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01. Jan. 2005

Enorme Unterschiede

Aktuelle Demoskopie zum EU-Beitritt der Türkei

Die aktuelle Demoskopie zum EU-Beitritt der Türkei ergibt kein einheitliches Bild. Viel spricht jedoch für die Annahme, dass die Deutschen das Thema ganz nüchtern angehen

Die Kontroverse über eines der wichtigsten europapolitischen Themen der kommenden Jahre spiegelt sich in einer verwirrenden Vielfalt von Umfrage-Ergebnissen wider. Immerhin spricht viel für die Annahme, dass die Deutschen nüchtern und sachlich über das Thema nachdenken.

Gibt es in Deutschland eine Mehrheit für oder gegen die Aufnahme der Türkei in die EU? Wer sich auf diese schlichte Frage eine eindeutige Anwort erhofft, wird zunächst einmal enttäuscht:

  • Das Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach kam Ende Oktober 2004 zu dem Ergebnis,1 51 Prozent der Bundesbürger seien dagegen, 25 Prozent dafür und 24 Prozent unentschieden.
  • Die Forschungsgruppe Wahlen gab Mitte Oktober bekannt,2 eine knappe Mehrheit von 48 zu 45 Prozent spreche sich gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus. Von einer Aufnahme der Türkei erwarteten 38 Prozent eher Nachteile für Deutschland; auf Vorteile hofften nur 12 Prozent, und 39 Prozent glaubten, dass sich Vor- und Nachteile die Waage halten würden.
  • Wieder anders lautete der Befund von Infratest dimap Anfang Oktober;3 hiernach gaben 55 Prozent der Befragten eine positive und 41 Prozent eine negative Antwort.
  • Anfang Dezember 2004 ermittelte das Meinungsforschungsinstitut IFOP im Auftrag der Tageszeitung Le Figaro,4 55 Prozent der Deutschen stünden einer Aufnahme der Türkei in die EU ablehnend gegenüber, während nur 33 Prozent diesen Schritt befürworteten.5
  • Eine erwähnenswerte Kuriosität ist die Ende Mai/Anfang Juni 2004 von TNS Emnid gestellte Frage, welche Staaten als neue EU-Mitglieder besonders willkommen wären.6 Insgesamt 25 Länder standen zur Auswahl. Auf den ersten drei Plätzen landeten Norwegen (94%), die Schweiz (88%) und Liechtenstein (86%), auf den letzten drei Aserbaidschan (13%), Armenien (22%) und Israel (23%). Die Türkei kam mit 39 Prozent auf Rang 17 – hinter Serbien-Montenegro und Weißrussland, aber vor Georgien und Moldawien.

Werden die Befragten mit der Alternative „Vollmitgliedschaft oder privilegierte Partnerschaft?“ konfrontiert, spricht sich – laut einer Mitte Dezember 2004 abgeschlossenen Umfrage von Infratest dimap7 – eine klare Mehrheit von 62 Prozent für die privilegierte Partnerschaft aus; 27 Prozent favorisieren dagegen die Vollmitgliedschaft. Dies bestätigt den vom Zentrum für Türkeistudien im Herbst 2003 ermittelten Befund,8 wonach rund 57 Prozent der Bundesbürger einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei den Vorzug gegenüber einer Vollmitgliedschaft (rund 33%) geben.

Die zum Teil enormen Unterschiede zwischen den Ergebnissen des IfD Allensbach, der Forschungsgruppe Wahlen, von Infratest dimap und von IFOP sind erklärungsbedürftig. Der Schlüssel zur Auflösung des Widerspruchs dürfte darin liegen, dass die Fragen unterschiedlich gestellt wurden. Das IfD Allensbach sah die Antwortoption „unentschieden“ vor und wollte ohne Umschweife wissen: „Sind Sie dafür oder dagegen, dass die Türkei Mitglied in der EU wird?“; ähnlich war auch der Tenor der von IFOP gestellten Frage. Dagegen baute Infratest dimap einen zeitlichen Puffer ein: „Wie ist Ihre Meinung: Sollte die EU mittel- bis langfristig auch die Türkei aufnehmen oder sollte die Türkei prinzipiell nicht in die EU aufgenommen werden?“ Die von der Forschungsgruppe Wahlen gewählte Formulierung enthielt zwar auch einen Hinweis darauf, dass die Aufnahmeentscheidung nicht unmittelbar bevorstehe; allerdings konkretisierte sie die Zeitangabe: „Soll die Türkei in einigen Jahren in die EU aufgenommen werden?“

Aus diesem Vergleich lässt sich folgern, dass die Antworten umso negativer ausfielen, je stärker die Frage suggerierte, dass eine unwiderrufliche Entscheidung für oder gegen eine Aufnahme der Türkei auf der Agenda stehe. Dieses Muster ist schon seit längerem zu beobachten. Bewusst oder unbewusst haben die politischen Akteure ihre Kommunikation darauf eingestellt. Die einen verfolgen eine Beschwichtigungs-, die anderen eine Alarmierungstaktik: Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei betonen gern, dass die „eigentliche“ Entscheidung noch in weiter Ferne liege. Beitrittsgegner argumentieren, dass die baldige Aufnahme von Verhandlungen das (unerwünschte) Ergebnis präjudiziere.

