Bislang hat die westliche Staatengemeinschaft eine erhebliche Flexibilität im Umgang mit Russlands Komplexen gezeigt. Der westliche Ansatz gegenüber Russland ist seit einem Vierteljahrhundert durch das Bemühen gekennzeichnet, russischen Empfindlichkeiten so weit wie möglich frühzeitig zu begegnen, ohne die eigenen Prinzipien zu verraten.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wird von westlicher Seite sorgsam darauf geachtet, nichts zu unternehmen, was russischen Sicherheitsbefürchtungen Nahrung geben könnte. Die Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, die nuklearen Abrüstungsverträge (INF, START, SORT), die Gründung des NATO-Russland-Rates, die Integration Russlands in den G8-Rahmen, der Verzicht auf die Stationierung von NATO-Truppen in den neuen Mitgliedstaaten der Allianz: All das waren wichtige Schritte, die einer stark in Kategorien der Geopolitik denkenden Kreml-Führung signalisieren sollten, dass der Westen sich der Problematik bewusst ist.
Auch Präsident Obamas Bemühungen um einen reset in den Beziehungen zu Russland oder die jahrelangen Verhandlungen über die Vorstellungen Präsident Medwedews über eine neue Sicherheitscharta Europas waren Versuche, mit Russland in einen vernünftigen Dialog zu treten, der dortige Befindlichkeiten berücksichtigt. Andererseits kannte die westliche Bereitschaft zum Entgegenkommen auch klare Grenzen: etwa dann, wenn die Souveränität von unabhängigen Staaten durch Russland in Frage gestellt wurde oder wenn Russland gewaltsame Konflikte weiter anheizte. Schon in den neunziger Jahren wurden Bruchstellen erkannt, an denen die Kooperation mit Moskau enden kann.
Die US-Regierung und die europäischen Regierungen waren sich einig, dass es galt, die Beziehungen zu Russland aus der Konfrontation schrittweise in eine Partnerschaft zu überführen. Es gab und gibt durchaus Beispiele für gelungene Kooperation, insbesondere bei der Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen und der Bekämpfung des Terrorismus (wozu auch die russische Unterstützung des ISAF-Einsatzes in Afghanistan zählt). Auch die europäische Zusammenarbeit mit Russland auf dem Energiesektor oder die der USA in der zivilen Weltraumnutzung gehören dazu.
Enttäuschte Erwartungen
Darüber hinaus wurden fast alle westlichen Erwartungen enttäuscht. In den USA und Westeuropa waren Anfang der neunziger Jahre die Hoffnungen groß, dass Russland im Fall des Krieges in Bosnien und Kroatien mäßigend auf den serbischen Präsidenten Milosevic einwirken würde, der der Hauptverantwortliche für die brutale ethnische Kriegsführung war. Doch die damalige Kreml-Führung hielt Milosevic über Jahre die Stange und versuchte, ihn gegen westlichen Druck abzuschirmen – bis die NATO einseitig handelte und 1995 das Morden in Bosnien-Herzegowina beendete. Das gleiche Drama wiederholte sich 1998/99 in der Kosovo-Krise.
Seither ist die Erwartung der amerikanischen Regierung an die Kooperationsbereitschaft Russlands bei der Lösung regionaler Konfliktherde auf Null abgesunken. Seit dem Kosovo gilt: Wo immer lokale Herrscher ins Visier der zumeist von den USA oder Europa angeführten „internationalen Gemeinschaft“ geraten, weil sie ihre eigenen Bürger terrorisieren und massenweise töten oder andere Länder mit Gewalt überziehen, können diese damit rechnen, von Moskau unterstützt zu werden. Von Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi bis zu den Kims in Nordkorea und Baschar al-Assad in Syrien gibt es eine lange Kette solcher Fälle.
Die russische Regierung sieht sich in erster Linie als Antipoden der USA und handelt entsprechend – das war schon unter Boris Jelzin so und hat sich unter Putin dramatisch verschärft. In der Folge sind einige Konflikte unlösbar geworden: ohne die massive Waffenhilfe und Ermutigung Moskaus wäre Assad im Frühjahr 2011 nicht so weit gegangen, die friedlichen Proteste in Syrien mit brutaler Gewalt zu unterdrücken.
