IP

01. März 2013

Schöne neue Welt

Demokratien könnten von der Schiefergas-Revolution am meisten profitieren

Revolutionen beginnen nicht nur auf Marktplätzen und in Palästen: Der plötzliche Boom an unkonventionellem Gas und Öl in den Vereinigten Staaten wird die Welt nachhaltig verändern. Auch wenn es
noch viele offene Fragen gibt: Der Energiemarkt dürfte einen geostrategischen Paradigmenwechsel auslösen, der die Demokratien stärkt.

Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts war gerade in Europa geprägt von einer Besorgnis, immer abhängiger von Rohstofflieferungen aus halb- und nicht­demokratischen Ländern zu werden. Doch jetzt deutet sich ein Paradigmenwechsel in der geostrategischen Debatte an. Verantwortlich dafür sind vor allem die Entdeckung sowie die technologisch mögliche und wirtschaftlich gewordene Förderung von so genannten „unkonventionellen Gas- und Ölvorkommen“ – vor allem in den USA, aber auch in anderen Teilen der Welt.

Während angesichts der rasanten Entwicklung zunächst vor allem die Auswirkungen auf die Energiemärkte im Fokus der internationalen Debatten standen, rückt nun die Frage in den Mittelpunkt, welche geostrategischen Auswirkungen die Funde an Schiefergas und unkonventionellem Öl haben können. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist eine vertrauliche Studie des Bundesnachrichtendiensts (BND), die erhebliche Auswirkungen für mehrere Weltregionen wie Europa und den Mittleren Osten, aber auch für das Verhältnis der jetzigen Supermacht USA und dem aufstrebenden China bis zum Jahr 2020 voraussagt.

Lassen sich auf dem Boom neue Strategien bauen?

Entscheidend für die geostrategische Debatte ist dabei die Frage, ob der derzeitig sprunghafte Ausbau der Förderung von Schiefergas und unkonventionellem Öl in den USA trotz der umweltpolitischen Debatte über die dafür nötige Fracking-Technologie ungebrochen weitergehen kann. Denn die angenommenen massiven weltpolitischen Veränderungen in den kommenden Jahren treten natürlich nur dann auf, wenn die USA wirklich bei der Energieversorgung autark werden und sogar als Gas- und Ölexporteur auftreten. „Wieviel Schiefergasmengen künftig zur Verfügung stehen, ist nicht so klar. Wir müssen im Blick haben, dass sich der politische und regulatorische Rahmen in den USA verändern könnte“, warnt etwa Kirsten Westphal, Energieexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Der unterstellte massive weitere Ausbau der Förderung ist deshalb keineswegs sicher.“

Allerdings wird diese Zurückhaltung weder von der US-Regierung, dem BND noch Energiekonzernen wie BP oder Total geteilt. Der BND-Bericht und der im Januar 2013 veröffentlichte „BP Energy Outlook 2030“ übernehmen vielmehr Annahmen der Internationalen Energieagentur (IEA), dass die USA bis 2020 Saudi-Arabien und Russland als größte Ölproduzenten der Welt abgelöst haben werden. Und möglicherweise läuft die Entwicklung noch schneller als die Experten erwarten: Der US-Sonderbeauftragte für Energiefragen im State Department, Carlos Pascual, teilte auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2013 jedenfalls mit, dass die Vereinigten Staaten bereits heute kein Gasimporteur mehr seien.

Auch ein gemeinsamer Szenarien-Workshop des Belfer Center an der Harvard Kennedy School und des Baker Institute der Rice University kam im Mai 2012 zu dem Ergebnis, dass die geopolitischen Folgen erheblich sein werden. Zwar hängt das Ausmaß von den tatsächlichen Fortschritten der Technologie, der umweltpolitischen Akzeptanz des Fracking, den Funden von Schiefergas und unkonventionellem Öl in anderen Erdteilen und der Frage ab, ob das in den USA geförderte Gas allein für die heimische Industrie verwendet wird oder aber wegen der Aussicht auf höhere Preise in anderen Weltregionen exportiert wird. Aber am Ende kommt die BND-Studie zu dem Schluss: „Das relative Schicksal der USA, Russlands und Chinas – und ihre Möglichkeiten, Einfluss in der Welt auszuüben – sind zu einem nicht unerheblichen Teil mit der Entwicklung des internationalen Gasmarkts verknüpft – und umgekehrt.“ Bemerkenswert ist die politische Analyse, dass ein schneller weltweiter Durchbruch bei unkonventionellem Gas und Öl letztlich den demokratischen Staaten sehr viel mehr nutzte als ein vorsichtiges Vorgehen.

