser entscheidende Fragen auf.

Neue demokratietheoretische Fragen stellen sich auch dort, wo Territorien ausschließlich von einem die internationale Staatengemeinschaft repräsentierenden Organ verwaltet werden. In ihrer Grazer Dissertation entfaltet die Juristin Michaela Salamun ein facettenreiches, manchmal nicht ganz leicht zu überblickendes Panorama der Ansätze zur Verwirklichung des Demokratieprinzips in der Praxis internationaler Gebietsverwaltungen, historisch wie aktuell. Von der Freien Stadt Danzig und dem Saargebiet wandert die Untersuchung bis nach Osttimor, Bosnien-Herzegowina und in das Kosovo. Partizipation und Zurechenbarkeit, so das Resümee der Autorin, sollten in den Verfassungsdokumenten internationaler Administrationen festgeschrieben werden. Dies allerdings nur in Form allgemeiner Grundsätze, „generelle Modelle oder Strategien“ scheinen Salamun fehl am Platze, hänge doch das konkret realisierbare Maß demokratischer Regierungspraxis wesentlich von der jeweiligen historischen und politischen Situation ab.

Strikte Richtlinien hingegen fordert Daniel Sven Smyrek für internationale Territorialverwaltungen – Vorgaben, die die zu beachtenden menschenrechtlichen Mindeststandards genau definieren. Smyreks prägnante völkerrechtliche Studie ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte um den Status des Kosovos, den der Autor im Detail analysiert. Durch die Brille des klassischen Souveränitätsparadigmas nimmt Smyrek international verwaltete Territorien in den Blick, um dann die Grenzen des in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegten Demokratieprinzips abzuschreiten. Wie lässt sich vermeiden, dass eine internationale Verwaltung abrutscht in einen „benevolent despotism“? Zeitlich begrenzte Beschränkungen demokratischer Rechte seien hinzunehmen, wenn es um die Errichtung eines künftig stabilen, demokratischen und friedlichen selbstverwalteten Gemeinwesens gehe, argumentiert Smyrek. Doch müssten diese stets strengen Verhältnismäßigkeitskriterien genügen, für jeden Betroffenen gerichtlich nachprüfbar sein. Und „was das fundamentale Recht der örtlichen Bevölkerung zur Partizipation am politischen Prozess angeht, so sollte eine internationale Übergangsverwaltung von Beginn an Einheimische einbeziehen, gefördert durch ein System des persönlichen mentoring und des training-on-the-job“.

Wo klassische demokratische Grundsätze zeitweise keine Beachtung finden, bleibt – so deuten es Salamun und auch Smyrek an – immer noch Good Governance als Leitprinzip, der im weiten Feld des Transnationalen häufig als schillernde Vorform der Demokratie figurierende Begriff des „Guten Regierens“. Dieser diene nicht selten dazu, die anspruchsvollen Rechtfertigungsanforderungen der westlichen Verfassungstradition angesichts aktueller Entwicklungen zu relativieren, schreibt der Göttinger Verfassungsrechtler Christoph Möllers, dessen innovative Studie aus dem tradierten Begriff der Gewaltenteilung die Grundzüge eines systematischen Konzepts selbstbestimmter Gewaltengliederung entwickelt, „Baustein eines Gemeinverfassungsrechts demokratischer Staaten“. Der allfällige Governance-Begriff solle die Neuigkeit inter-, trans- oder supranationaler Institutionen gegenüber dem Verfassungsstaat unterstreichen. „Aber die Frage, ob man neue Begriffe verwendet oder tradierte Begriffe anpasst, ist so wenig objektiv zu beantworten wie die Frage, was genau an der Rechtsentwicklung neu ist und was nicht. Eine Antwort kann immer nur relativ ausfallen, und die Verwendung neuer Begriffe ist dann Resultat einer forschungsstrategischen Entscheidung, nicht eines methodischen Gebots.“

Eric Stein, der große Vordenker des europäischen Rechts, hat unlängst einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, dass man nicht vor jeder neuen Herausforderung an tradierte Konzepte gleich eilig in neue Begriffsbildungen davonlaufen muss.7 Wichtiger ist es, sich den Fragen zu stellen, die Prozesse der Transnationalisierung tradierten Konzepten demokratischer Legitimation heute aufgeben. Das Modell der repräsentativen Demokratie ist, traut man Berthold Rittbergers überzeugend argumentierter Einschätzung, „alive and well“. Bestes Indiz dafür mag sein, dass dort, wo der gute alte Nationalstaat Souveränität teilt oder abgibt, auch immer wieder über die Demokratie gesprochen wird. In einer vergleichenden Untersuchung von vier internationalen Organisationen hat Eric Stein einmal ermittelt, dass die EU nicht nur das höchste Integrationsniveau aufweist, sondern zugleich auch den lebhaftesten Diskurs über ein „Demokratiedefizit“.8 Nicht zuletzt Berthold Rittbergers Studie zeigt, dass es in der Vergangenheit selten beim Gerede geblieben ist. Immer neu verfestigte sich im Auf und Ab der Reformprozesse die Debatte der politischen Eliten, wurde vom Argument zur institutionellen Architektur.

