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01. Febr. 2004

Schein und Sein

Das Schlagwort vom deutschen Antiamerikanismus

Antiamerikanismus, verstanden als „fossile antiliberale Amerikanophobie“, wie sie zu Beginn des
letzten Jahrhunderts vor allem in Deutschland gepflegt wurde, ist in diesem Land so gut wie verschwunden,
und auch die Meinungsverschiedenheiten über den Irak-Krieg haben sie nicht wiederbelebt.
Das alte Gegensatzpaar „Kultur“ und „Zivilisation“ gibt es nicht mehr, so der politische
Analytiker Michael Mertes. Deshalb sollten Tagesphänome nicht mit den grundlegenden
Trends und Einstellungen verwechselt werden.

Franz Kafkas wunderbares Romanfragment „Amerika“ beginnt mit einer bizarren Fehlwahrnehmung. Als der sechzehnjährige Karl Roßmann langsam in den Hafen von New York einfährt, erblickt er die „Statue der Freiheitsgöttin“ und beobachtet, wie sie ihren „Arm mit dem Schwert“ in die Höhe reckt.

Dass jemand die Fackel der Hoffnung mit dem Schwert der Vergeltung verwechselt, mag heutigen Lesern wie unfreiwillige Ironie vorkommen. Doch aus dem Blickwinkel von Kafkas Zeitgenossen gibt es da eine zweite Unstimmigkeit: Diese Zeilen stammen aus einer Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als bei den Europäern die Machtpolitik hoch im Kurs stand, während die Amerikaner zuvörderst auf die friedensstiftende Wirkung von Handelsbeziehungen setzten. Der damalig in Deutschland herrschende Antiamerikanismus war vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums beheimatet – als Element der von Fritz Stern so genannten „Germanic ideology“.1 Anhänger dieser Weltanschauung glaubten an die Höherrangigkeit des Prinzips Kultur (historisch gewachsen, tief, homogen, idealistisch, männlich, heroisch) gegenüber dem Prinzip Zivilisation (rational geplant, flach, heterogen, materialistisch, verweiblicht, genussfreudig). Ein besonders aufschlussreiches Dokument des alten deutschen Antiamerikanismus ist Adolf Halfelds Bestseller „Amerika und der Amerikanismus“, der 1927 in erster Auflage erschien.2

In dieser Ideologie verkörperten die Vereinigten Staaten das Prinzip Zivilisation – oder, noch allgemeiner formuliert, die Moderne schlechthin. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die liberalen Werte, nicht unbedingt gegen den technischen Fortschritt. Erst kürzlich hat Detlev Junker an die „tiefe Ambivalenz“ Adolf Hitlers im Blick auf die Vereinigten Staaten erinnert. Dessen Äußerungen zu den USA hätten einen „durchaus bewundernden Unterton“ gehabt.3 Ihm imponierten unter anderem der hohe Lebensstandard, die außerordentliche Produktivität und die technische Innovationsfähigkeit der Amerikaner.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Amerikanophobie eine neue Heimat bei der prosowjetischen Linken. Den sozialistischen Antiamerikanismus verband mit seinem rechtsgerichteten Vorgänger die Ablehnung des Liberalismus. In der NS-Rhetorik hatte das Schlagwort „Plutokratie“ für Kapitalismus gestanden; Antikapitalismus und Antisemitismus waren darin zum Wahnbild einer von der Wall Street aus gesteuerten Weltverschwörung verschmolzen. Auch der Nationalneutralismus, von Rechts- wie von Linksintellektuellen vertreten,4 repräsentierte eine – wenn auch minder heftige – Spielart des Antiamerikanismus. Neutralisten bekämpften die Westintegrationspolitik Konrad Adenauers. Sie betrachteten Deutschland als Kerngebiet Mitteleuropas – eines eigenständigen Kulturraums, der von der russisch dominierten eurasischen und der amerikanisch dominierten euro-atlantischen Sphäre geistig gleich weit entfernt sei.

