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01. Nov. 2021

Tugendweltmeister oder Innovationschampion?

Was Deutschland und Europa im Kampf gegen den ­Klimawandel tun können.

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Bild: Rendering eines Hyperport-Modells
Schnelle Fracht: das vom Hamburger Hafen mitentwickelte System „Hyperport“ könnte Seecontainer 
in kürzester Zeit Hunderte von Kilometern ökologisch nachhaltig transportieren.
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Es vergeht kaum eine Woche ohne neue ­Hiobsbotschaften zum Klimawandel. Die bisherigen freiwilligen Selbstverpflichtungen (Nationally Determined Contributions) der Staaten zur Senkung ihrer Treibhausgas-Emissionen ­bleiben weit hinter den erforderlichen Anstrengungen ­zurück.



Der globale CO2-Ausstoß stieg im vergangenen Jahrzehnt um 11,4 Prozent; nach einem kurzen Rückgang im Gefolge der Corona-Krise geht die Kurve wieder nach oben. Der jüngste Bericht der UN-Klimaagentur warnt, „dass sich die Welt auf einem katastrophalen Weg in Richtung einer Erwärmung von 2,7 Grad Celsius befindet“, so UN-­Generalsekretär António Guterres. Die Risikoschwelle von 1,5 Grad wird voraussichtlich bereits um das Jahr 2030 erreicht.



Bei diesen Projektionen wird davon ausgegangen, dass die Länder ihre gegenwärtigen Selbstverpflichtungen tatsächlich einhalten werden. Tun sie es nicht, droht bis zum Ende unseres Jahrhunderts ein Temperaturanstieg in Größenordnungen um vier Grad. Die Gefahr, dass die Erde über die kommenden zwei, drei Generationen zu einem extrem unwirtlichen Ort wird, ist real.



Dass der Klimawandel nur durch globales Handeln eingedämmt werden kann, ist eine Binsenweisheit. Für die Frage, was wir in Deutschland tun können, um die Erderwärmung aufzuhalten, ist dies aber keineswegs banal. Gemessen an unserem Anteil von 2 Prozent an den globalen Treibhausgas-Emissionen haben wir es nicht in der Hand, den Klimawandel zu stoppen. Die Wissenschafts- und Industrienation Deutschland hat jedoch das ­Potenzial, einen erheblich größeren globalen Beitrag zu leisten, indem wir zum Laboratorium für klimafreundliche Lösungen werden, die für den großen Rest der Welt anschlussfähig sind.



Es lohnt deshalb, einen genaueren Blick auf die internationale Dynamik zu werfen. Historisch haben Europa und die USA den Löwenanteil der Treibhausgas-Emissionen angehäuft. Kohle, Öl und Gas waren der Treibstoff der industriellen Moderne. Sie hat nie gekannte technische, soziale und kulturelle Errungenschaften hervorgebracht. Gleichzeitig haben wir ökologisch betrachtet über unsere Verhältnisse gelebt. Die nie dagewesene Steigerung des Wohlstands breiter Schichten wurde und wird durch Raubbau an der Natur erkauft.



Inzwischen sinkt der CO2-Output in den alten Industriemetropolen. In der EU gingen die Treibhausgas-Emissionen zwischen 1990 und 2019 um 24 Prozent zurück, während die Wirtschaftsleistung um beachtliche 60 Prozent stieg. Wie in anderen hochentwickelten Regionen ist wirtschaftliches Wachstum nicht länger an steigende CO2-Emissionen gekoppelt. Vielmehr hat bereits eine reale Entkopplung eingesetzt. Das ist die gute Nachricht.   



Parallel ist aber in China und anderen Schwellenländern der CO2-Ausstoß seit 1990 rasant gestiegen und steigt weiter, wenn auch mit gebremster Geschwindigkeit. Allein auf China entfallen knapp 30 Prozent der Emissionen und 50 Prozent des weltweiten Kohleverbrauchs. Das Land emittiert inzwischen mehr Treibhausgase als die anderen Industriestaaten der OECD zusammen. Auch bei den Pro-Kopf-Emissionen liegt China über dem EU-Durchschnitt. Indien kommt von sehr geringen Pro-Kopf-Emissionen, holt aber rasch auf. Das gilt auch für andere bevölkerungsreiche asiatische Staaten. Die wichtigste Energiequelle für ihre rapide Industrialisierung ist nach wie vor die Kohle. Asien ist heute das Epizentrum des Klimawandels.



