Sehnsucht nach der starken Hand
Die Denker und die Diktatoren
Stalin, Miloševic, Fidel: Wie kommt es, dass die zarten Seelen, die sich gerne in Südfrankreich oder in der Toskana erholen, immer wieder auf Protagonisten eines manichäischen Weltbilds hereinfallen, die die komplexen gesellschaftlichen Strukturen in ihrem Land gleichsam mit der Machete durchschlagen? Zur Sozialpsychologie der europäischen Intellektuellen.
Als der Moskauer Rundfunk am 6. März 1953 um 6 Uhr früh mitteilte, das Herz „von Jossif Wissarionowitsch Stalin, dem Kampfgefährten Lenins und genialen Fortsetzer seines Werkes“, habe „aufgehört zu schlagen“, begann eine monatelange Serie postmortaler Huldigungen, die ihresgleichen suchten und an denen sich ein Großteil der europäischen Intelligenz aktiv beteiligte. „Wir hatten“, schrieb später der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg in seinen Erinnerungen, „längst vergessen, dass Stalin ein Mensch war. Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt … Und plötzlich war dieser Gott an einem Blutgerinsel im Gehirn gestorben.“
Obwohl die Wahrheit über Stalins millionenfache Verbrechen längst bekannt war, wenn auch nicht in allen Details, ließen viele Geistesgrößen ihrer Bewunderung für den sowjetischen Führer noch einmal freien Lauf. In einem Beileidsschreiben der Deutschen Akademie der Künste hieß es, „dass auch wir, die Kunstschaffenden Deutschlands, in Stalin unseren großen Lehrer verloren haben …, den besten Freund unseres Volkes. Wir Kunstschaffenden Deutschlands geloben, in unserer Arbeit die Lehren Stalins zu verwirklichen und ihm, dem Genius des Friedens, die Treue zu halten.“
Unterschrieben haben diese geistig-moralische Selbstabdankung Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Ernst Busch, Willi Bredel, Paul Dessau, Hanns Eisler, Walter Felsenstein, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Herbert Ihering, Anna Seghers, Arnold Zweig, Erich Weinert, Helene Weigel, Friedrich Wolf, Ludwig Renn, Fritz Langhoff und viele andere. Bertolt Brecht setzte noch eins drauf und bekannte in einem persönlichen Statement: „Den Unterdrückten von fünf Erdteilen … muss der Herzschlag gestockt haben, als sie hörten: Stalin ist tot.“
Diese und andere ungezählte Hymnen auf einen skrupellosen Diktator und Massenmörder bilden nur Spitze und Höhepunkt einer schwärmerischen, politisch-mythologischen Heldenverehrung, für die gerade angeblich „kritische“ Intellektuelle besonders anfällig scheinen. Auch in dem guten halben Jahrhundert nach Stalins Tod haben Künstler und „Kulturschaffende“ immer wieder ihren unabhängigen Geist aufgegeben, um ihrer tiefen Sehnsucht nach einem Führer und Erlöser nachgeben zu können. Dass es sich dabei meist um Erlöserfiguren auf der Linken handelte, ändert nichts daran, dass das Phänomen der intellektuellen Entropie auch „rechts“ vorkommt. Prominente Beispiele dafür sind die Philosophen Carl Schmitt und Martin Heidegger, die Hitler in den ersten Jahren nach seiner Machtergreifung zum Vollstrecker einer beinah mythisch verstandenen Erneuerung des deutschen Volkes erklärten. Auch die störrische Affinität des Schriftstellers Peter Handke zum großserbischen Kreuzzügler und Völkermörder Slobodan Miloševic trug nicht gerade sozialistische oder kommunistische Züge.
Merkwürdig, ja unheimlich genug: Selbst nach dem Ende der epochalen ideologischen Schlachten des 20. Jahrhunderts lebt der eigentümliche Hang von Intellektuellen fort, sich diktatorischen Machthabern anzudienen. Auch hierfür könnte durchaus das Marxsche Bonmot gelten, Geschichte wiederhole sich nicht, und wenn doch, dann als Farce.
Discomiezen und Drogenjunkies
Schauen wir doch einmal auf einen nachgerade klassischen Anlass für die europäischen Linksintellektuellen, auch noch im 21. Jahrhundert das Zolasche „J’accuse!“ in die Welt hinaus zu rufen: Ein religiös motivierter Tyrann hatte die Wahlen zu seinen Gunsten fälschen lassen und die massenhaften Proteste dagegen blutig unterdrückt. Doch als vor bald einem Jahr der iranische Präsident Achmadinedschad seine Schläger- und Mörderbanden gegen hunderttausende Demonstranten in Teheran aufmarschieren ließ, hörte man von all denen, die sonst bei jeder Gelegenheit betroffen aufschreien, recht wenig.