Die Neue Linke der späten sechziger Jahre und die Ökopazifisten der frühen achtziger Jahre (die zum Teil aus der Neuen Linken hervorgingen) entwickelten einen utopischen Fundamentalismus, in dem die Vereinigten Staaten gleichsam als Reich des Bösen figurierten. Zu diesem „romantischen Rückfall“, wie Richard Löwenthal ihn nannte,5 gehörte nicht zuletzt die Wiederbelebung zivilisationskritischer Topoi der alten „Germanic ideology“. Linksgerichtete Kritiker der Vereinigten Staaten erkannten immerhin den amerikanischen Multikulturalismus als vorbildlich an. Das unterschied sie von der elitären Neuen Rechten, die in den neunziger Jahren die Feuilletons beschäftigte, es aber im Gegensatz zur Neuen Linken niemals schaffte, zu einer Bewegung anzuschwellen. Die stärkste antiamerikanische Fraktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts dürfte aus geistigen Enkeln der Achtundsechziger-Generation und versprengten Resten der prosowjetischen Linken bestehen. Einigendes Band ist hier die Globalisierungskritik.

Verschwundene Divergenzen

Kurzum, definiert man Antiamerikanismus als Antiliberalismus (oder zumindest als Kernbestandteil antiliberaler Ideologie), dann gibt es ihn heute nicht mehr als breite Unterströmung in der deutschen Gesellschaft. Die allermeisten Bundesbürger glauben vielmehr an die Werte der Zivilisation. Manchmal sind sie darin sogar eifriger als die Amerikaner, denen deutlicher bewusst ist, dass der Schutz einer postmodernen Spaßgesellschaft hin und wieder traditionellen Heroismus erfordert. Die Ähnlichkeit deutscher und amerikanischer Einstellungen zum modernen Lebenstempo, wie sie die Studie „Views of a Changing World 2003“ des Pew Research Center6 ermittelt hat, ist nur ein Beispiel für das Verschwinden einstiger Divergenzen.

Solche und andere Befunde legen die Vermutung nahe, dass „Antiamerikanismus“ sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Sortiert man die Definitionen nach der Tiefe des Ressentiments, dann ergibt sich folgendes Bild:

1. eine bösartige politische Ideologie, wie oben beschrieben;

2. ein Ensemble negativer Stereotypen („texanischer Rambo“ und dergleichen mehr);

3. Unbehagen, Minderwertigkeits- oder Rivalitätsgefühle angesichts amerikanischer Überlegenheit;

4. fehlendes Verständnis für amerikanische Perzeptionen und Einstellungen;

5. kurzzeitige Unzufriedenheit mit amerikanischer Politik („Anti-Bushismus“).

Nur die Punkte 1 und 2 verdienen die Bezeichnung „Antiamerikanismus“; für die Punkte 4 und 5 wäre dieses Etikett zu alarmistisch; Punkt 3 liegt irgendwo dazwischen.

Besonders aufschlussreich ist die Tatsache, dass die meisten deutschen Amerika-Gegner dem Vorwurf, sie seien antiamerikanisch, energisch widersprechen würden. Zu Recht nehmen sie an, dass man sich mit Antiamerikanismus heute nicht mehr sonderlich beliebt macht. Gegen Kritik immunisieren sich deutsche Amerika-Gegner, indem sie behaupten, sie seien doch nur „Anti-Bushisten“, genauso wie etwa der US-Bürger Michael Moore. Dessen schrille Bücher („Stupid White Men“ und seit Ende 2003 auch „Volle Deckung, Mr. Bush“) haben die deutschen Bestsellerlisten im Sturm erobert. Sie waren und sind jedoch auch große Verkaufserfolge in den USA – zumindest in jenen linken Milieus, die die amerikanische Rechte gern als „unamerikanisch“ denunziert. Beweisen oder widerlegen lässt sich damit wenig. Nur eines ist sicher: Alle Antiamerikaner sind „Anti-Bushisten“; umkehren lässt sich dieser Satz indes nicht.

