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01. Sep 2006

Sehnsucht nach Ordnung

Die veränderte politische und ökonomische Realität verlangt nach einer Anpassung der internationalen Institutionen

Groß ist sie schon, die Sehnsucht nach Ordnung. Aber noch nicht so groß wie während des Zweiten Weltkriegs. Noch glauben die etablierten Nationen, an ihren alten Rechten kleben zu müssen. Noch sorgt sich kein Großer (Geist) um die Stärkung der internationalen Organisationen. So schleppt sich der internationale Konferenzzirkus von Vorstellung zu Vorstellung – und alles spürt, die frühere Faszination ist verloren. So quälen sich die internationalen Organisationen von Beschluss zu Beschluss – oft freilich ohne Konsequenz. Und so degeneriert die internationale Struktur zum Recht des wirtschaftlich/militärisch Stärkeren ohne sachgerechte Regulierung auf der jeweils angemessenen Ebene. Und für lebenserhaltende Bereiche wie den Umweltschutz fehlt eine angemessene Regulierung oft ganz, auf staatlicher Ebene wie international.

Fast möchte man meinen, das Gemeckere der Intellektuellen und der Journalisten sei notorisch. Hat da nicht gerade zur rechten Zeit und in der idealen Konfiguration der Weltwirtschaftsgipfel in St. Petersburg stattgefunden? Waren dort nicht alle wichtigen Mächte an einem Tisch? Und hatte man nicht außerordentlich sensibel und kompetent für die Themen, die andere Länder essentiell betreffen, hinzugeladen – so China und Brasilien für die wichtige Frage der Doha-Runde? Also doch alles in Butter? Mitnichten. Die G-7-Runde ist ein Anachronismus. Zu einem Wirtschaftsgipfel gehören derzeit die USA, Japan und die EU, nachdem diese sich auf einen Sprecher geeinigt haben. Wenn auf absehbare Zeit jemand zu einem solchen Treffen hinzukommen sollte, so ist das China – aber frühestens in fünf Jahren. Russland hat in diesem Kreis nichts zu suchen. Selbstverständlich ist Russland für Rohstofffragen, insbesondere Energie, ein globaler Player. Selbstverständlich ist Russlands Rolle im politischen Gestalten seiner Südflanke für viele Fragen vom Iran bis Libanon, vom früheren Jugoslawien bis nach Nordkorea von strategischer Bedeutung. Aber sein ökonomisches Gewicht ist das einer Mittelmacht mit abnehmender Relevanz.

Terrorismus, der Gegensatz der Religionen, ethnische Konflikte werden im 21. Jahrhundert offenkundig wieder wichtiger. Dem wurde, was den Fokus der Debatte anlangte, in St. Petersburg entsprochen. Aber jeder wichtige Teilnehmer fuhr nach Hause mit seiner eigenen Interpretation des Abschlusskommuniqués. Das gleiche gilt für das ursprünglich als zentral vorgesehene Thema Energie. Von allem ein bisschen steht im Kommuniqué, und jeder kann zu Hause Erfolg vermelden. Indes sind keine die Weltenergieversorgung sicherer machenden Aufgaben verteilt worden – je nach Verantwortung und Möglichkeiten. Die Russen geben die Ablehnung privater Akteure mit strategischer Bedeutung für den Ausbau und die Effizienzsteigerung der Energiegewinnung und -verwendung nicht auf. Die USA artikulieren weiter ihren Widerstand gegen Umweltsteuern oder Emissionszertifikate, die zur Energieersparnis anregen. Die Deutschen planen weiter, sichere und betriebsbereite Kernkraftwerke abzuschalten. Niemand unternimmt große Forschungsanstrengungen für emissionsfreie Kohlekraftwerke – obwohl dies angesichts der Reichweite und Verteilung der Kohlereserven Umweltorientierung mit Versorgungs-sicherheit verbinden würde. Niemand forciert große Forschungsprojekte zur Nutzung erneuerbarer Energien (Geothermie, Solar, Wind, Biomasse); gleiches gilt für die dazu nötigen Distributionslösungen.

