Schluss mit dem Russland-Komplex
Wie eine deutsche Politik der Verantwortung aussehen muss
Deutschland will sich international stärker engagieren. Was bedeutet das im Hinblick auf die Politik des russischen Präsidenten, Wladimir Putin? Und welche Handlungsspielräume hat Europa, auf die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine zu reagieren?
„Die Bundesrepublik muss bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die ihr über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“, so verkündete erst vor kurzem der Bundespräsident im Chor mit Außenminister und Verteidigungsministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Botschaft von der neuen Ausrichtung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Niemand ahnte, dass bald danach die völkerrechtswidrige russische Annexion der Krim die Fähigkeit der Bundesregierung auf die Probe stellen sollte, tatsächlich politische Führungsverantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Denn Putins Invasion ist die ernsteste Bedrohung für Frieden und Freiheit in Europa seit Ende des Kalten Krieges.
Zu einer solchen neuen Verantwortung gehört es, die Ereignisse schonungslos zu analysieren, Europas Möglichkeiten, darauf zu reagieren, aufzuzeigen und schließlich, die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine künftige deutsche Russland-Politik zu ziehen.
- Nach der militärischen Annexion der Krim bleibt offen, ob Putin weitere Regionen in der Ostukraine besetzen wird; davon abhalten könnte ihn derzeit niemand. Diese rücksichtslose Machtpolitik Putins bedeutet ein Scheitern aller bisherigen, auf politischen Interessenausgleich ausgerichteten Initiativen deutscher Russland-Diplomatie, die sich bis in die Utopien einer „Modernisierungspartnerschaft“ verstiegen hat. Die Bundesregierung sollte den Mut haben, sich dies einzugestehen.
- Derzeit sind weder die USA noch ein europäischer NATO-Staat fähig und politisch willens, einem weiteren russischen Vordringen in die Ukraine Einhalt zu gebieten, geschweige denn die Annexion der Krim rückgängig zu machen
- Die von der EU angedrohte Steigerung von Sanktionen kann in den Medien noch so martialisch inszeniert werden – aufgrund ihrer Harmlosigkeit werden sie bei Putin allenfalls ein müdes Lächeln hervorrufen. Denn welche Sanktion sollte wirken? Pfändung der Konten? Gefüllte Geldkonten haben die Oligarchen und russischen Politiker auch außerhalb Europas genug. Wirtschaftsboykott? Europa und insbesondere die Bundesrepublik hängen von russischen Energielieferungen ab. Diese kann Putin drosseln und die Einnahmeverluste auf den Gaspreis für die Ukraine draufschlagen. Diese Preiserhöhung wird die Ukraine dann, welch Ironie, mithilfe der zusätzlichen EU-Finanzmittel bezahlen, die mit der jetzt schnell angestrebten Assoziierung der Ukraine einhergehen würden. Im Übrigen wird Putin genüsslich abwarten, wie lange die Bundesregierung das Geschrei der deutschen Wirtschaftslobby über die dann folgenden russischen Gegenmaßnahmen aushält, bevor sie einknickt. Das autoritäre Putin-Regime hält einen Einnahmeverzicht politisch länger durch als Deutschland einen Energieverzicht. Das diplomatische Spektakel zahnloser Sanktionen vertuscht nur die tatsächliche politische Ohnmacht des Westens.
- Die vielen diplomatischen Initiativen verkennen die Natur von Putins politischem System und seiner Macht. Mit seiner Kriegspolitik des 19. Jahrhunderts festigt Putin sein politisches System und steigert Russlands außenpolitisches Gewicht in der Welt. Gleichzeitig täuscht er über die vielen innenpolitischen Schwächen hinweg und wird von 80 Prozent der russischen Bevölkerung dafür umjubelt, die Krim „zurückgeholt“ zu haben; ähnlich würde eine Rückgewinnung der Ukraine – die Wiege der Rus – begrüßt werden. Eine Isolierung seines Landes kann Putin schnell als die übliche westliche Diffamierung der wahren Größe Russlands erklären und damit den Nationalstolz nur stärken. Was für jeden westlichen Beobachter so schwer zu verstehen ist: Diese Politik mag Russland langfristig schaden, aber darum geht es Putin nicht. Ihm ist jedes Mittel recht, sein Gewaltregime jetzt zu stärken.
Wahrscheinlich kann Putin noch weitere zehn Jahre bis 2024 amtieren, geht man von seiner Wiederwahl 2018 aus. Das ist in der heutigen Zeit eine Ewigkeit. Vor allem angesichts der bitteren Erkenntnis, dass Putin nur die Politik des 19. Jahrhunderts versteht, während er die an Frieden und Recht orientierte Politik des modernen Europas als dekadente Schwäche auslegt.
Die Bundesregierung muss den NATO-Beitrittsprozess der Ukraine wiederbeleben und aktiv betreiben, anstatt sich auf die Rolle eines Moderators in sicherheitspolitischen Fragen zu beschränken oder sich ganz zu enthalten. Vor allem müsste sich Berlin endlich von seinem „Russland-Komplex“ und seinen historischen und kulturellen Sonderbeziehungen zu Russland befreien. Dieser Komplex führt dazu, dass jede Bundesregierung nahezu alles akzeptiert, was Russland tut – ob 2008 in Georgien oder heute in der Ukraine, und damit wird die Sicherheit Europas gefährdet. Europa steht in den kommenden zehn Jahren vor der Alternative, entweder zuzuschauen, wie Putin weiter Fakten schafft, oder ihm durch einen wiederbelebten NATO-Beitrittsprozess für die Ukraine Einhalt zu gebieten. Ob Deutschland tatsächlich die neue Verantwortung in der Sicherheitspolitik übernimmt, die der Bundespräsident angekündigt hat, wird entscheidend dafür sein, welchen Weg Europa wählt. In der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin am 13. März war bei aller markigen Analyse davon noch nicht viel zu spüren.
Jörg Himmelreich lehrt Politische Wissenschaft an der Jacobs-Universität, Bremen, und war Sachverständiger der EU-Untersuchungskommission zum Georgien-Krieg 2008.
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