Dank Meinungsumfragen erübrigen sich weitere Spekulationen. „Worldviews 2002“7 – eine Untersuchung des German Marshall Fund of the United States (GMFUS) und des Chicago Council on Foreign Relations – ergab, dass Amerikanophilie in Deutschland ebenso ausgeprägt ist wie anderswo in Europa. Auf die Frage, wie sie ihre Gefühle gegenüber der EU und verschiedenen Ländern auf einer Thermometerskala von 0 bis 100 Grad einordnen würden (wobei der Mittelwert 50 Gleichgültigkeit symbolisiert), äußerten die Deutschen wärmste Gefühle für die EU (67); es folgten die Vereinigten Staaten (63), Großbritannien (60) und Frankreich (59). Vor dem Hintergrund der Irak-Krise registrierten die „Transatlantic Trends 2003“ des GMFUS und der Compagnia di San Paolo8 im Jahr darauf einen Niedergang der Amerikanophilie in der gesamten EU. Die entsprechenden Gefühle der Deutschen haben sich auf 56 Grad abgekühlt, doch zum heftigsten Temperatursturz ist es in Frankreich gekommen.

Bemerkenswert ist der Befund, dass sich in Deutschland die Werte für die Europäische Union auf 75 Grad erwärmt haben – ein stärkerer Zuwachs als in jedem anderen der untersuchten europäischen Länder. Die Ende Oktober 2003 veröffentlichte Ipos-Untersuchung „Transatlantische Beziehungen“, erstellt im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken,9 erklärt zu einem wichtigen Teil diesen Temperaturanstieg: Drei Viertel der Bundesbürger sehen zwischen Deutschland und seinen westeuropäischen Nachbarländern mehr Gemeinsamkeiten als zwischen Deutschland und den USA. Galten die Vereinigten Staaten bisher im direkten Vergleich mit Frankreich als der wichtigere Partner (58:36%), so liegt nun Frankreich vorn (46:49%).

In mancher Hinsicht hat sich gezeigt, dass die Einstellungen der Deutschen gegenüber den USA weniger negativ sind als in Frankreich oder Großbritannien. Die Frage, ob die amerikanische Außenpolitik selbst zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beigetragen habe, wurde von 52% in Deutschland bejaht – doch in Großbritannien waren es 57 und in Frankreich gar 63% der Befragten (siehe „Worldviews 2002“). Angesichts des Irak-Krieges erklärten immerhin 30% der Franzosen, sie seien enttäuscht über die Schwäche des militärischen Widerstands der Iraker gegen die Amerikaner und deren Verbündete; in Deutschland empfanden das nur 11% (siehe „Views of a Changing World 2003“).

Seit 1957 fragt das Institut für Demoskopie Allenbach regelmäßig: „Einmal ganz allgemein gefragt: Mögen Sie eigentlich die Amerikaner, oder mögen Sie sie nicht besonders?“10 Die Antworten dokumentieren das übliche Auf und Ab der Stimmungen, aber in Westdeutschland gab es – grob gesagt – stets eine proamerikanische 5:2-Mehrheit; an diesem Muster hat sich auch nach der deutschen Einheit 1990 nichts geändert. Auffällig ist allerdings die starke Veränderung zwischen November 2001 (54% pro) und Juli 2003 (42% pro). Der temporäre Spitzenwert im Herbst 2001 dokumentiert den spontanen Anstieg der Solidaritätsgefühle nach den Terroranschlägen vom 11. September; der schlechte Wert im Sommer 2003 reflektiert den negativen Einfluss des Irak-Krieges. Im März und im April 2003 waren rund 80% der Deutschen gegen diesen Krieg – aber das minderte ihre prinzipielle Amerikanophilie nur unwesentlich. Mitte Mai 2003 veröffentlichte die Forschungsgruppe Wahlen11 bemerkenswerte Zahlen, wonach 71% der Bevölkerung sich zu ihrer Sympathie für die Amerikaner bekannten, während nur 19% Antipathie kundtaten.