Schlimmer noch: Neben jenen, die wie die Antiglobalisierungsorganisation Attac tagelang schwiegen, gab es linke Publizisten, die offen für den Diktator Partei ergriffen. So etwa Jürgen Elsässer, einst Autor der Jungen Welt, dazu für taz, Konkret, Jungle World und Neues Deutschland tätig. „Glückwunsch, Achmadinedschad!“, rief der Buchautor („Kriegslügen. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien“, 2008) auf seiner Homepage. All die jungen Frauen auf den Straßen Teherans mit ihren grünen Tüchern und den perfekten Englischkenntnissen vor den Kameras von CNN und BBC – „das sollen die Repräsentanten des iranischen Volkes sein oder auch nur der iranischen Opposition?“ Allah behüte: „Hier wollen Discomiezen, Teheraner Drogenjunkies und die Strichjungen des Finanzkapitals eine Party feiern. Gut, dass Achmadinedschads Leute ein bisschen aufpassen und den einen oder anderen in einen Darkroom befördert haben.“
Werner Pirker, von 1975 bis 1991 Redakteur und zeitweise Moskauer Korrespondent des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Österreichs, der Volksstimme, jetzt freier Autor („Ami go home. Zwölf gute Gründe für einen Antiamerikanismus“, 2003), holte in der Jungen Welt gleich das komplette vulgär-marxistische Besteck aus dem Tornister: „Die iranische Revolution anno 2009 hat sich in postmoderner Verkehrung des Revolutionsbegriffs die soziale Deemanzipation auf ihre Fahnen geschrieben.“ Die „Revolution im Zeichen der liberalen Hegemonie“ verfolge das Ziel der „vollen Wiedereingliederung des Iran in das System der imperialistischen Weltordnung“. Konsequent interpretierte Marxist Pirker den demokratischen Aufstand der iranischen Massen für die Freiheit als „asoziale Revolution“, kurz: als „konterrevolutionäre Revanche.
Der Mann kennt sich aus mit Wahrheit und Lüge. Im Jahr 1973 schrieb Pirker, damals Mitglied des MSB Spartakus und Mitherausgeber des Frankfurter Studentenmagazins Diskus, unter der Überschrift „Bukowski kennt man in der Sowjetunion nur im Irrenhaus“, die „lächerlich geringe Zahl“ von 200 Dissidenten in der UdSSR sei schlicht darauf zurückzuführen, „dass eine Opposition gegen den Sozialismus keine reale Basis hat“. So bleibe nur eine Frage: „Wem nützen die Märchen über Nervenheilanstalten, Arbeitslager, in denen Millionen ‚schmachten‘ sollen, und zuletzt die Aussage, die SU sei ‚ein gigantisches KZ‘?“ (Diskus 5/1973, S. 43). Immerhin ist der Genosse sich treu geblieben. Andere genieren sich inzwischen, wenn ihnen ihre alten Lobreden auf Lenin und Stalin, Mao Tse-tung und Fidel Castro, Pol Pot und Kim Il Sung, Ho Chi Minh und Enver Hodscha vorgehalten werden.
Doch so weit braucht man gar nicht zurückzugehen, um das merkwürdige Verhältnis vieler Linksintellektueller zu Demokratie und Diktatur zu betrachten. Obwohl sie selbst alle Freiheiten der westlichen Demokratie genießen, entwickeln sie immer wieder einen Hang zu vermeintlich linken, jedenfalls antiimperialistisch-antiamerikanischen Volkstribunen, Caudillos und Populisten. Zuletzt profitierte der venezolanische Präsident Hugo Chávez von dieser gleichsam platonischen Liebe zur fernen, aber doch exotisch glühenden Revolution.
Wie kommt es aber, dass die zarten und durchgeistigten europäischen Seelen, die sich gerne in Südfrankreich oder in der Toskana erholen, so oft eine Sehnsucht nach der starken Hand eines revolutionären Leaders verspüren? Wie kommt es, dass gerade ausgeprägte Individualisten mit der Fähigkeit, stundenlang über eine kleine theoretische Differenz einer bestimmten philosophischen Frage zu diskutieren, immer wieder auf Protagonisten eines manichäischen Weltbilds hereinfallen, denen es anscheinend gelingt, die hochkomplizierten gesellschaftlichen Strukturen und Abhängigkeiten in ihrem Land gleichsam mit der Machete zu durchschlagen? Warum verschließen bis heute so viele Ex-Sympathisanten der kubanischen Revolution unter Fidel Castro und Ché Guevara die Augen vor der katastrophalen Wirklichkeit im Jahre 2010? Warum empört man sich hierzulande über jeden „Datenskandal“ bei Facebook oder der Telekom tausendmal mehr als über den Tod eines kubanischen Dissidenten wie Orlando Zapata Tamayo, der Ende Februar nach einem 80-tägigen Hungerstreik elend im Gefängnis starb? Warum erregt sich kaum jemand über den einstigen Revolutionsführer Robert Mugabe, der seit Jahrzehnten und beinahe ungestört Simbabwe zugrunde richten kann? Und warum hat all das keinen Einfluss auf die liebgewordene Weltanschauung?