Auswirkungen für die USA und China

Die Auswirkungen der Schiefergas-Bonanza sehen die Autoren der BND-Studie vor allem in drei Bereichen voraus. Zunächst einmal in den USA selbst, wo der in den vergangenen zwei Jahren zu beobachtende, plötzliche Verfall des Gaspreises wohl einen neuen Reindustrialisierungsschub auslöst. Angenommen wird, dass allein der Faktor des billigen Gases für drei Millionen neue Arbeitsplätze sorgen wird, auch in der Grundstoffindustrie. Noch wichtiger ist, dass die rasch sinkende Importabhängigkeit das gigantische amerikanische Außenhandels- und Leistungsbilanzdefizit dramatisch reduzieren kann. Die in den vergangenen Jahren rapide steigende Verschuldung der USA in anderen Teilen der Welt könnte erheblich gebremst werden. Dieser Faktor ist machtpolitisch nicht zu unterschätzen. Stabilisiert wird nach Meinung der Autoren auch die Rolle des Dollar als globale Leitwährung.

Was die BND-Studie nicht ausdrücklich erwähnt, ist die ebenfalls wichtige veränderte Wahrnehmung der USA durch den Rest der Welt: Erstmals seit der Finanzkrise wird durch den plötzlichen Öl- und Gasreichtum weltweit der Eindruck korrigiert werden, dass sich die Supermacht in einem unaufhaltsamen Sinkflug befindet. Allein dies verändert Politik, weil andere Mächte ihr Verhalten auch nach der erwarteten neuen wirtschaftlichen Stärke der Vereinigten Staaten ausrichten werden. „Die Stärke der heimischen Wirtschaft ist die entscheidende Grundlage für unsere Macht in der Welt“, betonte auch US-Vizepräsident Joe Biden jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Positive Veränderungen für die USA sehen die Autoren der BND-Studie auch im Verhältnis zu dem potenziellen künftigen Konkurrenten China. „Die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit für Washington dürfte wachsen“, heißt es da. Denn die amerikanische Abhängigkeit von Handelsrouten am Persischen Golf werde noch weiter sinken. Diese mit Blick auf die potenzielle Verwundbarkeit chinesischer Energieversorgungsrouten für die USA strategische günstige Konstellation werde den Handlungsspielraum Washingtons gegenüber Peking auch in anderen Politikfeldern erhöhen. Verwiesen wird zudem darauf, dass Chinas Marine noch längere Zeit brauchen wird, bis sie auch nur annähernd jenes Maß an Präsenz in der Golf-Region zeigen könne, wie dies derzeit bei der US-Flotte der Fall ist.

Nicht diskutiert wird dabei allerdings, dass auch China trotz seines rasant steigenden Energiehungers neue Versorgungsquellen sucht. So betonte Shells Aufsichtsratschef Jorma Ollila, dass es auch in China große Schiefergas-Vorkommen gebe, die die Regierung schnell erschließen wolle. Zudem könnte das Land seine Pipeline-Importe an Öl und Gas aus Russland erheblich ausbauen.

Die Crux für die bisherigen Lieferanten

Die zweite Ebene der geostrategischen Auswirkungen ist die Frage, wie sich die Revolution der unkonventionellen Gas- und Ölvorkommen auf die bisherigen Lieferanten von fossilen Rohstoffen auswirkt. Die amerikanische Schiefergas-Revolution hat hier in doppelter Weise Folgen: Die Vereinigten Staaten haben in den vergangenen Jahren bereits ihre Lieferwege diversifiziert und etwa mehr Öl aus der westlichen Hemisphäre bezogen. Das Problem für Länder wie Saudi-Arabien (Öl) und Katar (Gas) ist nicht so sehr, dass sie angesichts des weiter starken Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums etwa in Asien und Afrika keine Abnehmer für ihre Rohstoffe mehr finden werden. Schon heute gehen 75 Prozent des Öls, das die Straße von Hormus passiert, nach Asien. Indien und China gelten als stark wachsende Gas- und Ölmärkte.