Ost- und Westdeutsche

Zu den interessantesten Ergebnissen der Allensbacher Langzeituntersuchung gehören die markanten Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen in Sachen Amerikanophilie. Zum ersten Mal seit der deutschen Einheit gab es im November 2002 unter den Ostdeutschen eine relative Mehrheit (34:29) negativer Antworten. Unter anderem liegt die Ost-West-Differenz wahrscheinlich an einer Haltung, die man als ostdeutsche Variante des Pazifismus bezeichnen könnte. In dieser Hinsicht bestehen Unterschiede nicht nur zu den Westdeutschen, sondern auch zu anderen Mitteleuropäern wie den Polen oder den Tschechen. Sozialpsychologen beobachten schon seit längerem, dass viele Ostdeutsche ihr Gefühl ökonomischer Unterlegenheit gegenüber den Westdeutschen durch ein positives Selbstbild moralischer Überlegenheit zu kompensieren suchen; sie empfinden sich als friedliebender, mitfühlender, hilfsbereiter.12 Die Vereinigten Staaten, Hauptlehrmeister der Westdeutschen und Inbegriff des Kapitalismus, erscheinen aus diesem Blickwinkel als Heimstätte einer kalten, egoistischen und aggressiven Gesellschaft.

Dennoch unterscheiden sich Ost- und Westdeutschland in Sachen Pazifismus nur graduell. So ist ihre gemeinsame Bedrohungsperzeption schwächer als die der Amerikaner. „Worldviews 2002“ zufolge sahen deutlich weniger Deutsche als Amerikaner (63 zu 91%) im transnationalen Terrorismus eine ernsthafte Bedrohung eigener vitaler Interessen. Das gleiche Muster wiederholte sich bei der Frage nach möglichen Massenvernichtungswaffen Iraks. Gleich nach dem 11. September 2001 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA „uneingeschränkte Solidarität“ versprochen, obgleich schon damals feststand, dass eine Mehrheit der Deutschen vor Kampfeinsätzen der Bundeswehr zurückschreckte und nur Maßnahmen der Friedenssicherung und der logistischen Unterstützung befürwortete.

Bedrohungsperzeption

Meinungsumfragen zeigen, dass sich die deutsche Bedrohungsperzeption im Blick auf den transnationalen Terrorismus zwischen 2002 und 2003 dramatisch verschärft hat. Dieser Umschwung dürfte nicht zuletzt eine Folge traumatischer Erfahrungen sein; dazu zählen die Anschläge von Djerba (11. April 2002) und Bali (12. Oktober 2002), bei denen mehrere Deutsche ums Leben kamen, ebenso wie die Entführung deutscher Touristen in Algerien im Februar 2003. Deutsche bezeichnen sich gern als „Weltmeister des Tourismus“ – und in der Tat reisen Jahr für Jahr viele Millionen Bundesbürger ins Ausland. Ihnen wird immer deutlicher bewusst, dass „die Welt da draußen“ ein gefährlicher Ort ist. Das zunehmende Unsicherheitsgefühl mag zugleich an der Einsicht liegen, dass die Bundesrepublik als Bündnispartner im „Krieg gegen den Terrorismus“ eines Tages selbst zum Zielgebiet terroristischer Angriffe werden könnte.

Als das Thema „Irak“ Ende Juli 2002 zu einem Streitgegenstand des Bundestagswahlkampfs wurde, wollte das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap wissen,13 ob die Bundesrepublik sich einer möglichen Militärintervention an der Seite der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs anschließen solle. Von allen Wählern verneinten 75% diese Frage; nur 21% bejahten sie. In Ostdeutschland war das Ergebnis mit 85 zu 13% noch klarer.

