Schleppender Beginn
Deutsche Politiker entdecken Twitter nur zögerlich
Die Wahlkampf-Kampagne Barack Obamas von 2008 machte Twitter auch in Deutschland bekannt. Aber erst eine Kampagne gegen vermeintliche Internetzensur brachte die Veränderungen durch den Dienst auch hierzulande zum Vorschein: Politik wird zugänglicher und die Kommunikation schneller. Kann die Politik dem folgen?
Im März 2012 wurden 340 Millionen Tweets pro Tag von und 100 Millionen Menschen versendet, die den Onlinedienst wenigstens einmal monatlich nutzten. Im Dezember 2012 hatte sich die Zahl bereits verdoppelt . Von 81 Prozent amerikanischer Internetnutzer über 18 Jahren, so das Pew Internet & American Life Project, nutzten 2012 knapp 8 Prozent Twitter regelmäßig und 15 Prozent zumindest selten. Für Deutschland zeigt die Online-Studie von ARD und ZDF niedrigere Nutzungszahlen. Von 75,9 Prozent der Internetnutzer über 14 Jahren sind nur 2 Prozent regelmäßig auf Twitter aktiv.
Nach seiner Gründung im Jahr 2006 wurde Twitter schnell zu einer der Erfolgsgeschichten des Web 2.0 – und bald auch für die Politik interessant. Viele Beobachter fanden, dass mit der Möglichkeit „normaler“ Twitter-Nutzer, selbst politische Kommentare zu veröffentlichen und twitternde Politiker über @Nachrichten anzuschreiben, auch die Hürden für den öffentlichen Diskurs gesenkt würden. Kaum aber nutzten Politiker diesen Online-Dienst, wurde bereits über die „richtige“ und „falsche“ Nutzung diskutiert. Offensichtlich erwarteten viele Beobachter, dass Politiker sich nun häufiger mit anderen Nutzern austauschen würden.
Dieser normative Anspruch konnte in der Praxis jedoch nur selten erfüllt werden. So zeigt sich die Enttäuschung der Professorinnen für Kommunikations- und Medienmanagement an der Universität von St. Gallen, Miriam Meckel und Katarina Stanoevska-Slabeva, in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung: „Die Inhalte der Tweets schwanken zwischen Werbung für die eigene Website und Hinweisen auf aktuelle Veranstaltungen, sie umfassen aber auch Verweise auf das Wetter und andere Banalitäten. So sind die Politiker eher untereinander im eigenen Lager vernetzt, anstatt Anhänger in anderen politischen Lagern zu finden oder mit ihren Wählern zu kommunizieren.“
Deutsche Politiker entdeckten Twitter im Laufe des Vorwahlkampfs zur amerikanischen Präsidentschaftswahl 2008, in dem viele der Kandidaten auf den Online-Dienst zurückgriffen. Doch nur der Twitter-Wahlkampf des Teams von Barack Obama blieb in Erinnerung – wohl weniger, weil seine Twitter-Nutzung wesentlich zum Wahlergebnis beigetragen hätte, als aufgrund einer Kombination verschiedener Faktoren: des Charismas des Kandidaten, der intensiven und gut dokumentierten Online-Aktivitäten der Kampagne und schließlich des beeindruckenden Wahlsiegs.
Internet und vor allem Twitter, hieß es nun bei Kommunikationsberatern und in den deutschen Medien, würden sicherlich auch für das deutsche Superwahljahr 2009 von Parteien und einzelnen Kandidaten stärker genutzt werden. Allerdings fielen die Online-Kampagnen der deutschen Wahlkämpfer deutlich unspektakulärer aus als erwartet. Auch blieb die Twitter-Nutzung deutscher Politiker eher verhalten.
