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01. März 2010

Gute Nachbarschaft

Die Türkei als strategische Drehscheibe

Jahrzehntelang waren Misstrauen und Feindseligkeit zwischen der Türkei und ihren Anrainern der Regelfall, Allianzen bestanden einzig mit dem Westen. Jetzt ist es der türkischen Regierung gelungen, ihre Beziehungen in der Region in historischem Ausmaß zu revolutionieren. Brüssel sollte die Vorteile der neuen türkischen Außenpolitik nutzen.

In den vergangenen Jahren ist der türkische Beitrittsprozess auf der europapolitischen Agenda immer mehr in den Hintergrund gerückt. Auch in Deutschland reicht die Debatte kaum über die Integrationsproblematik und den Streit um „Vollmitgliedschaft“ oder „privilegierte Partnerschaft“ hinaus. Dass die Aufmerksamkeit der Europäer gerade jetzt schwindet, ist jedoch kurzsichtig. Brüssel verkennt, dass sich in der türkischen Außenpolitik ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Mit ihrem Engagement in den instabilen Nachbarregionen gewinnt die Türkei außenpolitisch an Gewicht, was das Interesse der Europäer an ihrem Beitritt eigentlich erhöhen sollte. Zudem besteht die Gefahr, dass das Desinteresse in Brüssel eine ohnehin bestehende Europa-Müdigkeit in der türkischen Gesellschaft noch verstärkt.

Architekt des außenpolitischen Kurswechsels ist Erdogans langjähriger Berater Ahmet Davutoglu. Seit 2009 nutzt er als Außenminister seine Gestaltungsmöglichkeiten, der Türkei jene Rolle zuzuweisen, die er 2001 in seinem Buch „Strategische Tiefe: die internationale Rolle der Türkei“ konzipiert hat. Nach der Vorstellung des „türkischen Henry Kissinger“, wie er nicht ohne Bewunderung genannt wird, habe sich die Republik seit ihrer Gründung im Jahre 1923 mit ihrer strikten Neutralität gegenüber benachbarten Konflikten und mit ihrer alleinigen Allianz mit den USA während des Kalten Krieges eine außenpolitische Selbstisolierung auferlegt. Die Türkei versäumte es, ihre vielfältigen historischen und kulturellen Verbindungen in der Region zur Konfliktbewältigung zu nutzen.

Um dieses Potential voll auszuschöpfen, müsse die Türkei ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn im Südkaukasus und im Nahen Osten verbessern, den Außenhandel mit ihnen intensivieren und den grenzüberschreitenden Besucherverkehr und damit den Kontakt zwischen den Gesellschaften erleichtern – eine Nachbarschaftspolitik, die Brüssel im Übrigen von jedem Beitrittskandidaten erwartet. Mit dieser Strategie ist es der Türkei gelungen, die zuvor angespannten Beziehungen zu ihren Nachbarn in historischem Ausmaß zu revolutionieren. Waren vor 20 Jahren Misstrauen und Feindseligkeit zwischen der Türkei und ihren Nachbarn der Regelfall, ist heute nur noch das Verhältnis zu zwei Nachbarstaaten problematisch, nämlich zu Armenien und Zypern. Und auch hier haben vielversprechende Verhandlungsprozesse begonnen.

Am 10. Oktober 2009 unterzeichneten der türkische und der armenische Außenminister in Zürich ein Protokoll, das die Öffnung ihrer Grenzen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorsieht. Bisher waren die Beziehungen von der Weigerung Ankaras überschattet, den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs anzuerkennen. Das armenische Verfassungsgericht in Eriwan erklärte jüngst das Protokoll nur unter Vorbehalten für verfassungsgemäß. In der Türkei, in Armenien und in der armenischen Diaspora versuchen Nationalisten, die Ratifizierung des Protokolls durch die Parlamente zu verhindern. Und Aserbaidschan, der andere südkaukasische Nachbar, der Türkei wegen seiner engen sprachlichen und kulturellen Verwandtschaft verbunden und über die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline ihr wichtigster Gas- und Öllieferant, drängt Ankara hingegen, Zugeständisse im Nagorny-Karabach-Konflikt zur Bedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Armenien zu machen. Doch trotz dieser noch zu überwindenden Hürden stellt das Zürcher Protokoll einen Durchbruch in den armenisch-türkischen Beziehungen dar, der noch vor zwei Jahren kaum möglich schien.