Andreas Maurer und Dietmar Nickel (Hrsg.): Das Europäische Parlament. Supranationalität, Repräsentation und Legitimation. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005. 291 Seiten, € 55.

Berthold Rittberger: Building Europe’s Parliament. Democratic Representation Beyond the Nation-State. Oxford University Press, Oxford und New York 2005. 234 Seiten, £ 45.

Stefan Kadelbach (Hrsg.): Europäische Verfassung und direkte Demokratie. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2006. 110 Seiten, € 24.

Stefan Marschall: Transnationale Repräsentation in Parlamentarischen Versammlungen. Demokratie und Parlamentarismus jenseits des Nationalstaats. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005. 377 Seiten, € 39.

Sean Wilentz: The Rise of American Democracy. Jefferson to Lincoln. W.W. Norton & Company, New York und London 2005. 1044 Seiten, $ 35.

Michaela Salamun: Democratic Governance in International Territorial Administration. Constitutional Prerequisites for Democratic Governance in the Constitutional Documents of Territories Administered by International Organisations. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005. 224 Seiten, € 42.

Daniel Sven Smyrek: Internationally Administered Territories – International Protectorates? An Analysis of Sovereignty over Internationally Administered Territories with Special Reference to the Legal Status of Post-War Kosovo. Duncker und Humblot, Berlin 2006. 260 Seiten, € 72.

Christoph Möllers: Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich. Mohr Siebeck, Tübingen 2005. 515 Seiten, € 104.

  • 1 Dazu Daniel Thym: Weiche Konstitutionalisierung – Optionen der Umsetzung einzelner Reformschritte des Verfassungsvertrags ohne Vertragsänderung, integration, Oktober 2005, S. 307–315, mit weiteren Nachweisen zur umfangreichen Literatur über mögliche Auswege aus dem Ratifikationsdilemma.
  • 2 Vgl. Christoph Möllers im Gespräch mit Felicia Herrschaft (www.fehe.org), anlässlich der Tagung „Internationale Verrechtlichung und Demokratie“, Frankfurt am Main, 27.–29.11.2005, http://www.fehe.org/fileadmin/podcasts/H.Brunkhorst_02_12_05.mp3; vgl. auch S. 432 und S. 243–251 im unten besprochenen Band.
  • 3 Grundlegend Philipp Dann: Parlamente im Exekutivföderalismus, Berlin und Heidelberg 2004.
  • 4 Andrew Moravcsik: The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca 1998. Dazu kritisch auch Daniel Halberstam: The Bride of Messina: Constitutionalism and Democracy in Europe, European Law Review, Dezember 2005, S. 775–801.
  • 5 Mit dem Begriff „transnational“ rekurriert Marschall auf die in der Politikwissenschaft von Karl Kaiser etablierte Terminologie, vgl. Karl Kaiser: Transnationale Politik. Zu einer Theorie der multinationalen Politik, Politische Vierteljahresschrift, Bd. 10, 1969, S. 80–109. In den Rechtswis- senschaften reichen die begrifflichen Wurzeln weiter, vgl. Philip C. Jessup: Transnational Law, New Haven 1956. Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs und zur aktuellen Diskussion siehe Peer Zumbansen: Transnational Law, in: Jan Smits (Hrsg.): Encyclopedia of Comparative Law, Cheltenham 2006, S. 738–754.
  • 6 Bruce Ackerman: The Failure of the Founding Fathers. Jefferson, Marshall, and the Rise of Presidential Democracy, Cambridge, Mass. und London 2005.
  • 7Eric Stein: The Magic of the C-Word, Keynote Address, Ninth Biannual Conference of the European Studies Association, 1. April 2005, Austin/Texas (Ms., unveröffentlicht), S. 9.
  • 8 Eric Stein: International Integration and Democracy: No Love at First Sight, American Journal of International Law, Heft 3/2001, S. 489–534.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 62 - 63

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