„Russland gewinnt den Krieg“ – sicher?
Allenthalben mehren sich die Stimmen, die Russland im Krieg gegen die Ukraine im Vorteil sehen: Dass Moskau gewinne, sei nur eine Frage der Zeit. An dieser Behauptung aber sind begründete Zweifel angebracht. Eine Entgegnung.
Wladimir Putin und seine Getreuen dürften das aktuelle Presseecho in Deutschland und anderen NATO-Staaten mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen. „Russland gewinnt den Angriffskrieg“, ist zu lesen, weil im derzeitigen Stellungskrieg im Osten der Ukraine die Zeit für Moskau arbeite.
Russland verfüge über die größeren Reserven und könne nahezu unbegrenzt Menschen und Material an die Front werfen – die Niederlage der Ukraine sei damit früher oder später zwangsläufig. Die Phalanx der westlichen Unterstützer der Ukraine werde bröckeln, da andere Krisen, wie etwa die Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern, den Krieg in Osteuropa überlagerten. Auch würden die Alltagssorgen der Menschen in Deutschland, von steigenden Preisen bis hin zum wachsenden Migrationsdruck, eine wachsende Ukraine-Müdigkeit nach sich ziehen. Die USA, nach wie vor stärkster Unterstützer der Ukraine, würden auf Druck der Republikaner ihre Hilfen erheblich kürzen, und wenn im kommenden November Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt würde, dann sei ohnehin alles aus.
Abgesehen davon, dass nicht einmal definiert ist, was man denn unter einem russischen „Sieg“ oder einer ukrainischen Niederlage genau zu verstehen hat, sind doch erhebliche Zweifel an einem solchen Niedergangs-Szenario angebracht.
Russlands Position bleibt schwierig
Zunächst sollte man sich erinnern, dass es am 24. Februar 2022 als nahezu gesichert galt, dass die Ukraine dem russischen Angriff nur wenige Tage oder Wochen würde standhalten können. Das war nicht mal unplausibel, standen doch der kleinen ukrainischen Verteidigungsmacht die vermeintlich gewaltigen russischen Streitkräfte gegenüber, die sich selbst in der Tradition der glorreichen Roten Armee sahen. Der Gedanke, dass man ein Jahr später sogar einen möglichen „Sieg“ der Ukraine ins Auge fassen würde, wäre damals als Phantasterei abgetan worden.
Auch heute befindet sich Russland in einer Position, die alles andere als komfortabel ist. In mittlerweile neun Jahren Krieg gegen die Ukraine haben die russischen Streitkräfte gerade einmal 19 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt. Der gezahlte Blutzoll ist unvorstellbar. Vor einigen Tagen veröffentlichte der amerikanische Geheimdienst Schätzungen von 315 000 Opfern auf russischer Seite, das sind fast 90 Prozent der 360 000 Mann starken Invasionsarmee, mit der Russland den Angriff begonnen hatte. Andere Schätzungen, die von den (bekannten) Zahlungen der russischen Regierung an Opferfamilien auf die Zahl der Toten und Verletzten schließen, kommen zu noch höheren Angaben.
Weitere Mobilisierungswellen dürften überaus schwer werden, von den Folgen für die Motivation der Streitkräfte ganz zu schweigen. Der Verlust an Soldaten und Material, so der amerikanische Bericht weiter, würde Russland militärisch um 18 Jahre zurückwerfen. Auch hat Russland keinen einzigen der Züge oder Konvois, die westliche Hilfe über Polen in die Ukraine bringen, abfangen können. Die Schwarzmeerflotte hat einen großen Teil ihrer Schiffe aus Sewastopol abziehen und weiter nach Osten verlagern müssen, weil schon nur wenige britische Storm Shadow-Marschflugkörper eine erhebliche Gefahr darstellen. Die von Nordkorea gelieferte Munition soll erhebliche Sicherheitsprobleme mit sich bringen und kaum einsetzbar sein. Weitere Sanktionspakete der Europäischen Union oder der USA stopfen Schlupflöcher, durch die Russland moderne Technologie bezogen hatte.