Wer heute die angeblich mangelnde Sensibilität des Westens gegenüber dem russischen Sicherheitsdenken als Ursache der Ukraine-Krise bezeichnet, trägt zu einer verhängnisvollen Fehlperzeption der russischen Politik bei. Die Ukraine-Krise ist aus dem Zusammentreffen zweier Entwicklungen entstanden: zum einen der desolaten Bilanz aller bisherigen ukrainischen Regierungen (auch denjenigen der orangenen Revolution) und zum anderen der antiwestlichen Konfrontationspolitik Moskaus, für die Putin spätestens seit seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 steht.
Auf beide Entwicklungen haben die westlichen Staaten bislang nur unzureichend reagieren können. Ein Versuch der EU-Staaten zur Verbesserung der Lage in der Ukraine bestand darin, ein Assoziierungsabkommen anzubieten, das die dortige Regierung gezwungen hätte, Standards guter Regierungsführung zu praktizieren, insbesondere bei der Bekämpfung der Korruption. Das hätte eigentlich auch im Interesse Russlands liegen müssen.
Ironischerweise wird nun gerade dieses Abkommen als Grund für die Verschlechterung der Lage bezeichnet. Es war tatsächlich einer der wenigen Versuche, die strukturellen Ursachen der ukrainischen Krise anzugehen. Mit dem Problem Putin gingen die westlichen Regierungen in den vergangenen Jahren zu leichtfertig um. Keiner hatte gedacht, dass Putin so weit gehen würde, aber nach dem Georgien-Krieg 2008 hätte man eigentlich mit allem rechnen müssen.
Die Herausforderung westlicher Politik durch die heutige Führung Russlands liegt in der imperialen Großmachtnostalgie einer autoritären politischen Führungsgruppe begründet (tatsächlich einer klassischen „Machtvertikalen“, die die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes lähmt), die wirtschaftspolitisch wenig erfolgreich war und offenbar innenpolitische Stabilisierung durch außenpolitische Konfrontation sucht.
Das entsprechende Narrativ von der strategischen Einkreisung durch den Westen geht seit 25 Jahren um, es ist von Kreml-nahen Historikern, Politologen, Journalisten und Geistlichen intellektuell angereichert worden und heute zur Staatsideologie des Kremls geworden. Die Rede Putins vor der Duma aus Anlass des Beitritts der Krim zu Russland am 18. März 2014 hat das sehr deutlich werden lassen. Diese Rede war eine Kampfansage an den Westen, wie sie eindeutiger nicht hätte ausfallen können.
Großmachtnostalgie bedeutet, dass Russland beansprucht, über die Sicherheit und Integrität von Nachbarstaaten entscheiden zu können. Das sorgt zu Recht in Nachbarstaaten Russlands für Bedrohungsängste. Großmachtnostalgie bedeutet auch, dass Russland mit den USA auf gleicher Augenhöhe reden will, obwohl es dazu gar nicht mehr die Fähigkeiten hat. Das russische Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als das von Großbritannien.
Das erste Opfer dieser Politik ist die Hoffnung auf nachhaltige Abrüstung bei Kernwaffen. Seit 2009 sind die USA bereit, ihre Kernwaffen abzubauen, sofern die anderen Kernwaffenmächte – in erster Linie Russland – mitmachen. Die russische Politik geht genau den entgegengesetzten Weg: Russland hat die Rolle von Kernwaffen in seiner Militärdoktrin aufgewertet. Jüngste Initiativen Präsident Obamas in Richtung auf tiefe Einschnitte bei den strategischen Waffenarsenalen wurden zurückgewiesen. Russlands Regierung hält verbissen an einer nuklearstrategischen Duell-Situation mit den USA fest, obgleich diese seit dem Ende des Ost-West-Konflikts anachronistisch geworden ist und mittlerweile ernste Risiken technischer Art enthält. Schon wird in Moskau über die Aufkündigung des INF-Vertrags von 1987 nachgedacht. Dann käme auch wieder Europa in den Bereich russischer strategischer Nuklearwaffen.