Lange Zeit war dieses Thema für viele Wählerinnen und Wähler eine eher theoretische Angelegenheit. Je näher der (Vor-)Entscheidungstermin vom 17. Dezember 2004 rückte, desto größer wurde jedoch die Skepsis. Unter CDU/CSU-Anhängern gab es seit Januar 2004 einen regelrechten Stimmungsumschwung: Äußerten sich damals – laut Infratest dimap – 54 Prozent pro und 39 Prozent contra, so waren es im Herbst 20049 45 pro (–9) und 51 contra (+12). Wie die Unionsanhänger sind auch die Wähler der „Sonstigen“ überwiegend skeptisch. Bei den Nichtwählern halten sich Befürworter und Gegner die Waage. Am positivsten standen die Wählerinnen und Wähler der Grünen zu einem mittel- oder langfristigen EU-Beitritt der Türkei (72% pro, 23% contra); es folgten die Anhänger der SPD (64% pro, 33% contra) und der PDS (60% pro, 40% contra).

Betrachtet man die Entwicklung des Meinungsbilds in der Gesamtwählerschaft, dann zeigt sich bei Infratest dimap eine zwar nicht dramatische, aber doch signifikante Verschiebung zwischen Dezember 2002 und Oktober 2004, nämlich eine Abnahme um 5 Prozent bei den Befürwortern und eine Zunahme um 9 Prozent bei den Gegnern.

Ein Vergleich der verschiedenen Wählergruppen ergibt folgendes Bild:

  • Unter West- und Ostdeutschen sind die Befürworter gleich stark; im Westen sind die Gegner etwas stärker (42% gegenüber 38% contra).
  • Frauen (46% contra) stehen einem EU-Beitritt der Türkei skeptischer gegenüber als Männer (38% contra); laut der IFOP-Umfrage vom Dezember 200410 sahen die weiblichen Befragten in allen untersuchten Ländern die Lage der Frauen in der Türkei deutlich kritischer als die männlichen Befragten.
  • Je geringer das Einkommen und der Schulabschluss, desto geringer die Zustimmung (Befragte mit Volks- und Hauptschulabschluss: 46% contra; mit Abitur und Fachhochschulreife: 64% pro). Innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen gibt es besonders viele Beitrittsgegner unter den Arbeitern (48% contra), besonders viele Befürworter (61% pro) unter den leitenden Angestellten und Beamten. Beide Muster werden durch die IFOP-Umfrage bestätigt; IFOP kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Zahl der positiven Antworten in den urbanen Zentren zum Teil signifikant höher ist als in ländlichen Regionen.
  • Differenziert man nach Altersgruppen, so fällt auf, dass bei Jung- und Erstwählern die Ablehnung stärker ausgeprägt ist (46% contra) als bei Wählern im Rentenalter (42% contra); die 25- bis 34-Jährigen stehen einem EU-Beitritt der Türkei besonders positiv gegenüber (58% pro) – einen vergleichbaren Befund hat auch IFOP ermittelt.

Unter den Beitrittsbefürwortern finden am meisten Unterstützung die Argumente, die Türkei gehöre zu Europa (34%); sie könne eine Brücke zur islamischen Welt bauen (17%). Unter den Gegnern finden besonderen Zuspruch die Gedanken, die Türkei sei kein Rechtsstaat (27%)11; sie sei kein christliches, sondern ein muslimisches Land (25%) und gehöre nicht zu Europa (23%). Das in der politischen Debatte bedeutsame Argument, die EU würde durch eine Aufnahme der Türkei überfordert, spielt nur für 8 Prozent der Beitrittsgegner eine Rolle; dies mag sich ändern, wenn die Integration der zehn neuen Mitgliedsstaaten sich als extrem schwierig erweisen und/oder der EU-Verfassungsvertrag in einem der nationalen Referenden scheitern sollte.

Laut einer Forsa-Umfrage Anfang Oktober12 waren 59 Prozent der Bundesbürger für eine deutsche Volksabstimmung über den EU-Beitritt der Türkei – gegenüber 39 Prozent, die das ablehnen. Gleichzeitig ermittelte Forschungsgruppe Wahlen13 eine klare Mehrheit von 62 zu 27 Prozent gegen die von den Unionsparteien kurzzeitig erwogene Unterschriftenaktion. Nimmt man beides zusammen, dann spricht viel für die Annahme, dass die Deutschen zu einer sachlichen Kontroverse über dieses zentrale europapolitische Thema bereit und in der Lage sind. Für die politischen Eliten gibt es keinen triftigen Grund, das Thema dem offenen demokratischen Diskurs zu entziehen aus Sorge, es könnten schlafende Hunde am rechten Rand des Parteienspektrums geweckt werden.

1 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 31.10.2004, S. 33, 990 Befragte, Alter ab 16 Jahre.

2 ZDF-Politbarometer, 15.10. 2004, 1240 Befragte, Alter ab 18 Jahre.

3 ARD-Bericht aus Berlin, 1.10.2004, 1000 Befragte, Alter ab 18 Jahre.

4 Les Européens et la Turquie, veröffentlicht am 13.12.2004, siehe www.ifop.com/europe/docs/europeturquie.pdf.

5 Am stärksten war die Ablehnung in Frankreich mit 67 Prozent, am schwächsten in Spanien mit 18 Prozent.

6 Siehe Chrismon, 7/2004, S. 9, 1006 Befragte, Alter ab 14 Jahre.

7 ARD-Morgenmagazin, 17.12.2004, 550 Befragte, Alter ab 18 Jahre.

8 Siehe www.zft-online.de/deutsch.php, 1006 Befragte im September/Oktober 2003, Alter ab 18 Jahre.

9 A.a.O. (Fußnote 3). Auch die nachfolgenden Zahlen stammen – soweit nicht ausdrücklich eine andere Quelle erwähnt wird – aus dieser Umfrage.

10 A.a.O. (Fußnote 4).

11 Die IFOP-Umfrage ergab, dass die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei in allen untersuchten Ländern als besonders schwerwiegender Einwand gegen ihren EU-Beitritt betrachtet wird.

12 Vgl. www.stern.de/politik/deutschland/forsa/index.html 13 A.a.O. (Fußnote 2).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 61 - 63.

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