Ein erstes Mal zeigte sich die Mobilisierungsfähigkeit der Plattform in Deutschland nicht während eines Wahlkampfs, sondern in einer Streitfrage über ein gesetzliches Regulierungsvorhaben. Im Frühjahr 2009 formierte sich online Widerstand gegen eine Gesetzesinitiative der Bundesregierung, die den Zugang zu kinderpornografischen Seiten im Netz erschweren sollte. Dieses „Zugangserschwerungsgesetz“ wurde aber von vielen Internetnutzern als erster Schritt zur Schaffung einer Zensurinfrastruktur interpretiert. Der öffentliche Widerspruch konzentrierte sich um eine Online-Petition an den Deutschen Bundestag, die die Aufgabe der Gesetzesinitiative forderte.
Über diese Initiative wurden Gruppierungen oder Einzelne mobilisiert, die sich seit Jahren mit Netzpolitik beschäftigten, aber auch Nutzer, die erst durch die Diskussion „aufgeweckt“ wurden. Twitter und die Benutzung des Hashtags #Zensursula (die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen hatte sich für dieses Gesetz besonders engagiert) erwies sich für die dezentral organisierten politischen Netzaktivisten als wichtiges Werkzeug, den Protest zu koordinieren und sichtbar zu machen.
Mit der Berichterstattung über die Ereignisse des Arabischen Frühlings stieg auch in Deutschland wieder die Aufmerksamkeit für die Potenziale des Internets als Organisationswerkzeug politischer Proteste. Immer mehr deutsche Spitzenpolitiker entdeckten während der vergangenen zwei Jahre Twitter und andere Soziale Medien. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft antwortete auf die Frage nach ihrer Twitter-Nutzung: „Ich will einen Live-Ticker meines politischen Lebens“.
Der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und jetzige Umweltminister Peter Altmaier schrieb den Sozialen Medien sogar die Fähigkeit zu, „die Bedingungen politischer Gestaltung stärker zu verändern als alles, was seit der Französischen Revolution geschehen ist. (...) Die politische Freiheit und Gleichheit der Bürger realisiert sich im Netz zum ersten Mal in Permanenz: Die neu entstehenden Strukturen eröffnen die Möglichkeit jederzeitiger und umfassender Einflussnahme und Gestaltung über jede Art von geographischer, politischer oder sozialer Grenze hinaus.“
Inzwischen finden auch in Deutschland immer mehr politische Akteure Wege, Twitter in die politische Kommunikation einzubinden. In der Diskussion über den Einfluss von Twitter auf die politische Kommunikation sollte man zwischen drei unterschiedlichen Gruppen und ihrer Twitter-Nutzung unterscheiden: Politiker, Aktivisten und Medien.
Aktiv nur im Wahlkampf?
Einige Politiker nutzen Twitter nur während eines Wahlkampfs oder Parteitagen intensiv und verringern ihre Präsenz danach wieder massiv. Twitter wird von diesen Politikern und deren Beratern als Werkzeug gesehen, das die klassische politische Kommunikation durch ein attraktives, weil neues Mittel ergänzt, das den Kandidaten zugänglich und modern erscheinen lässt. Um eine tatsächliche Interaktion geht es in diesem Fall jedoch offensichtlich nicht.
Hannelore Kraft nutzte den „Live-Ticker“ ihres politischen Lebens während ihres Wahlkampfs intensiv und kreativ, was mit hohen Follower-Zahlen und wohlwollender Berichterstattung belohnt wurde. Nach ihrer Wiederwahl verringerte sich ihre Twitter-Aktivität massiv. Bis Anfang Januar 2013 wurden auf ihrem Account 295 Nachrichten veröffentlicht. Davon wurden 271 zwischen dem 20. März 2012, sechs Tage nach der Auflösung des Landtags und der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen, und dem 21. Juni 2012, dem Tag ihrer Vereidigung als Ministerpräsidentin veröffentlicht.