Offen revisionistisch
Besonders besorgniserregend in der russischen Politik ist der mittlerweile offen propagierte außenpolitische Revisionismus. Damit ist die Infragestellung nicht nur der bestehenden Staatsgrenzen in Europa gemeint, sondern auch der internationalen europäischen Ordnung, auf die sich Russland, die Staaten des Westens und die neutralen Staaten in den Jahren zwischen 1990 und 1999 geeinigt hatten, und die vor allem den Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit von Grenzen betonte. Mit der Annexion der Krim und der offenen Drohpolitik gegenüber der Ukraine beendet der russische Präsident Putin 25 Jahre des geordneten Miteinanders in Europa und somit eine Periode des Friedens.
Die Frage, wie mit dieser russischen Politik umzugehen ist, treibt derzeit die Gemüter um. Dabei werden gerne historische Analogien gezogen, deren Berechtigung allerdings nur teilweise gegeben ist. Viele vergleichen die heutige Lage mit der vom Sommer 1914. Dieser Vergleich ist abwegig, da heute nur in Russland Kriegsstimmung herrscht. Es bestehen auch keine strategischen Verwundbarkeiten wesentlicher militärischer Akteure, die angesichts von Mobilisierungsplänen zu einer Eskalation der Gewalt führen könnten. Russland ist militärisch nicht in der Lage, einen Weltkrieg anzuzetteln und durchzustehen. Der Westen ohnehin nicht.
Eher scheint der Vergleich mit der Revisionspolitik Hitlers in den Jahren zwischen 1936 und 1939 zu passen, d.h. mit der Besetzung des Rheinlands, dem Anschluss Österreichs, der Sudetenkrise, der Besetzung der „Rest-Tschechei“ und der Annexion des Memellands.
Die russische Strategie in der Ukraine-Krise lässt zumindest deutliche Anleihen an die Politik Hitlers erkennen. Es werden Situationen ausgenutzt, um mit indirekten und direkten militärischen Maßnahmen irreversible Fakten zu schaffen, es werden Grenzen unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht des jeweiligen Volkes einseitig verändert und es wird mit den „Erfolgen“ dieser Politik ein nationalistisches Narrativ entwickelt, welches die Stimmung in der Heimat anheizt und das Regime stabilisiert. Die westlichen Staaten werden buchstäblich ausgetrickst.
Andererseits bleibt auch diese Analogie begrenzt. Im Gegensatz zu Hitler verfolgt Putin keine Rüstungspolitik, die auf großflächige Eroberungen aus ist und die nach der Vormacht in ganz Europa strebt. Aber die Ende der dreißiger Jahre zu beobachtende Dynamik, als Hitler mit jeder gelungenen revisionistischen Aktion innenpolitisch populärer wurde und außenpolitisch immer größere Risiken einging, finden wir im heutigen Russland wieder.
Die Begeisterung, mit der in Russland die Annexion der Krim gefeiert wird, sowie die große Akzeptanz, die die staatliche nationalistische Propaganda findet, lässt befürchten, dass Putin sich auf weitere, immer riskantere revisionistische Handlungen einlässt: die Besetzung und Annexion der Ostukraine, die militärische Besetzung der ganzen Ukraine, die Annexion Transnistriens, die „Rückeroberung“ von Lettland und Estland, wo große russische Bevölkerungsgruppen leben, oder die Einverleibung von Belarus in die Russische Föderation. Die große Gefahr ist, dass Putin die Geister nicht mehr los wird, die er mit seiner Politik im Fall der Ukraine gerufen hat.
Teilweise erinnert die heutige Lage an die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die USA mit dem Versuch scheiterten, die Sowjetunion in eine kooperative internationale Ordnung einzubauen. Auch damals interpretierte die Kreml-Führung die Gründung internationaler Organisationen und die Unterstützung von Demokratie und wirtschaftlichem Wiederaufbau als Ausdruck einer gegen die Sowjetunion gerichteten Machtstrategie der USA.