Die BND-Autoren weisen aber darauf hin, dass die USA angesichts der neuen Unabhängigkeit ihre militärische Präsenz in der Region überdenken könnten. Zwar wies dies der US-Energie-Sonderbeauftragte Pascual in München entschieden zurück, weil die Vereinigten Staaten auch weiterhin ein Interesse an einem stabilen Öl- und Gaspreis und sicheren Märkten weltweit hätten. „Das verändert unser Engagement für die globale Sicherheit, den Frieden und die Stabilität im Nahen Osten und für die transatlantischen Beziehungen in keiner Weise“, wies er Rückzugsvermutungen zurück. Hinzu kommt, dass die Sicherheit Israels weiter eine Priorität der amerikanischen Außenpolitik sein wird. Diese Ansicht unterstützt auch François Heisbourg, der einen Rückzug nur als theoretische Option sieht.

Aber es könnte in den USA sehr wohl eine innenpolitische Debatte entstehen, wieso man sich eigentlich den gigantischen Militäraufwand zum Schutz der wenig demokratischen Golf-Scheichtümer noch leisten soll. Im Übrigen dürfte der Einfluss der OPEC-Staaten auf die weltweite Preisgestaltung für Öl noch stärker sinken, wenn andere Produzenten außerhalb der Region massiv Öl fördern. Die Belfer-Studie geht in einem ihrer Szenarien noch viel weiter. Sollte es wirklich zu einer weltweiten Liberalisierung der Förderung kommen, müssten wegen des einbrechenden Absatzes vier der sechs Golf-Staaten (Saudi-Arabien, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman) ihre massiven Subventionen für Benzin und die hohen Lohnkosten im öffentlichen Dienst kappen. Schwere Unruhen und ein Umsturz etwa in Saudi-Arabien wären die Folge.

Verlierer Russland?

Vor allem für Russland dürfte sich die geostrategische Ausgangslage ändern. Eigentlich galt seit Jahren in Deutschland und der EU die dauerhafte Abhängigkeit von Pipeline-gestützten Gaslieferungen aus Russland als unvermeidlich. Die Suche nach Alternativen etwa mit der Nabucco-Pipeline, um Gas aus Aserbaidschan, Irak, irgendwann auch Turkmenistan oder Iran nach Europa transportieren zu können, war mühsam. Aber die Debatte wird sich nun dramatisch ändern.

Zwar gibt es bei Gas immer noch keinen Weltmarkt. Dennoch hat die Umleitung der eigentlich für die USA gedachten Mengen an Flüssiggas etwa aus Afrika oder Katar auch in Europa zu Preissenkungen geführt. Der Druck ist so groß geworden, dass Russlands Gaskonzern Gazprom in Nachverhandlungen etwa mit deutschen Abnehmern einen Abschlag auf die Preise in den Langfristverträgen akzeptiert hat.

Strategisch betrachtet sinkt die Verhandlungsmacht Russlands gegenüber den Europäern, auch wenn diese gute Kunden bleiben. Dieser Punkt war seit Jahren auch ein Anliegen der US-Regierung, die deshalb die Nabucco-Pipeline befürwortet. Das Sonderproblem für Russland ist, dass es wegen seiner relativ hohen Produktionskosten von Gas und Öl besonders anfällig für Preissenkungen ist – und der Staatshaushalt wegen der immer wieder verschleppten Modernisierung der Wirtschaft weiterhin extrem abhängig von den Rohstoff-Einnahmen ist. Zwar gehen auch die Autoren der BND-Studie – angesichts der Förderkosten auch des unkonventionellen Öls – nicht davon aus, dass die Untergrenze des künftigen Ölpreises auf unter 70 Dollar pro Barrel sinken wird. Aber Russlands wieder erwachter Machtanspruch baue auch auf der Annahme stetig steigender Rohstoffeinnahmen auf, mit denen dann etwa die Modernisierung des Militärapparats finanziert werden könnte. In einem der Szenarien der Belfer-Studie wird nun aber sogar ein Zusammenbruch Russlands für möglich gehalten.