Andere Politiker nutzen den Online-Dienst als Medium, um im permanenten Kontakt zu bleiben. Zwischen diesen Politiker-Accounts und den Accounts „normaler“ Nutzer sind kaum Unterschiede in der Frequenz der Beiträge oder der Verwendung von @Nachrichten, Retweets oder Hashtags festzustellen. Beispiele für diese Art von Nutzung finden sich parteiübergreifend bei vielen Abgeordneten des Deutschen Bundestags, darunter Dorothee Bär / CSU (@DoroBaer), Volker Beck / Grüne, (@Volker_Beck), Lars Klingbeil / SPD (@larsklingbeil) oder der Fraktionsvorsitzende der Piraten im Abgeordnetenhaus von Berlin, Christoph Lauer (@Schmidtlepp). Twitter ist für diese Politiker weit mehr als ein Mittel des Marketings zu Wahlkampfzeiten. In ihrer Nutzung vermischen sich öffentliche und private Person und politische und persönliche Interessen. In dieser Gruppe befinden sich nicht unbedingt Politiker, die Twitter nutzen, sondern Twitter-Nutzer, die Politiker sind.
Protest- und Recherchemittel
Politische Aktivisten in Deutschland verwenden Twitter inzwischen häufiger, um beispielsweise über Demonstrationen oder Protestaktionen für Medien und Bürger gezielt zu informieren oder auch, um Protestaktionen zu organisieren und koordinieren. Unterstützung für bestimmte Anliegen sichtbar zu machen, gelingt am besten durch die Nutzung politisch aufgeladener Hashtags. Beispiele hierfür sind die Kampagne gegen das Zugangserschwerungsgesetz (#zensursula), die Proteste gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff (#notmypresident), die Demonstrationen gegen den Bau des Stuttgarter Bahnhofs „Stuttgart 21“ (#s21) oder auch die international koordinierten Proteste gegen die Ratifizierung des Anti-Counterfeiting Trade Agreement (#ACTA) im Frühjahr 2012.
In all diesen Fällen verbreitete sich die Nutzung der Hashtags schnell in der deutschsprachigen Twitter-Sphäre und fand auch in der medialen Berichterstattung Erwähnung. Gleichzeitig diente Twitter aber auch zur Organisation und taktischen Koordination von Protestaktionen. Dies kann durch die Veröffentlichung in Echtzeit von relevanten Informationen geschehen (wie Zeitpunkt und Ort von Polizeimaßnahmen bei einer Demonstration) oder durch die Veröffentlichung von Links zu relevanten Inhalten im Internet (wie Links auf Video-Streams, von Protestaktionen). Hier dient der Protest gegen „Stuttgart 21“ wiederum als gutes Beispiel.
Auch für die politische Berichterstattung in den klassischen Medien spielt Twitter eine wachsende Rolle. Sowohl Journalisten als auch Medienunternehmen nutzen immer häufiger Twitter-Accounts, um auf neue Beiträge oder Artikel aufmerksam zu machen. Wie Politikern geht es auch ihnen darum, ihre berufliche Arbeit mit ihrer Twitter-Aktivität zu unterstützen und höhere Sichtbarkeit im Informationsrauschen des Internets zu erhalten. Twitter wird aber auch immer häufiger Objekt der politischen Berichterstattung. Journalisten nutzen Twitter verstärkt als Quelle für Reaktionen der Öffentlichkeit auf aktuelle Entwicklungen, was ebenfalls durch Hashtags möglich wird. Mit ihrer Hilfe können Nutzer durch wenige Klicks eine Sammlung thematisch verwandter und relevanter Tweets finden.
In der Berichterstattung über internationale Krisen, die für Auslandskorrespondenten oft nur schwer zugänglich sind, greifen Redaktionen auch auf Texte, Bilder oder Videos zurück, die von Augenzeugen der Zwischenfälle auf Twitter veröffentlicht oder verlinkt werden. Über Hashtags lassen sich aber auch politische Nachrichtentrends schneller erfassen – wenn beispielsweise bestimmte Entwicklungen auf der internationalen Bühne stark kommentiert werden, die aber von den heimischen Medien noch gar nicht erfasst wurden.
Twitter wird immer häufiger auch als journalistisches Rechercheinstrument verstanden, oder auch als Quelle für spontane Meinungsbilder. Beispiele hierfür fanden sich im vergangenen Jahr besonders in Wahlberichterstattungen und bei der Diskussion um den Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff oder in der Debatte über Sexismus, die mit einem Bericht einer Stern-Journalistin über den FDP-Politiker Rainer Brüderle begann und sich in kürzester Zeit auf Twitter unter dem Hashtag #aufschrei fortsetzte. Im Sekundentakt – und dann auch schnell von anderen Medien als Thema aufgenommen – publizierten Frauen ihre alltäglichen Erfahrungen mit Sexismus.