Aber auch hier liegen die Dinge anders: Damals war die Sowjetunion auf der Höhe ihrer Macht, sie hatte den größten Anteil am Sieg über Hitler und wollte dementsprechend über Europa das Sagen haben. Im Kreml herrschte eine kommunistische Führung, die nicht nur machtpolitisch expansive Vorstellungen verfolgte, sondern auch einer kruden marxistischen Ideologie anhing und die versuchte, das sozialistische Gesellschaftsmodell möglichst weit zu verbreiten – wenn nötig, auch gewaltsam. Von dieser Politik ist das heutige Russland weit entfernt. Die kommunistische Ideologie spielt keine Rolle mehr, das Land ist wirtschaftlich in einem schlechten Zustand und hat auch keinen Krieg gewonnen. Ein neuer Ost-West-Konflikt, der den Kontinent teilen wird, ist nicht in Sicht.
Die deutsche Außenpolitik verfolgt in der Ukraine-Krise zwei Ziele: Zum einen gilt es, eine Dynamik zu verhindern, die in einen neuen Weltkrieg führen könnte, zum anderen soll der Rückfall in einen erneuten Ost-West-Konflikt vermieden werden. Damit arbeitet sie auf der Basis von historischen Analogien, die auf unrealistischen Prämissen beruhen. Positiv gesehen trägt die deutsche Politik kurzfristig zu einer Beruhigung der Lage bei, sie sollte allerdings nicht versäumen, die derzeitige Politik Russlands als eigenständige, nicht durch historische Analogien zu lösende Herausforderung anzusehen. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, vorhersehbare Probleme zu antizipieren und diese anzugehen, ehe es zu spät ist. Dabei ist zwischen kurzfristigen und mittel- bzw. langfristigen Aufgaben zu unterscheiden.
Die Eskalation verhindern
Kurzfristig gesehen kommt es darauf an zu verhindern, dass die derzeitige Krise um die Ukraine weiter eskaliert. Eine Eskalation kann buchstäblich jeden Tag stattfinden, etwa wenn es zu Gefechten zwischen ukrainischen und russischen Truppen auf der Krim oder im Südosten der Ukraine kommen sollte. Dazu ist der Dialog mit Moskau ebenso notwendig wie der mit Kiew. Auf beiden Seiten gibt es durchaus das Interesse an einer De-Eskalation, weil auch die russische Seite begreift, dass ihre Fähigkeiten begrenzt sind.
Sollte dieses Interesse auf russischer Seite jedoch einer aggressiven Haltung weichen, wäre es wichtig, dass die USA und Großbritannien als Garantiemächte der territorialen Integrität der Ukraine deutlich machen, dass sie nicht bereit sind, weiteres Vordringen russischen Militärs oder gar irregulärer Verbände zu tolerieren. Zumindest die USA verfügen über militärische Einsatzmittel, mit denen sie das Vordringen russischer Bodentruppen auf das Territorium der Ukraine aus weiter Ferne unter ein erhebliches Risiko setzen können. Bislang haben sich die USA aus guten Gründen mit entsprechenden Stellungnahmen zurückgehalten. Das könnte sich ändern.
Auch muss überlegt werden, wie verhindert werden kann, dass die Spaltung der Ukraine fortschreitet. Ein ganz sensibler Bereich sind die ukrainischen Streitkräfte. Diese sind unter Präsident Janukowitsch offenbar bewusst vernachlässigt worden und stellen heute kaum eine Herausforderung für Russland dar. Die Souveränität der Ukraine ist aber nur dann gesichert, wenn diese sich gegen begrenzte Aggressionen Russlands zur Wehr setzen kann.
Der derzeit stattfindende Aufbau einer Art Freiwilligenarmee der Ukraine ist problematisch. Es ist zu befürchten, dass sich in ihr vermehrt Ukrainer aus dem Westen des Landes sammeln, sodass diese Armee im Osten und Süden des Landes als eine Art Bürgerkriegsarmee missverstanden wird – mit entsprechenden Gegengründungen, die natürlich von Moskau unterstützt werden. Von daher ist es wichtig, dass die regulären Streitkräfte der Ukraine in einer Weise wieder hergestellt werden, die die Integrität des Landes fördert und nicht zerstört. Das ist eine wichtige Aufgabe, die NATO und EU oder einzelne Staaten der Allianz vorantreiben sollten.