Chinas bedeutender Schritt

Vor der bevorstehenden UN-Klimakonferenz in Glasgow hat Chinas Präsident Xi Jinping angekündigt, Finanzierung und Bau neuer Kohlekraftwerke im Ausland zu beenden. Das ist ein bedeutender Schritt – im vergangenen Jahrzehnt war Peking der Hauptgeldgeber für international finanzierte Kohleprojekte. Von einem Kohleausstieg in China ist allerdings noch keine Rede. Bleibt die Frage, was diese Ankündigung für die 40 Gigawatt-Kohlekraftwerke bedeutet, die China bereits in anderen Ländern – vornehmlich in Asien – in der Pipeline hat.



Nicht zu vergessen Russland, das als weltgrößter Exporteur fossiler Energieträger den Klimawandel fleißig anheizt. Gemessen an der überragenden ökonomischen Bedeutung dieses Sektors und seiner engen Verflechtung mit der Staatsmacht ist das heutige Russland ein fossiles Energie-Imperium. Obwohl das Land zunehmend vom Klimawandel getroffen wird, ist die herrschende Politik von einem Kurswechsel weit entfernt. Vielmehr zielen alle staatlichen Programme auf die weitere Steigerung der Ausfuhr von Öl, Gas und Kohle. Die Führungseliten spekulieren darauf, dass sie selbst bei einer schrumpfenden globalen Nachfrage nach fossilen Energieträgern ihren Weltmarktanteil noch ausbauen können. Nord ­Stream 2 ist für sie eine Bestätigung ­dieses Kalküls. Für Russland wie für andere fossile Großexporteure ist die Versuchung hoch, ihre einschlägigen Vorräte noch möglichst schnell zu Geld zu machen, bevor der Klimawandel sie entwertet.



Die alte Vorstellung, die entwickelten Industrieländer müssten ihre Emissionen senken, damit die Entwicklungsländer ihr CO2-Budget noch ausreizen können, ist überholt. Beide müssen gemeinsam in einer historisch kurzen Zeitspanne den Sprung in eine postfossile Ökonomie schaffen. Das wird nur gelingen, wenn die relativ wohlhabenden Industrienationen sich nicht nur um ihre eigene Klimabilanz kümmern, sondern in großem Stil Kapital und technisches Know-how für die Entwicklungsländer bereitstellen. Unter dem Strich kann ein Euro, der in Afrika in erneuerbare Energien oder den Ausbau des Schienenverkehrs investiert wird, mehr CO2-Emissionen vermeiden als in Europa.



Sprung in eine postfossile Ökonomie

Zu den hoffnungsvollen Zeichen, dass der Wettlauf gegen den Klimawandel doch noch gewonnen werden kann, gehört die massive Kostendegression bei erneuerbaren Energien. Steigender Wirkungsgrad, Serienproduktion, optimierte Lieferketten und professionelles Projektmanagement führen dazu, dass Solar- und Windstrom inzwischen an zahlreichen Standorten kostengünstiger sind als fossile Alternativen. Seit 2010 sind die Stromgestehungskosten für Photovoltaik um 82 Prozent gesunken, gefolgt von solarthermischen Kraftwerken mit 47 Prozent, Windenergie an Land mit 39 Prozent und Windenergie auf See mit 29 Prozent. Die Chance wächst, dass der Energiehunger der Entwicklungsländer überwiegend mit erneuerbaren Energien gestillt werden kann.



Eine ähnliche Lernkurve durchlaufen gegenwärtig Speichertechnologien. Die Ladekapazität von Batterien steigt, während die Kosten pro Kilowattstunde rasch fallen. Das beschleunigt den Übergang zu Elektromobilität – was besonders relevant ist für die bevölkerungsreichen Länder Asiens und Afrikas, in denen der motorisierte ­Individualverkehr noch massiv zunehmen wird. Zum Vergleich: Die Anzahl der Pkw pro 1000 Einwohner liegt in Deutschland bei 573, in Indien bei 9,8 und in Äthiopien unter eins. Der Ausbau öffentlicher ­Verkehrssysteme kann diese Entwicklung abbremsen, wird sie aber nicht aufhalten.