Diese Fragen zu stellen heißt, sie schon halb zu beantworten. Gerade weil die Welt so kompliziert ist, ist die Versuchung, sie revolutionär zu vereinfachen, so groß. Dabei hat die Utopieseligkeit vor allem deutscher Intellektueller stets eine romantische Note. Fast könnte man hier das berühmte Wort des Philosophen Herbert Marcuse von der „repressiven Entsublimierung“ anwenden. Was Marcuse als Kritik an der kapitalistischen Konsumgesellschaft verstand, könnte im Blick auf die intellektuelle Faszination charismatischer Volksbefreiungsführer in vergleichbarer Weise gelten. Denn auch in der revolutionären Projektion eigener, wohl unterdrückter Wünsche tritt ein Konsumverhalten zu Tage, das sich gleichsam unterhalb des sonstigen Reflexionsniveaus der Protagonisten seine Dosis innerer Befriedigung holt.
Gute Idee, böse Wirklichkeit
Gerade angesichts einer immer wieder desillusionierenden ernüchternden Wirklichkeit will man sich seine Träume nicht nehmen lassen. In der Logik dieser eigentümlichen Dialektik beweist selbst das ultimative Scheitern sozialistischer Modelle nur, dass die böse Wirklichkeit einen weiteren verabscheuungswürdigen Sieg über die Idee davongetragen hat. Der Gedanke, dass die Idee selbst Schuld sein könnte, liegt vielen Dichtern und Denkern immer noch fern.
So war es zu Stalins Zeiten, und so war es auch vor 20 Jahren, als mit dem Fall der Berliner Mauer das Ende der DDR unwiderruflich besiegelt war. In seinem berüchtigt zynisch-nihilistischen Gestus bekannte der Schriftsteller und Dramatiker Heiner Müller, dass das kapitalistische System des Westens letztlich nicht mehr Freiheit biete als zwei Bratwurstbuden: „Bei der einen gibt es etwas mehr Ketchup und bei der anderen mehr Senf. Das Ganze reduziert sich auf zwei verschiedene Arten, den Leuten die gleiche Wurst anzudrehen.“
Hier offenbart sich ein weiteres Motiv intellektueller Wahrnehmungsverzerrung: Selbsthass und Selbstverachtung, der metaphysische Ennui gegenüber dem normalen alltäglichen Leben und seinen kleinen großen Freiheiten. So gerne man sich selbst gelegentlich eine Currywurst (und vieles mehr) gönnt – als Metapher für einen letztlich amoralischen und ethisch beliebigen Materialismus vulgo Kapitalismus sind die kleinen Würstchen des angeblich grundfalschen Lebens stets rasch zur Hand. In dieser Perspektive blamiert die Utopie immer noch die Wirklichkeit: Die Idee schlägt jede Bratwurstbude mit 7:0.
In diesem sehr deutschen „Trotzalledem“ steckt viel verborgener Trennungsschmerz, viel uneingestandene Erkenntnis, die stets aufs Neue aufgeschoben wird. Ambiguität wandelt sich in Bigotterie, Widersprüche und Zweifel werden zu einem indifferenten Dauerleiden, das sich in vielfältigen Diskursen des Jammerns und (An-)Klagens ein wenig Luft verschafft. Derweil verkehrt sich das gute alte „Prinzip Hoffnung“ in eine „wehmütige Unbeirrbarkeit vermeintlich ewiger Verlierer“, wie Volker Zastrow 1990 in der FAZ formulierte. Womöglich ist es auch nur so zu erklären, dass der preisgekrönte DDR-Staatsschriftsteller Hermann Kant noch Ende November 1989 ein Redemanuskript für Egon Krenz verfasste, den letzten traurigen Mohikaner aus der verkommenen Riege von Erich Honecker & Co.
Welten entfernt scheint da Salman Rushdies legendäre Antwort auf die Frage, was denn eigentlich diese „Werte des Westens“ seien, die für viele Intellektuelle bis heute nur in verschämt-kritischen Anführungsstrichen zitierfähig erscheinen: „Küssen in der Öffentlichkeit, Schinken-Sandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechtere Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe.“ Für diese kleine, absolut unvollständige Aufzählung, die Rushdie kurz nach den verheerenden Terroranschlägen vom 11. September 2001 formulierte, haben viele Linksintellektuelle bis heute nur Hohn und Spott übrig. Denn am tiefsten Grunde ihrer mal mehr, mal weniger heimlichen Affinität zu Diktatoren im Revolutionshemd oder in schicken Phantasieuniformen mit Pistole und Patronengürtel liegt die Geringschätzung, ja Verachtung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie, der Kultur und Lebensweise des Westens insgesamt.
Freiheit und Menschenrechte sind da für viele nur die verlogene kapitalistische Folklore eines „eurozentrischen Kulturimperialismus“, der die Welt unter das alleinige Gesetz des Profits stellen will. Wer ein solches Selbstbild von der Gesellschaft mit sich herumschleppt, in der er lebt und arbeitet, ist geradezu gezwungen, sich immer wieder auf die Suche nach dem gelobten Land zu machen – und nach den Helden seiner Träume. Zur selbstverständlich kritischen Stärkung der Demokratie trägt er so allerdings kaum bei.
RHEINHARD MOHR ist Kulturredakteur des Spiegel.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 37 - 43