In der Kurdenpolitik verfolgt die Regierung Erdogan seit dem letzten Sommer eine Strategie der Öffnung. Zuvor sah sich das türkische Militär immer wieder gezwungen, in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) im Nordirak gegen die Rückzugsbasen der als Terrororganisation geltenden kurdischen Befreiungsfront (PKK) vorzugehen. Ankara drohte dem irakischen Diktator Saddam Hussein sogar, die ARK im Irak zu besetzen. Inzwischen hat sich in der AKP-Regierung aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass die PKK nur mit politischen Mitteln entwaffnet und der Kurdenkonflikt militärisch kaum gelöst werden kann. Sie kooperiert daher mit der kurdischen Regionalregierung im Irak und erkennt die irakische Territorialität an. Mit ihrer Strategie, die Forderung nach kurdischen Autonomierechten prinzipiell anzuerkennen, tut die AKP-Regierung mehr für die Beilegung des Konflikts als jede türkische Regierung zuvor und erfüllt damit nicht zuletzt eine zentrale Vorgabe im EU-Beitrittsprozess.

Auch in anderen Bereichen sorgte die neue türkische Außenpolitik für verbesserte Beziehungen zum Irak. Seit 2003 organisierte Davutoglu etliche Treffen irakischer Nachbarstaaten auf Außenministerebene, um einem drohenden Staatszerfall des Irak entgegenzuwirken. Ankara förderte zudem die Integration der Sunniten in die irakische Nachkriegsordnung und knüpfte gleichzeitig Beziehungen zur schiitischen Bevölkerungsmehrheit, um eine politische Alternative zum Iran zu schaffen. Türkische Produkte finden nunmehr nicht nur in der ARK, sondern im gesamten Irak Absatz. Mit dem türkischen Beitrag zur Stabilisierung des Irak entspannen sich auch die Beziehungen zu den USA, die seit der Auseinandersetzung um den Einmarsch in den Irak 2003 belastet waren.

Ähnlich verhält es sich mit Syrien: Standen Ankara und Damaskus früher wiederholt kurz vor dem Ausbruch einer bewaffneten Auseinandersetzung, so haben der syrische Präsident Baschar al-Assad und Erdogan im Oktober 2009 ein Abkommen für den visafreien Personenverkehr abgeschlossen. Auch wenn die Syrer die fast 400-jährige Fremdherrschaft der Osmanen keineswegs vergessen haben, sehen sie die Annäherung an die Türkei durchaus als Chance und Möglichkeit, die Isolation durch den Westen zu durchbrechen, ohne amerikanischen Forderungen nachgeben zu müssen.

Bisher waren die Bemühungen der Türkei, Syrien zu Reformen zu bewegen, nicht sonderlich erfolgreich. Immerhin zog Syrien 2005 seine Truppen auf ägyptischen, aber auch auf türkischen Druck aus dem Libanon ab. Aufgrund der guten Beziehungen der Türkei sowohl zu Syrien als seinerzeit auch zu Israel kam es 2008 in Istanbul zu mehreren informellen Gesprächsrunden zwischen der israelischen und der syrischen Seite. Zwar wurden diese Gespräche nach dem Gaza-Krieg im Januar 2009 abgebrochen, doch immerhin waren sie ein Beitrag zum israelisch-arabischen Friedensprozess,  der Brüssel bislang nicht gelungen ist. Auf Wunsch der Ägypter und der Franzosen trug die Türkei mit eigenen Verhandlungen mit der Hamas im Januar 2009 zum Ende des Gaza-Kriegs bei.

Allianz mit dem Erzrivalen

Auch ihre Beziehungen zu ihrem historischen Erzrivalen Iran wertete die Türkei auf. Obwohl das theokratische Mullah-Regime im Iran für die säkulare, kemalistische Elite eigentlich den Inbegriff islamischer Bedrohung darstellt, koordinieren Ankara und Teheran mittlerweile pragmatisch ihre Militäreinsätze gegen kurdische Terroristen. Anders als der Kurdenkonflikt stellt die Aussicht auf einen nuklear bewaffneten Iran für das türkische Militär nicht die höchste unmittelbare Sicherheitsbedrohung dar. Sowohl der AKP-Regierung als auch dem Militär geht es vielmehr darum, welche Auswirkungen iranische Nuklearwaffen für das regionale Mächtegleichgewicht im Nahen Osten haben.

Grundsätzlich begrüßt Ankara die Bemühungen des Westens, das iranische Nuklearprogramm einzugrenzen. Doch auf absehbare Zeit wird die Türkei wohl keine Nutzung des türkischen Luftraums für eventuelle Angriffe Israels oder der USA erlauben. Das liegt auch daran, dass das türkisch-iranische Verhältnis zunehmend von einer strategischen Allianz zur Erschließung der iranischen Öl- und Gasreserven bestimmt wird.

Nach Russland verfügt der Iran über die weltweit zweitgrößten Gasreserven und ist damit als Gaslieferant der drittgrößte Handelspartner der Türkei nach Russland und der Ukraine. Die Türkei plant, iranisches Öl über den Landweg an den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu führen, ebenso wie turkmenisches Gas über den Iran in die Türkei. Für die Europäer wären beide Varianten vorteilhaft, da sie zusätzliche Liefermengen und weniger Abhängigkeit von Russland versprechen.

