Buchkritik

01. Mai 2019

Sein und Schein

Von Thomas Speckmann

Unentschlossen, uneinig, unfähig, seine weitreichenden Pläne umzusetzen: Neue Bücher über ein Europa der Krisen, Verluste und Spaltungen

Die Welt im Jahr 2019, wie sie zu sein scheint: Da ist zum einen China, unaufhaltsam auf dem Weg an die Weltspitze, wirtschaftlich, politisch, militärisch – stark geführt, mit weitreichenden Plänen, die entschlossen umgesetzt werden. Da ist zum anderen Russland, geopolitisch wieder erwacht durch die harte Hand Wladimir Putins, nicht nur fähig, sondern auch willens, erneut militärisch zu handeln, ob gegen die Ukraine oder in Syrien. Und dann sind da die Vereinigten Staaten, in der politisch offensiven und im Ton aggressiven Präsidentschaft Donald Trumps für viele im Westen kaum wiederzuerkennen: Konfrontation statt Kooperation – nicht nur gegenüber Gegnern, sondern auch Verbündeten.

Und Europa? Zwar auch mit weitreichenden Plänen, die aber meist nicht ausreichend entschlossen umgesetzt werden, geopolitisch kein geeint auftretender Player; zu unterschiedlich sind die nationalen Interessen innerhalb der Europäischen Union. Daher ist es auch bislang weder fähig noch willens, militärisch als Europa zu handeln. Umso stärker ist es auf Kooperation statt Konfrontation ausgerichtet, auch gegenüber Rivalen, die das allerdings in wachsendem Maße als Zeichen von Schwäche werten.

Ist dies alles eine Frage der politischen Führung? Wäre ein anderes Europa erfolgreicher – wirtschaftlich, politisch, militärisch? So mancher extremer Bewegung in Europa mag dies so erscheinen; zu verlockend sind die vermeintlichen Erfolge, die „starke Führer“ in aller Welt haben.

Umso erhellender ist die Lektüre des Buches von Jan Zielonka. Der Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Universität Oxford sieht in Europa eine illiberale Konterrevolution in Gang gekommen – eine Gegenbewegung zur liberalen Revolution von 1989, getragen von rechten Bewegungen, die in immer mehr europäischen Ländern im Aufwind sind. Zielonka kennt sich aus mit den EU-Konjunkturen – das tatsächliche oder das lediglich wahrgenommene Auf und Ab.

Vor gut 20 Jahren versuchte er in einem Buch zu erklären, warum Europa zur viel geforderten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht fähig sei. Zehn Jahre später schienen ihm die Dinge anders zu liegen. Nach der östlichen Erweiterungsrunde 2004 mit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern als neuen Mitgliedern beschrieb er die nun deutlich ausgedehnte EU als „Imperium“. Heute, wiederum gut ein Jahrzehnt später, liegt für Zielonka die Europäische Union in Scherben. Schuld daran sind in seinen Augen die politischen Eliten, die marktradikalen Ideen nachgelaufen seien und die liberale Demokratie verraten hätten. Entsprechend werde die Liste der Krisen immer länger.

Das liberale Projekt neu erfinden?

Ob diese zugespitzte und einseitige Schuldzuweisung die Vielschichtigkeit der Probleme Europas erfassen kann, scheint Zielonka allerdings selbst zu bezweifeln. Denn nicht nur die politischen Führungskräfte wirken auf ihn inkompetent und unehrlich. Auch die Unternehmer hinterlassen einen hektischen und verzweifelten Eindruck. Eine einfache Lösung kann auch er nicht erkennen. Er fordert, dass Europa und sein liberales Projekt neu erfunden und geschaffen werden müssen.

Die Ausgangslage dafür ist in der Tat alles andere als günstig. In ihrer Beschreibung dringt Zielonka zum Kern der europäischen Malaise vor: Europa sei es nicht gelungen, sich auf die enormen geopolitischen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen einzustellen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten über den Kontinent hinweggefegt sind. Europäische Demokratie-, Kapitalismus- und Integrationsmodelle stünden nicht im Einklang mit den neuen komplexen Netzwerken von Städten, Bankern, Terroristen oder Migranten. Parallel lasse die Eskalation von Emotionen, Mythen und gewöhnlichen Lügen wenig Raum für Vernunft, Beratungen und Einigung. Daher stehe den Europäern ein weiteres „Tal der Tränen“ bevor.