Es überrascht nicht, dass von PDS-Anhängern die vehementeste Ablehnung kam (88:12%), während bei CDU und CSU die Unterstützung am stärksten war (72:26 %) – falls man 26% Zustimmung als „starke Unterstützung“ qualifizieren möchte. Kaum überraschend ist ferner, dass die Antworten anders ausfielen, wenn gefragt wurde, ob sich Deutschland an einer Militäraktion gegen Irak „im Rahmen eines Mandats der Vereinten Nationen“ beteiligen solle. Eine Umfrage von Infratest dimap in der zweiten Januarhälfte 200314 ergab hier einen Gleichstand von 48% Ablehnung und 48% Zustimmung. Allerdings waren 76% zugleich15 der Meinung, dass Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen „auf jeden Fall“ gegen einen Irak-Krieg stimmen solle.

Die meisten Deutschen – vor allem die jüngeren – haben offenbar nichts dagegen, dass der kulturelle Effekt der Globalisierung eine Amerikanisierung Europas ist.16 Sie sind nicht von der Ambition besessen, der Menschheit eine eigene Version westlicher Zivilisation anzubieten, wie es Jean-François Revel großen Teilen der politischen Klasse Frankreichs vorhält.17 Bis zum Jahr 2002 teilten sie auch nicht die französische Vision einer „Weltmacht EU“ – zwar verbündet mit Amerika, aber unabhängig. Den „Worldviews 2002“ zufolge meinten nur 48% der Deutschen, die EU sollte eine Supermacht wie die USA werden – gegenüber 56% in Großbritannien und 91% in Frankreich. Die „Transatlantic Trends 2003“ dokumentieren einen in Europa beispiellosen Wandel der deutschen öffentlichen Meinung: Innerhalb eines Jahres ist die Zustimmung der Bundesbürger zu einer Weltmachtrolle der EU auf 70% geklettert,18 während sie in Großbritannien auf 52% und in Frankreich auf 89% leicht zurückgegangen ist.

Es bleibt die entscheidende Frage, ob und wie sehr sich der Irak-Krieg auch auf langfristige Einstellungen der deutschen Bevölkerungen auswirken wird. Erste Vermutungen lassen sich bereits anstellen: Es gibt keine Anzeichen für eine Renaissance der fossilen antiliberalen Amerikanophobie. Negative Klischees mögen neue Nahrung erhalten haben durch den robusten, als cowboyhaft empfundenen Stil amerikanischer Außenpolitik während der Irak-Krise; aber hier macht sich wohl eher eine kurzzeitige Unzufriedenheit („Anti-Bushismus“) Luft. Laut der Ipos-Untersuchung „Transatlantische Beziehungen“ glauben jedenfalls zwei Drittel der Bundesbürger, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen nur vorübergehend schlecht oder sehr schlecht sein werden. Eine transatlantische Wertekluft in Bezug auf die Anwendung von Gewalt gab es schon lange vor dem Irak-Krieg; schlimmstenfalls hat sie sich verbreitert. In politischer Hinsicht am relevantesten ist der Befund, dass die Deutschen mittlerweile die EU den USA deutlich vorziehen, wie sich aus den „Transatlantic Trends 2003“ – und mittelbar auch aus der Ipos-Untersuchung „Transatlantische Beziehungen“ – ergibt. Seit den fünfziger Jahren haben die Bundesbürger und ihre Regierungen gegenüber Paris und Washington stets eine Position des „Sowohl-als auch“ bezogen. Vielleicht bildet sich hier ein neues, gaullistisch getöntes Muster heraus.