Während der außenpolitische Kurswechsel die Beziehungen zu fast allen Nachbarstaaten verbesserte, erreichte das türkisch-israelische Verhältnis einen Tiefpunkt. Israel war lange Zeit der einzige regionale Verbündete in einer Region, in der sich die laizistische Türkei von feindseligen islamischen Staaten umzingelt sah. Mit der außenpolitischen Öffnung der Türkei gegenüber den arabischen Nachbarn hat die strategische Allianz mit Israel allerdings an Bedeutung verloren. Das wird nicht verhindert, sondern als Preis für das gestiegene Ansehen in der arabischen Welt akzeptiert. Populistische Entgleisungen auf beiden Seiten tragen ihr Übriges zur Verschlechterung der türkisch-israelischen Beziehungen bei.

In keinem Bereich feiert Davutoglus Außenpolitik mehr Erfolge als in der Energiepolitik. Besonders ihre Lage zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten verschafft der Türkei eine einzigartige Brückenfunktion. In den vergangenen Jahren hat sie sich zu einem Knotenpunkt internationaler Öl- und Gaspipelines entwickelt und in der internationalen Politik an Gewicht deutlich gewonnen. Auch deshalb ist die Türkei zum unverzichtbaren Grundstein europäischer Energiesicherheit geworden. Neben den erwähnten Pipeline-Projekten im Iran und der BTC im Südkaukasus unterzeichneten die Staatschefs der Türkei, Bulgariens, Rumäniens, Ungarns, und Österreichs am 12. Juli 2009 in Ankara das Nabucco-Projekt, das Gas aus Zentralasien und dem Irak über den Balkan nach Europa transportieren soll. Kurz darauf besiegelten Putin und Erdogan am 6. August 2009 das Konkurrenzprojekt Southstream, das russisches Gas durch das Schwarze Meer in die Türkei und von dort über den Balkan nach Westeuropa liefern soll. Russland, das seit Jahrhunderten und insbesondere im Kalten Krieg mit der Türkei um Einfluss in Eurasien konkurrierte, ist zu einem bevorzugten Handelspartner in der Energiewirtschaft geworden.

Der innertürkische Reformprozess und das EU-Beitrittsverfahren können allerdings nicht vollendet werden, solange der Zypern-Konflikt ungelöst ist. 2004 nahm die EU Zypern als Mitglied auf, ohne dass es zuvor zu einer Wiedervereinigung des griechischen mit dem türkischen Inselteils kam. Mit dieser strategischen Fehlentscheidung machte sich die EU zur Geisel der griechischen Inselmehrheit, die Zypern in der EU vertritt und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei jederzeit blockieren kann. Ankara, Brüssel und Athen sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in seinen Bemühungen um eine Wiedervereinigung zu untestützen.

Die Türkei hat sich aus ihrem engen bündnispolitischen Korsett befreit und avanciert vor allem in ihrer muslimischen Nachbarschaft zu einem glaubwürdigen Vermittler in regionalen Konflikten. Gerade die arabische Welt sieht in der Türkei auch eine Art Vorreiter des politischen Dialogs und der Annäherung an Europa. Doch Ankara darf nicht der Versuchung erliegen, sich von der EU abzuwenden. Vielmehr gewinnt die Türkei ihr Gewicht vis-à-vis der Nachbarschaft gerade aufgrund ihrer Beitrittsperspektive.

Eigentlich müsste daher Brüssel ein gesteigertes Interesse daran zeigen, dem sich dahinschleppenden Beitrittsprozess neues Leben einzuhauchen. Der türkische Beitritt würde der EU mehr Gewicht im Nahen und Mittleren Osten verschaffen und die Einflussmöglichkeiten der Europäer in dieser Region erhöhen. Brüssel sollte zudem erkennen, dass die dauernden Zweifel europäischer Politiker an der Beitrittsfähigkeit der Türkei den innertürkischen Reformprozess enorm erschweren. Die Beitrittsverhandlungen sind seit 2005 eröffnet und sollten, sofern sie alle Voraussetzung erfüllt, der Türkei eine reelle Chance auf Mitgliedschaft bieten.

Die jährlichen Fortschrittsberichte der EU belegen deutlich, dass die Türkei weiterhin erheblichen Reformbedarf hat. Doch es geht nicht um den Beitritt der heutigen Türkei in die heutige EU. Sondern darum, mit einer reformierten Türkei langfristig ein Europa zu schaffen, das gerade wegen seines muslimischen Mitgliedstaats als politischer Kooperationspartner in der arabischen Welt anerkannt ist. Dieses neue, um die Türkei bereicherte Europa ist gegenüber der arabischen Welt gestärkt und eher in der Lage, die Vielzahl von Konflikten in der Region zu entschärfen.

Dr. JÖRG HIMMELREICH ist Senior Transatlantic Fellow des German Marshall Fund in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2010, S. 62 - 67

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