Auch Zielonka wähnt den Liberalismus im Niedergang begriffen, am Ende sieht er ihn allerdings nicht. Im Gegenteil: Zwar hätten die neoliberalen Abwege viel Schaden angerichtet, aber es bestehe kein Grund, liberale Grund­überzeugungen aufzugeben: Rationalität, Freiheit, Individualität, kontrollierte Macht und Fortschritt – zumal den illiberalen Konterrevolutionären, die bislang viele Gewinne damit erzielt hätten, die Schwächen der EU, der liberalen Demokratie und des freien Marktes auszuschlachten, ein plausibles Programm für eine Erneuerung fehle. Ihr Rufen nach „starker Führung“ könne dies nicht ersetzen.

Worum es vielmehr geht, wird bei Christian Lahusen deutlich. Der Professor für Soziologie an der Universität Siegen fragt nach den Konfliktlinien, die das politische Denken der Bürger über ihre Europäische Union prägen. Nach seiner Untersuchung geht es der Bevölkerung Europas gar nicht so sehr um das richtige Verhältnis zwischen der EU und dem eigenen Nationalstaat, um eine Verlagerung oder Rückverlagerung von Kompetenzen auf die EU oder die Mitgliedstaaten, um ein Mehr an Europa oder ein Mehr an Nationalstaatlichkeit.

Lahusen arbeitet heraus, dass die europäische Bevölkerung die Vorstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse innerhalb Europas verinnerlicht hat und entsprechende Anforderungen an die EU und die Mitgliedstaaten zugleich richtet. Weiche die Realität von diesem normativen Standard ab, führe dies zur Kritik an der EU und an der eigenen Regierung, denn beide würden dafür mitverantwortlich gemacht. Insofern sitzen Lahusen zufolge EU und Mitgliedstaaten in einem Boot: Sie werden als politische Akteure verstanden, die im Feld der europäischen Politik für die gesellschaftlichen Realitäten verantwortlich sind und einen entsprechenden Handlungsauftrag zu erfüllen haben.

Die andere Seite des Ärmelkanals

Welche Folgen es haben kann, wenn der eigenen Regierung wie der EU Versagen bescheinigt wird, lässt sich seit dem Brexit-Referendum 2016 in Großbritannien beobachten. Hierzu hat Brendan Simms ein neues „Opus Magnum“ vorgelegt, das Maßstäbe setzen dürfte für die zukünftige Betrachtung der Beziehungsgeschichte zwischen Britannien und Kontinentaleuropa. Der Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge schildert, wie sich die Briten seit Jahrhunderten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten einmischen – und wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst werden.

Da ihn diese wechselvolle Geschichte gelehrt hat, dass man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann, plädiert Simms für eine enge Partnerschaft auch über einen Austritt der Briten aus der EU hinaus. Für ihn ist die Geschichte Großbritanniens eben nicht die Geschichte einer Insel; sie ist vornehmlich eine kontinentale Geschichte.

Über englische Besitzungen auf dem Kontinent, dynastische Verbindungen oder militärische Präsenz haben britische Herrscher und Regierungen immer wieder versucht, Einfluss auf die Nachbarn zu nehmen. Zugleich wirkten sich die Geschehnisse auf dem „Kontinent“ auf die Politik und Verfasstheit der britischen Inseln aus. Simms erinnert da­ran, dass in bislang jedem Jahrhundert britische Truppen über das europäische Festland marschiert sind – sei es aus Machtstreben oder um die Freiheit des eigenen Parlaments oder die Europas zu verteidigen.

Um Verteidigung geht es auch bei Romy Straßenburg. Bei der Journalistin, ehemaligen Chefredakteurin der deutschen Charlie-Hebdo-Ausgabe und Dozentin an einer Pariser Journalistenschule steht der gesellschaftliche Wandel Frankreichs im Mittelpunkt. Sie berichtet aus einem Land, das zentral für die Zukunft Europas ist und das sich in den vergangenen Jahren stark verändert hat. Sie tut dies aus der Perspektive des unmittelbaren Erlebens, berichtet von gesellschaftlichen Missständen und persönlichen Eindrücken, von Liebe und Politik, Freundschaft und Terror.