Sollte sich tatsächlich so etwas wie ein deutscher Gaullismus entwickeln, dann sähe er sicher anders aus als das französische Original. Deutsche betrachten die Vereinigten Staaten nicht als Rivalen, und ebenso wenig beneiden sie die Amerikaner um ihre militärische Machtfülle. Präsident George W. Bush traf wohl ins Schwarze, als er in einem Fox News-Interview am 22. September 2003, das seinem Gespräch in New York mit Bundeskanzler Schröder vorausging, Verständnis äußerte für den deutschen Pazifismus, der aus den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sei. Der Bundesbürger größtes Vorbild ist die Schweiz, ein Land mit niedrigen Steuersätzen, hohem Pro-Kopf-Einkommen – und selbstbewusster Neutralität.19 Die präziseste Definition der deutschen „Ohne-mich“-Attitüde stammt vom Neutralisten Ulrich Noack. Er sagte im Jahr 1948: „Wenn die anderen unbedingt schießen wollen, dann machen wir uns klein und lassen sie über uns hinwegschießen.“20 Die deutsche Freiheitsgöttin reckt ihr Schwert nicht in die Höhe.

Anmerkungen

1  Vgl. Fritz R. Stern, The Politics of Cultural Despair: A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961. Dt. Ausgabe: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern/ Stuttgart/Wien 1963.

2  Adolf Halfeld, Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers, Jena 1927.

3  Vgl. seine Rezension der Neuauflage von Dan Diners Essay „Feindbild Amerika“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 13.11.2003.

4  Vgl. hierzu die umfassende Darstellung von Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, Düsseldorf 2001.

5  Vgl. Richard Löwenthal, Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, Stuttgart 1970.

6  <http://peoplepress.org/reports/display. php3?ReportID=185>.

7  <http://www.worldviews.org&gt;.

8  <http://www.transatlantictrends.org&gt;.

9  <http://www.bdb.de/pic/artikelpic/112003/mT_Transatlant_0903.pdf&gt;.

10 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002, München 2002 , S. 1005; ferner Elisabeth Noelle-Neumann, Die Entfremdung, in: FAZ, 23.7.2003.

11 ZDF-Politbarometer, 16.5.2003.

12 Vgl. Detlef Pollack, Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung sowie Aike Hessel et al., Psychische Befindlichkeiten in Ost- und Westdeutschland im siebten Jahr nach der Wende, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/1997, S. 3–24.

13 Welt am Sonntag, 4.8.2002.

14 ARD-Tagesthemen, 24.1.2003.

15 ARD-Tagesthemen, 17.1.2003.

16 Eine solche Schlussfolgerung lässt sich unter anderem aus den „Views of a Changing World 2003“ ziehen. Interessanterweise ist hiernach der Kulturprotektionismus bei den Franzosen (vor allem den jüngeren) nicht signifikant stärker ausgeprägt als bei den Deutschen – möglicherweise ein Indiz dafür, dass die „exception culturelle“ eher ein Anliegen der politischen Klasse als der Bevölkerung Frankreichs ist.

17 Vgl. Jean-François Revel, L’obsession anti-américaine, Paris 2002, S. 63 ff.

18 Laut Ipos-Untersuchung „Transatlantische Beziehungen“ (Anm. 9) antworten demgegenüber nur 58% in Deutschland mit „Ja“ auf die Frage, ob die EU „eine eigenständige Weltmachtrolle anstreben“ sollte; 35% sagten „Nein“.

19 Gallus (Anm. 4, S. 46 ff.) bezeichnet den deutschen Hang zu einer eskapistischen Neutralität als „unterschwellige Neigung“, die „während der bundesdeutschen Geschichte nie eine Chance besessen [hat], die Zugehörigkeit des westdeutschen Teilstaats zum westlichen Bündnis ernsthaft in Frage zu stellen“. Diese Feststellung gilt bislang auch für das vereinte Deutschland.

20 Zitiert nach Joachim Fest, Die deutsche Frage: Das offene Dilemma, in: Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1974–1983. Die Ära Schmidt, Stuttgart/Mannheim 1987, S. 442.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2004, S. 78‑84

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