Ob es uns gefällt oder nicht: Die globale Wirtschaftsleistung wird sich in den kommenden 25 bis 30 Jahren noch einmal glatt verdoppeln. Dafür genügt eine durchschnittliche Wachstumsrate von 3 Prozent im Jahr. Treiber dieser Entwicklung ist nicht eine ominöse „­Wachstumsideologie“, ­sondern sehr reale Faktoren: Die Weltbevölkerung wird bis Mitte des Jahrhunderts noch einmal um rund 2,5 Milliarden Menschen anwachsen. Die Mehrzahl von ihnen werden in großen Städten leben. Das erzeugt eine massive Nachfrage nach Wohnungen, Energie, Dienstleistungen und Infrastruktur. Gleichzeitig drängen Milliarden von Menschen aus ärmlichen Lebensverhältnissen in die globale Mittelschicht. Nicht zuletzt beschleunigt sich der technische Wandel auf allen Gebieten. Innovation ist ein zentraler Treiber für wirtschaftliches Wachstum: Neue Technologien, Produkte und Dienstleistungen erhöhen Angebot und Nachfrage.



Der Übergang zu Green Growth

Angesichts dieser globalen Wachstumsdynamik hängt alles an der Entkopplung von wirtschaftlicher Wertschöpfung und Naturverbrauch. Die Forderung nach Nullwachstum grenzt an Realitätsflucht.

Selbst wenn das alte Europa sich in Konsumverzicht üben würde, verlangsamte sich das globale Wirtschaftswachstum allenfalls um ein paar Stellen hinter dem Komma. Die Zukunft des Planeten entscheidet sich daran, ob innerhalb des kommenden Jahrzehnts der Übergang zu „Green Growth“ gelingt. Es geht um nichts weniger als eine neue grüne industrielle Revolution – einen großen Aufbruch in die ökologische Moderne.



Eine öko-intelligente, nachhaltige Produktionsweise basiert auf

  • Sonnenenergie und daraus abgeleiteten Energieformen (Wasserstoff, E-Fuels), nachwachsenden Rohstoffen und biologischen Verfahren (Bioökonomie),
  • steigender Ressourceneffizienz (aus weniger Material und Energie mehr Wohlstand erzeugen) und
  • einer modernen Kreislaufwirtschaft, in der jeder Reststoff wieder in den industriellen oder biologischen Kreislauf zurückkehrt (Cradle to Cradle).

Ihre größte Produktivkraft ist der menschliche Erfindungsreichtum: unsere Fähigkeit, auf selbst erzeugte Krisen kreative Antworten zu finden.



European Green Deal

Der Klimawandel ist im Zentrum der europäischen Politik angekommen. Mit ihrem jüngst beschlossenen Klimapaket hat die Europäische Union eine globale Vorreiterrolle übernommen. Spätestens bis zur Mitte des Jahrhunderts soll Europa klimaneutral sein. Wichtiger noch ist die Verpflichtung, bis zum Ende dieses Jahrzehnts die Treibhausgas-Emissionen der EU-Staaten um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Ausgangsjahr 1990 zu ­reduzieren.



Um dieses Ziel zu erreichen, wurde das größte Investitionsprogramm der europäischen Geschichte beschlossen: Der European Green Deal soll die ökologische Modernisierung des Energiesystems, der Industrie, des Verkehrs, der Landwirtschaft vorantreiben und Europa zum Vorreiter einer klimafreundlichen Ökonomie machen. In den kommenden Jahren sollen 30 Prozent des EU-Budgets – annähernd 550 Milliarden Euro – für klimarelevante Programme und Projekte ausgegeben werden. Darunter fallen Forschung und Entwicklung, der Umbau des Energiesystems, industrielle Pilotprojekte, Investitionen in Elektromobilität und den Ausbau des Schienenverkehrs sowie Zuschüsse für Regionen, die vor einem tiefgreifenden Strukturwandel stehen. Dazu kommen flankierende Programme auf nationaler Ebene sowie zinsgünstige Kredite der Europäischen Investitionsbank, die in großem Stil privates Kapital mobilisieren sollen – alles in allem ein Volumen von mindestens einer Billion Euro, das bis 2030 in den ökologischen Umbau fließen soll.



Strukturelle Änderungen

Parallel zu dieser Investitionsoffensive sollen die Energiebesteuerung reformiert und der CO2-Emissionshandel auf Landwirtschaft und Verkehr ausgeweitet werden. Die Verteuerung von CO2-Emissionen und Umweltverbrauch ist auf Dauer das effektivste und damit auch kostengünstigste ökologische Steuerungsinstrument.