Potemkinsche Internetdörfer
Auch wenn Twitter einen schnellen Blick auf die Reaktionen auf aktuelles politisches Geschehen erlaubt, bleibt es als Informationsquelle oder als Spiegel öffentlicher Meinung problematisch. Es liegen für Deutschland – zumindest zurzeit – keine zuverlässigen Informationen über die demografische Zusammensetzung von Twitter-Nutzern vor. Studien aus den USA zeigen jedoch, dass sie sich deutlich von der Gesamtbevölkerung unterscheiden. Sie sind tendenziell jünger und besser ausgebildet als der Rest der Bevölkerung. Es erscheint begründet, ähnliche Unterschiede zwischen der deutschen Gesamtbevölkerung und deutschen Twitter-Nutzern zu vermuten.
Problematisch ist auch, dass Twitter zu einer Dramatisierung und Personalisierung der politischen Berichterstattung beitragen kann. Es stehen immer häufiger Fragen im Mittelpunkt wie: Welcher Kandidat macht die bessere Figur? Wer liegt in den Umfragen vorn? Welchem Kandidaten unterläuft ein möglicherweise wahlentscheidender Fehler? Dies ist ein Beispiel für eine Berichterstattung, die im amerikanischen Kontext oft als „horse-race-journalism“ bezeichnet wird: Die Dramatisierung des Geschehens, eine Darstellung von Politik als Wettbewerb, der eher einem Pferderennen ähnelt als einem Diskurs, wäre damit wichtiger als die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten.
Ergänzt wird diese in den klassischen Medien bereits gebräuchliche Form der Berichterstattung noch durch das „digital horse-race“. Hierbei nutzen Journalisten verstärkt Veränderungen in den Kontaktzahlen von Kandidaten und Parteien auf ihren Twitter- oder Facebook-Profilen (wer hat die meisten Kontakte als Indikator für die Beliebtheit eines Politikers). Dies wissen auch Politiker und so legen viele gerade in Wahlkampfzeiten oft halbherzig betreute Kandidatenprofile in den Sozialen Medien an. Ob diese potemkinschen Internetdörfer den von ihren Gründern gewünschten Zweck erfüllen können, darf man allerdings bezweifeln.
Betrachtet man die oben beschriebenen Nutzungen von Twitter durch unterschiedliche politische Akteure, so zeigt sich, dass Twitter bisher überwiegend von politischen Eliten in Ergänzung des klassischen Kommunikationsrepertoires genutzt wird. Zur umfassenden Revolution der politischen Kommunikation hat bisher weder Twitter noch ein anderer Internetdienst geführt. Die hohe Aufmerksamkeit für politische Twitter-Phänomene führt wohl zu einem leicht durchlässigeren Zugang zum politischen Diskurs. Dieser Prozess verläuft allerdings überwiegend zufällig und ist nur eine Ergänzung zu der Berichterstattung über die Stimmen politischer Eliten auf Twitter.
Die Darstellung von Politik hat sich jedoch durch die stetig steigende Nutzung von Twitter und anderen Online-Diensten deutlich geändert. Politik gibt sich im Netz verspielter, transparenter und zugänglicher. Auch wird von der Politik im Netz eine höhere Reaktionsgeschwindigkeit gefordert. Auf Twitter organisiert sich öffentliche Meinung zu tagesaktuellem Geschehen oft schneller als die entsprechende politische Sprachregelung. Es kann also durchaus sein, dass Twitter und andere Online-Dienste zu einer Beschleunigung von politischer Kommunikation führen werden. Das politische Macht- und Einflussgefüge hat der Microblogging-Dienst jedoch bisher nicht erschüttert.
Andreas Jungherr ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie der Universität Bamberg und Autor des Buches „Das Internet in Wahlkämpfen: Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen“.
Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 54-59