Zwar ist Pascal Lamy aus St. Petersburg zurückgekehrt mit dem Auftrag, das Unmögliche doch noch zu erreichen, nämlich einen Abschluss der Doha-Runde. Aber Frankreich scheint zu einer weitgehenden EU-Agrarreform nicht willens, und in den USA tickt die Uhr des Auslaufens von Fast Track sehr laut. Und die G-20-Länder Brasilien und Indien haben noch nicht jenes Verhandlungs- und -Koalitionsgeschick, das einen festgefahrenen Karren wieder flott macht. Die Verhandlungen wurden auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Damit ist der Abschluss der Doha-Runde gegenwärtig nicht absehbar – die Folgen eines Scheiterns hingegen sehr wohl. Es würde ein Wettlauf um bilaterale Handelsabkommen stattfinden und damit ein ineffizientes und kostspieliges Handelssystem entstehen.

Im Zweiten Weltkrieg haben sich in Bretton Woods Wissenschaftler und Politiker mit Visionen und wahrlich internationalem Geist getroffen, die aus den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg und deren fatalen Folgen konstruktive Schlussfolgerungen zogen. GATT, Weltbank, IWF und OECD entstanden. Die Vereinten Nationen wurden weiterentwickelt. Die BIZ übernahm internationale Finanz- und Regulierungsaufgaben. Diesen Geist gilt es wiederzubeleben. Es müssen Ergänzungen der internationalen Ordnung etabliert werden, die der neuen politischen und ökonomischen Realität entsprechen.

Dazu sollte eine internationale Gruppe etabliert werden, die den Namen „Royal Commission“, was Kompetenz und Ansehen anlangt, zu Recht besäße. Die Unterstützung der oben definierten G-3 und der in der G-20 vertretenen Regierungen ist für die sinnvolle Auftragsvergabe und nachfolgende Unterstützung nötig.

Die Weltwirtschaftsordnung kann bei globaler Vernetzung und immer rascherer und effektiverer Distribution und Kommunikation nur eine offene Ordnung sein. Die Verwirklichung von Subsidiarität, d.h. die Verantwortungszuweisung auf die organisatorisch niedrigste mögliche Ebene, ist ohne Alternative. Nur das, was wirklich global ist, sollte global geregelt werden. Hierfür müssen die Privaten, die Kommunen, die Staaten, ja die regionalen Verbände Regelungskompetenz auf internationale Organisationen übertragen. Es müssen Schiedsgerichte etabliert und ihre Urteile respektiert werden. Ohne eine solche Ordnung fällt die Welt zurück in Streit und – was wohl vor allem die Aufholenden schmerzhaft treffen würde – auf ein niedrigeres Wohlstandsniveau. Im Jahr 2006 ist dies keine pessimistische Aussage, sondern eine sehr reale Gefahr.

Die Regionen, auf die es ankommt, sind die USA und Europa. Gerade da aber hat sich zwar ökonomisches Gewicht, aber kein Integrationsgeist angesammelt. Frühestens nach den französischen Wahlen und der nächsten Präsidentenwahl in den USA gibt es ein Fenster für internationale Integration und mehr Akzeptanz für internationale Organisationen, die eine Ordnung der Weltwirtschaft mit intelligenter Regulierung und Überwachung sichern. Wir brauchen Nachfolger der Bretton Woods-Organisationen, eine globale Umweltbehörde, eine Aufwertung des Aufsichtsregimes für die Regulierung der Finanzmärkte (vielleicht bei der BIZ) und ein Regulierungssystem für internationale Wanderung, das Integrationsfähigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten optimiert.

Prof. Dr. NORBERT WALTER, geb. 1944, ist Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe in Frankfurt am Main. www.norbert-walter.de

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 60‑61

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