Der neue Lieferant

Die Tendenzen können sich sogar noch erheblich verstärken, wenn die USA selbst zum Exporteur von Öl und Gas werden. „Für die Entwicklung auf den globalen Erdgasmärken ist das ganz entscheidend“, meint SWP-Expertin Westphal. „Verflüssigtes Schiefergas aus den USA würde nicht nur zu einem erweiterten Angebot führen, sondern hätte auch massive Auswirkungen auf die Globalisierung des Marktes und die Angleichung der Preise.“

Der amerikanische Energie-Sonderbeauftragte Pascual wies Anfang Februar darauf hin, dass die Frage des Exports noch offen sei – und hochpolitisch. Weil die Energieversorgung für die USA seit Jahrzehnten eine Frage der nationalen Sicherheit ist, muss eine Ausfuhrlizenz beim Energieministerium eigens beantragt werden. Bis Anfang Februar hatte die US-Regierung erst eine Lizenz vergeben – aber 16 weitere Anträge wurden geprüft.

Die Abwägung ist klar: Einige der aus dem Boden sprießenden Förderfirmen sind am Export interessiert, weil sie wegen des zurzeit niedrigen Preisniveaus in den USA darauf setzen, auf Auslandsmärkten höhere Preise zu erzielen. Die US-Regierung schwankt dagegen zwischen ihrer Philosophie der freien globalen Märkte und dem Wunsch nach Autarkie. Wenn die Förderung den heimischen Bedarf weit übersteigen sollte, dürften die Vereinigten Staaten aber auf jeden Fall in den Export einsteigen.

Gewinnt oder verliert Europa im großen Schiefergas-Spiel?

Noch ist unklar, ob sich die geostrategische Lage für Europa verbessern oder verschlechtern wird. Erwähnt wurde schon, dass Deutschland und die EU in der BND-Studie eigentlich zu den Gewinnern gezählt werden. Denn zum einen sinkt die Abhängigkeit von Russland, zum anderen der Gaspreis. Allerdings warnen Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler und der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) davor, dass es auch gegenteilige Effekte geben kann. Denn der wesentlich stärker gesunkene Gaspreis in den USA droht zum echten Standortnachteil für Europa zu werden. Beide berichten von ersten Abwanderungen von energieintensiven Unternehmen.

Eine Unbekannte ist zudem die Ausbeutung der eigenen europäischen Schiefergas-Vorkommen. Hier tut sich eine Kluft auf, die – vereinfacht ausgedrückt – verblüffend nahe entlang der Linien beim Irak-Krieg verläuft. Das Atomland Frankreich und Deutschland mit seiner starken Umweltschutzbewegung sind sehr zurückhaltend und beschäftigen sich nur sehr ungern mit dem Thema Fracking. Frankreich hat sogar bereits ein Fracking-Moratorium erlassen. In Deutschland machen die Umweltverbände gegen die ersten Erkundungen der Vorkommen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen mobil. Auch der Bundesrat hat sich schon warnend zu Wort gemeldet. Und dass die BASF-Tochter Wintershall ihre Lizenzen an den Feldern an die norwegische Statoil abgetreten hat, ist ebenfalls ein Zeichen, dass man sich hierzulande kaum Chancen ausrechnet, überhaupt Schiefergas fördern zu können. Dagegen forcieren aber etwa Großbritannien, Polen und die Ukraine die Erkundung der eigenen Vorkommen. Der Grund für die Osteuropäer: Der Wunsch nach einem Ende der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen überwiegt dort alle Umweltbedenken.

Interessanterweise gehören auch die USA zu den Hauptlobbyisten für die Nutzung des Schiefergases in Europa. Zum einen dürfte dies damit zu tun haben, dass wachsender Widerstand in der EU auf die US-Umweltverbände abfärben und den dortigen Boom gefährden könnte – denn die Debatte läuft in US-Bundesstaaten wie Texas oder Pennsylvania sehr unterschiedlich. Zum anderen aber hat Washington geostrategische Ziele. Wie bei der Nabucco-­Pipeline unterstützt die amerikanische Regierung generell Bemühungen der Verbündeten, unabhängiger von den Lieferungen aus halb- oder undemokratischen Staaten zu werden.

So zeichnen sich die größeren Entwicklungslinien bereits ab: Die Schiefergas-Revolution kann für einen erheblichen Zeitraum im 21. Jahrhundert zu einem Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen führen: West­liche Demokratien könnten insgesamt unabhängiger von ihren bisherigen Lieferanten fossiler Brennstoffe werden. Denn nicht nur die USA kurbeln die Förderung an. Zwei andere künftige große Spieler werden die stabilen Demokratien Brasilien und Australien sein – das übrigens nach Schätzung der Belfer-Forscher 2030 Katar als größten LNG-Produzenten ablösen könnte.

Dr. Andreas Rinke ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2013, S. 18-23

Teilen

Themen und Regionen