Damit diese Ziele in der Praxis erreicht werden, sind tiefgreifende strukturelle Änderungen erforderlich:

  • Ein nahezu vollständiger Ausstieg aus der Kohleverstromung; gleichzeitig muss die Nachfrage nach Erdgas erheblich reduziert werden.
  • Erneuerbare Energien sollen bis 2030 70 bis 75 Prozent des Strommix ausmachen.
  • Die ökologische Renovierung von Gebäuden soll auf jährlich 2,5 Prozent des Bestands erhöht werden und rund 80 Prozent des Energieverbrauchs einsparen.
  • Elektrofahrzeuge sollen bis zu 80 Prozent der Neuwagenverkäufe ausmachen, während Verbrennungsmotoren weitgehend aus dem Verkehr gezogen werden.
  • Die Industrie muss große Fortschritte in Richtung Kreislaufwirtschaft machen, Primärrohstoffe müssen durch recycelte Materialien ersetzt werden.
  • Landwirtschaftliche Treibhausgas- Emissionen müssen um mindestens 25 Prozent sinken. Das erfordert vor allem eine deutliche Reduktion industrieller Massentierhaltung.

 

Ein weiträumiger Verbund

Ein Kernelement des European Green Deal ist die Dekarbonisierung des Energiesektors. Dabei zeichnen sich zwei Wege ab: Deutschland setzt auf 100 Prozent erneuerbare Energien, insbesondere Solar- und Windenergie. Für Frankreich bleibt die Kernenergie ein unverzichtbarer Bestandteil eines CO2-neutralen Energiemix.



So oder so erfordert der Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas einen weiträumigen Erneuerbare-Energie-Verbund, der Windstrom von den europäischen Küsten mit Wasserkraft aus Skandinavien und Solarstrom aus der Mittelmeerregion verbindet. Das gilt erst recht im Hinblick auf die kostengünstige Produktion von Wasserstoff in großem Stil. Wasserstoff spielt eine zentrale Rolle für eine klimaneutrale Ökonomie: als Speichermedium für Regenerativstrom, als Treibstoff für klimaneutrales Fliegen, Schifffahrt und Schwerlastverkehr sowie als Substitut für fossile Energieträger in der Chemie- und Stahlindustrie.



Die EU importiert heute etwa 70 Prozent ihrer Primärenergie in Form von Kohle, Öl und Gas. Sie wird auch künftig einen relevanten Teil „grüner“ Energien aus Regionen importieren müssen, in denen Sonne, Wind und Flächen reichlich vorhanden sind. In diesem Zusammenhang wird auch die Energiekooperation mit den Wüstenstaaten Nordafrikas und des Nahen Ostens an Bedeutung gewinnen. Dazu müssen entsprechende zwischenstaatliche Rahmenabkommen geschlossen werden.



Druck der Zivilgesellschaft

Jenseits der ökonomischen Chancen, die der Aufbruch zu einer klimaneutralen Industriegesellschaft bietet, lohnt sich ein Blick auf die gesellschaftliche Konstellation, die den European Green Deal erst möglich gemacht hat. Ein zentraler Treiber ist der wachsende Druck der Zivilgesellschaft. Insbesondere in der jüngeren Generation ist der Klimawandel inzwischen zum Thema Nummer eins geworden. Auch in den Medien spielt er eine große Rolle.



Ein entscheidender Faktor ist die veränderte Haltung vieler Unternehmen, die eine ambitionierte Klimapolitik nicht mehr als Bedrohung abwehren. Sie wird inzwischen als Notwendigkeit akzeptiert und zugleich als Chance, die europäische Wirtschaft fit für die Zukunft zu machen. Der Weltmarkt für erneuerbare Energien, Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, Biotechnologie, Recycling, ressourceneffiziente Produkte, Batterietechnik und E­lektro­mobilität wächst rapide. Wer diesen Zug verpasst, wird zum Industriemuseum.



Ein Schrumpfeuropa reicht nicht

Der Erfolg des European Green Deal bemisst sich nicht nur an einer durchgreifenden Minderung der hausgemachten Emissionen. Den größten Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten wir, indem wir innovative Lösungen für Energie, Mobilität, Industrie und Städtebau entwickeln, die für die großen Wachstumsregionen in Asien, Lateinamerika und Afrika anschlussfähig sind. Dort entscheidet sich die Zukunft des Erdklimas.



Zugespitzt heißt das: Wir sollten Innovations- statt Tugendweltmeister sein. Kein Mensch interessiert sich für ein selbstgenügsames Schrumpfeuropa. Vielmehr müssen wir zeigen, dass wirtschaftliche Dynamik, sozialer Fortschritt und Klimaschutz Hand in Hand gehen können.     

 

Ralf Fücks ist Mitbegründer des Zentrums Liberale Moderne. Zuvor war er lange Jahre Vorstand der Heinrich-Böll-­Stiftung.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, Klima, November 2021, S. 46-51

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