Auch beschreibt sie die Arbeit in der Redaktion eines Online-Magazins, dessen Team aus Polen, Engländern, Griechen, Spaniern, Italienern und Deutschen von etwas träumte, das es europäischen Journalismus nannte. Dass Europa gerade ihnen, „den Gestrandeten“, so viel bedeutete, führt Straßenburg darauf zurück, dass es ihnen das Gefühl von Heimat gegeben habe.

Wenige Seiten später erzählt sie von den Massenprotesten gegen die „Ehe für alle“. Ihre französischen Freunde waren „ohne Ausnahme“ für die gleichgeschlechtliche Ehe. Dabei wurde ihr einmal mehr klar, dass ihr persönliches Umfeld nicht repräsentativ für Frankreich insgesamt war. Als Teil der urbanen Mittelschicht, Mittdreißigerin und Erasmus-Europäerin übersehe man dies allzu leicht. Damit stößt Straßenburg ins Innere der Krise Europas vor – der zwischen den Schichten und Milieus innerhalb der europäischen Bevölkerungen. „Abgehängt“ trifft dabei auf „oben“ wie „unten“ zu.

Europas utopisches Potenzial

Wie kann man diese Milieus wieder zusammenführen oder zumindest einander annähern? Diese Frage treibt Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese um. In ihrem Manifest „Wir heimatlosen Weltbürger“ schildern die Gründer der Organisation European Alternatives ein Europa, das sich nach zehn Jahren der Krise durch vielfältige Brüche und Konflikte selbst zerreißt. Zugleich habe die Dekade jedoch auch gezeigt, was soziale Bewegungen erreichen können, wenn sie über den nationalen Tellerrand hinaus zusammenarbeiteten.

Milanese und Marsili stellen Aktivisten vor, in deren Handeln Alternativen zum Status quo aufscheinen sollen. Sie schildern, wie Neoliberalismus und Globalisierung die Menschen in ihren Augen zu ohnmächtigen Bürgern machen, in denen das Gefühl wachse, nirgendwo mehr zu Hause zu sein, und die sich daher verstärkt nationalistischen Positionen zuwendeten. Ihr Gegenrezept: eine transnationale Partei, die diese Widersprüche auflösen und das utopische Potenzial Europas einlösen soll.

Ob dies nicht selbst eine Utopie ist, diese Frage stellt sich nach der Lektüre von Reinhold Vetters Geschichte des europäischen Ostens nach 1989. Der ehemalige ARD- und Handelsblatt-Korrespondent in Polen und Ungarn ruft den Preis des Wandels für die Gesellschaften östlich des einstigen „Eisernen Vorhangs“ in Erinnerung: den Verlust von Arbeitsplätzen, sozialer Sicherheit und politischen Gewissheiten.

Wäre ein „dritter Weg“ beim Aufbau des neuen Wirtschaftssystems möglich gewesen, eine Mischform aus Sozialismus und Kapitalismus? Historische Erfahrungen sprechen laut Vetter eher dagegen. Aber eine Art „rheinischer Kapitalismus“, eine stärker sozial ausgeprägte Marktwirtschaft, wären seiner Einschätzung nach machbar gewesen. Allerdings ist ihm bewusst, dass dies unter den Bedingungen der Globalisierung kein leichtes Unterfangen gewesen wäre.

In der Folge ist vom „Überbordenden“, vom im Wortsinne Grenzenlosen und Grenzen Überwindenden – das nicht zuletzt im Traum von einem vereinten Europa seinen Ausdruck fand – nicht viel geblieben, wie Vetter nüchtern feststellt. Und so ist auch die gesamteuropäische Welt des Jahres 2019 eine andere geworden, als sie vor 30 Jahren zu werden schien.

Jan Zielonka: Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2019, 206 Seiten, 19,95 €

Christian Lahusen: Das gespaltene Europa. Eine politische Soziologie der Europäischen Union. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2019, 318 Seiten, 39,95 €

Brendan Simms: Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2019, 397 Seiten, 28,00 €

Romy Straßenburg: Adieu liberté. Wie mein Frankreich verschwand. Berlin: Ullstein Verlag 2019, 238 Seiten, 18,00 €

Lorenzo Marsili und Niccolò Milanese: Wir heimatlosen Weltbürger. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019, 281 Seiten, 18,00 €

Reinhold Vetter: Der Preis des Wandels. Geschichte des europäischen Ostens seit 1989. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2019, 339 Seiten, 24,00 €

Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 134-137

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