Gewaltige Kosten
Die Kosten des Krieges sind für Russland ebenfalls gewaltig und werden im kommenden Jahr 40 Prozent der gesamten Staatsausgaben verschlingen. Gazprom, dessen Gewinne einst zehn Prozent des Staatshaushalts ausmachten, hat 80 Prozent seiner Märkte in Westeuropa verloren, ohne dies mit Lieferungen nach Indien oder China kompensieren zu können – es fehlen schlicht die Pipelines. Öl an Indien zum Preis von 70 Dollar pro Barrel liefern zu müssen, ist ebenfalls keine Goldgrube. Auch steht man mit der NATO einer Allianz gegenüber, deren Bruttoinlandsprodukt etwa zwanzigmal höher ist als das Russlands – von den übrigen Unterstützern der Ukraine im Rahmen der G-7 ganz zu schweigen.
Aber, so heißt es, Russland ist leidensfähig und kann die eigenen Nöte aussitzen, bis die westliche Unterstützung für die Ukraine schwindet. Allerdings sieht es auch danach bislang nicht aus. Die Mitglieder der Europäischen Union haben gerade die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine beschlossen und bieten dem Land damit die Verankerung im Westen an – etwas, das Putin unbedingt verhindern wollte. Ein erneutes Hilfspaket für die Ukraine wird trotz des aktuellen Widerstands von Ungarn früher oder später beschlossen werden, und selbst wenn irgendwann das Engagement der EU insgesamt nachlassen sollte, so werden Länder wie Polen, Finnland, Schweden oder die baltischen Staaten die Ukraine immer unterstützen.
Ungebrochene Solidarität
Bemerkenswert ist auch, dass Deutschland bei den jüngst notwendig gewordenen Haushaltskürzungen den Verteidigungshaushalt und die Ukraine-Hilfe weitgehend ausgenommen hat und stattdessen bei Sozial- und Klimaschutzausgaben spart – und das unter einem sozialdemokratischen Kanzler und einem grünen Wirtschaftsminister. Umfragen zeigen, dass diese Prioritätensetzung sogar eine deutliche Mehrheit in der Öffentlichkeit findet.
Was ist aber mit dem wachsenden Unwillen der US-Republikaner, weiterhin Gelder für die Ukraine bereitzustellen – ist nicht gerade Präsident Selensky unverrichteter Dinge wieder aus Washington abgereist? Auch hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Die Mehrzahl der Republikaner im Kongress ist nicht gegen die Unterstützung der Ukraine, sondern vor allem gegen Präsident Joe Biden, dem man keinen Erfolg gönnen möchte.
Die eigentliche innenpolitische Debatte dreht sich um Mittel für die Sicherung der amerikanischen Südgrenze gegen Migranten – eine Diskussion, welche die Republikaner unbedingt führen, die Demokraten aber vermeiden wollen. Die Ukraine-Hilfen sind der Spielball in dieser heftigen Auseinandersetzung. Gelingt es beiden Parteien, trotz der tiefen gesellschaftlichen Spaltung über ihre Schatten zu springen, können auch Hilfen für die Ukraine weiter fließen. Am 13. und 14. Dezember haben Senat und Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit beider Parteien einen Kompromissbeschluss auf den Weg gebracht, der Hilfen für die Ukraine für zwei weitere Jahre ermöglicht, sofern Präsident Biden Zugeständnisse bei der „Border Security“ macht. Widerstand gegen den Beschluss kam lediglich aus den Reihen der republikanischen Isolationisten.
Und wenn Trump gewinnt und am 20. Januar 2025 als neuer Präsident vereidigt wird? Dann ist ohnehin alles anders, nicht nur in Sachen Ukraine, sondern auch mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen oder die Zukunft der NATO. Das ist aber erstens nicht garantiert und zweitens sind es bis dahin noch 13 Monate – eine Zeit, die für Putin angesichts der geschilderten Probleme sehr lang werden kann.
Heißt das alles, dass im Umkehrschluss der Erfolg der Ukraine gesichert ist? Keinesfalls, auch dort sind die Verluste gewaltig, und ohne die große internationale Unterstützung hätte das Land dem Druck Russlands nie so lange standhalten können. Es ist an der Ukraine zu entscheiden, wie lange sie die eigenen Opfer noch bringen kann und will und ob sie unter „Sieg“ die Rückeroberung ihres gesamten Staatsgebiets versteht oder irgendeine Form von Kompromiss. Bis dahin ist weitere westliche Hilfe für die Ukraine sicherheitspolitisch, militärisch und auch moralisch zwingend erforderlich. Jede Rhetorik à la „Russland gewinnt sowieso“ untergräbt die internationale Solidarität, durch die die Ukraine bislang überleben konnte.
Internationale Politik online exklusiv, 15. Dezember 2023
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