Es sollte weiterhin versucht werden, in einen Dialog mit Russland und der Ukraine über die inneren und äußeren Angelegenheiten der Ukraine einzutreten. Ein Interesse daran hat das russische Außenministerium signalisiert, wenngleich die bisher bekanntgewordenen russischen Vorstellungen (Konföderalisierung der Ukraine und Verzicht auf NATO- und EU-Beitritt) für die Ukraine kaum akzeptabel sind. Aber es ist denkbar, dass im Rahmen eines derartigen Verhandlungsmodus (bei dem die unterschiedlichen Kräfte der Ukraine vertreten sein müssen) eine Einigung über die innere Struktur der Ukraine und deren internationale Verankerung getroffen wird, die zumindest mittelfristig Ruhe einkehren lässt. Dieser Dialog sollte den Konflikt um Transnistrien mit einschließen.
Die westliche Allianz wird es sich weiterhin nicht mehr erlauben können, die antiwestliche Politik Russlands schönzureden. Ansonsten droht die weitere Erosion der NATO, wenn nicht deren Zusammenbruch. Letzteres würde zu einer Re-Anarchisierung der internationalen Politik führen und hätte dramatische geopolitische Folgen für Deutschland und seine Nachbarn. In erster Linie wird es darauf ankommen, den osteuropäischen Mitgliedstaaten der NATO nicht nur verbale Sicherheitsgarantien zu geben. Wichtig ist eine neue Abschreckungsstrategie, die gegen begrenzte russische Interventionen eine glaubwürdige und durch die Präsenz westlicher Truppen untermauerte Abschreckung herstellt. Dazu bedarf es einer neuen Doktrin der Abschreckung: Nicht mehr die Abwehr einer kontinentalen Invasion durch Ankoppelung an das amerikanische Nuklearwaffenarsenal sollte im Vordergrund stehen, sondern die auf bestimmte lokale oder regionale Bedrohungen zugeschnittene Abschreckung. Entwicklungen im Bereich der Doktrin von Anti-Access/Area-Denial (A2/AD) erlauben es heute, gegen begrenzte Invasionen primär mit Luft-angriffsmitteln effektiv vorzugehen. Darauf lässt sich aufbauen. Aber auch die Stationierung von Bodentruppen westlicher Länder in den baltischen Staaten wird zu überlegen sein.
Wichtig ist auch, dass die Staaten Westeuropas ihre Abhängigkeit von russischen Erdgas- und Erdöllieferungen reduzieren. Das ist nur mittel- und langfristig möglich, sollte aber in Angriff genommen werden, etwa durch Investitionen im Bereich der Versorgung mit Flüssiggas. Die internationalen Gasmärkte haben sich in den vergangenen Jahren so entwickelt, dass hier mehr Flexibilität besteht. Auch Investitionen in erneuerbare Energien können ein Mittel sein, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern.
Putins Rede vom 18. März 2014 war eine politische Kriegserklärung an den Westen. Die westliche Staatengemeinschaft wird sich für die nächste Zeit auf ein feindlich gesinntes Russland einstellen müssen. Die NATO kann das leisten, ohne dass daraus eine Verschärfung der Situation erfolgen muss. Der gleiche Ansatz, der bereits 1967 von der NATO gewählt wurde, ist hier angebracht: einerseits „rote Linien“ aufzuzeigen, deren Überschreitung der Westen nicht zu tolerieren bereit ist (verbunden mit sichtbaren, aber nicht provokanten militärischen Vorsorgemaßnahmen), andererseits aber offen zu sein für einen politischen Dialog.
Das ist kein Rückfall in den Kalten Krieg, aber ein Versuch, Moskau deutlich aufzuzeigen, dass es mit seiner feindseligen Haltung nichts gewinnen wird, sondern sich nur selber schadet. Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen, er wird auch eine langjährige Phase der „chilly rivalry“ erfolgreich durchstehen, vorausgesetzt es gibt Regierungen, die eine entsprechende Führungsleistung bringen. Derzeit ist aus Washington nicht viel an Führung zu spüren, von daher werden die europäischen Regierungen, in der Hauptsache Berlin, Paris und London gefragt sein. Sanktionen gegen Russland sind dabei nur ein, aber nicht besonders wichtiger Aspekt. Es bedarf eines Gespürs für die Natur der russischen Herausforderung, die die hauptsächlichen Probleme und Gefahren aufgreift und sich nicht zu sehr an historischen Analogien orientiert.
Prof. Dr. Joachim Krause ist Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.