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01. Sep 2005

Ressource Rechtsstaatlichkeit

Im Spiegel verschiedener Rechtsstaatsdiskurse betrachtet

Welche Rolle spielt das Rechtsstaatsprinzip für ein funktionierendes Staatswesen? Lassen sich die rechtsstaatlichen Denkweisen und Traditionen des westlichen Kulturkreises ohne weiteres in andere
Weltgegenden, insbesondere in solche mit begrenzter Staatlichkeit,übertragen? Ein Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Debatte.

Die Idee des Rechtsstaats und ihre ihm innewohnende „institutionelle Kompetenz“, die bisher eher in philosophischen oder rechtswissenschaftlichen Diskursen eine prominente Rolle spielte, wird in der Debatte über notwendige Governance-Strukturen in Weltgegenden begrenzter oder defizitärer Staatlichkeit zum zentralen Argumentationstopos. Zwei Belege mögen an dieser Stelle genügen. Milton Friedman antwortete auf die Frage nach seinem Rezept für eine funktionierende, wohlfahrtsproduzierende Staatlichkeit, dass er früher die Losung „privatize, privatize, privatize“ ausgegeben hätte. Heute würde er der Parole „rule of law, rule of law, rule of law“ den Vorzug geben.1 Auch Derick und Jennifer Brinkerhoff führen „Constitutional Reform, legal framework and rule of law“ als wichtigste Faktoren funktionierender Staatlichkeit an.2 Sie verdeutlichen, dass Gemeinwesen mit funktionierender Staatlichkeit und solche mit defizitärer Staatlichkeit unterschiedliche „Sorgen“ haben. In Staaten mit funktionierender Staatlichkeit stehen „Management-Sorgen“, die Verbesserung der Effizienz des Regierungs- und Verwaltungshandelns im Vordergrund. In Räumen begrenzter Staatlichkeit geht es darum, funktionsfähige Strukturen überhaupt erst aufzubauen, also eine Governance-Infrastruktur, ohne die „kein Staat zu machen ist“. Wenn dabei der Aufbau einer rechtsstaatlichen Infrastruktur im Vordergrund steht, wäre es wichtig, sich über denkbare Governance-Leistungen von Rechtsstaatlichkeit mit einem Überblick über verschiedene, in unterschiedlichen disziplinären Zusammenhängen geführte Rechtsstaatsdiskurse zu vergewissern. Wir wollen sieben verschiedene, sich zwar überlappende, aber analytisch zu trennende Rechtsstaatsdiskurse unterscheiden, um zu einer Schnittmenge zu gelangen, die erste Auskünfte über Rechtsstaatlichkeit als Governance-Ressource geben könnte.

Rechtsstaatlichkeit als Kürzel für die Berechenbarkeit des Rechts

In der staatsrechtlichen Literatur werden häufig die Begriffe des formellen und des materiellen Rechtsstaats einander gegenübergestellt. In der Betrachtungsweise des Rechtsstaats als formellem Rechtsstaat stehen technisch-organisatorische Vorkehrungen zur Disziplinierung der Staatsgewalt im Vordergrund, wie die Gewaltenteilung, der Gesetzesbegriff und die Unabhängigkeit der Gerichte. Ernst Forsthoff3 hat immer wieder geltend gemacht, dass der Rechtsstaat formal, d.h. von bestimmten Strukturelementen der Verfassungsorganisation her verstanden werden müsse. Wir können Begriff und System des formellen Rechtsstaats daher vor allem in seiner Gesetzmäßigkeit, Kompetenzmäßigkeit, Kontrollierbarkeit und Justizförmigkeit sehen. Das „materiale“ Rechtsstaatsverständnis empfindet – gerade nach den Erfahrungen des Dritten Reiches – diese Betrachtungsweise als zu formalistisch und fragt demgegenüber auch nach Inhalt und Richtung staatlicher Tätigkeit. Im materiellen Rechtsstaat wird „die staatliche Gewalt vorab an bestimmte oberste Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte gebunden erachtet.“4 Eckpfeiler eines solchen Rechtsverständnisses sind die Gewährleistung und unmittelbare Geltungskraft der Grundrechte, die verfassungsrechtliche Konstituierung des Rechtsstaats als sozialer Rechtsstaat5 und die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder betonte Betrachtung der Verfassung als Wertordnung.

Zu den in diesem Sinne wichtigsten Bausteinen des Rechtsstaatsprinzips werden neben der Grundrechtsbindung der Staatsgewalt vor allem die folgenden Elemente gerechnet:6

  • der Grundsatz der Gewaltenteilung
  • die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes)
  • der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot)
  • die Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht
  • der Grundsatz der Rechtssicherheit, insbesondere das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen
  • der Rechtsschutz bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt
  • rechtsstaatliche Strafrechts- und Strafprozessrechtsgrundsätze (vor allem: keine Strafe ohne Gesetz).

Im Mittelpunkt des Rechtsstaatsprinzips steht das Gesetz, und zwar weniger als „zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates“,7 sondern als Verkörperung der Berechenbarkeit des Rechts. Eine Funktion, die man als Garantiefunktion des Gesetzes bezeichnen und wie folgt beschreiben kann: „Das Gesetz als Grundlage und Grenze der Verwaltungstätigkeit und der Rechtsprechung sichert die rechtsstaatlichen Anforderungen der Berechenbarkeit des Rechts, der Rechtssicherheit und des grundrechtlichen Schutzes des einzelnen und wahrt die politische Entscheidungsvollmacht und Leitungsaufgabe der parlamentarischen Volksvertretung.“8

Rechtsstaatlichkeit als Kern der Basisinstitution „Staat“

In seinem „Entwurf eines zeitgemäßen Musters staatlicher Interventionen“ hat Egon Matzner vier für das Zusammenleben der Menschen in der modernen Gesellschaft unentbehrliche Basisinstitutionen ausgemacht: die Institutionen des Eigentums an Produktionsmitteln; des freien Arbeitsvertrages; der Märkte und des Staates. Sie sichern „aufgrund des physischen Gewaltmonopols die Institutionen des Produktionsmitteleigentums, des freien Arbeitsvertrags und der Märkte und nehmen wichtige, vom Markt nicht (oder nicht ausreichend) erfüllbare zentrale Regelungs- und Koordinierungsaufgaben wahr.“9

In sachlich damit übereinstimmender Weise haben Karl Homann und Andreas Suchanek die Unentbehrlichkeit des Staates als regelsetzender Instanz wie folgt begründet: „Worin liegt ... die Aufgabe des Staates? Es geht darum, dass die Menschen zur Aneignung von Kooperationsgewinnen in Interaktionen Regeln, Institutionen benötigen, die die diversen Interaktionsprobleme und -blockaden zu überwinden vermögen. Es gibt in der Geschichte verschiedene Formen der Etablierung von Regeln, Institutionen. Wir können im Rahmen dieses Buches nur die zwei konträren Grundmodelle kennzeichnen und dann auf das Modell näher eingehen, das die Geschichte der letzten Jahrhunderte und die Theoriebildung in der Ökonomik in besonderer Weise bestimmt hat: die Regelsetzung durch den Staat. Wir setzen diesen Akzent wohl wissend, dass der Staat als Nationalstaat aufgrund der als ‚Globalisierung’ bezeichneten Entwicklung den Zenit seiner Bedeutung für die Interaktionen der Menschen in der modernen Gesellschaft überschritten zu haben scheint.“10

Interessant an diesen beiden parallel laufenden Argumentationslinien ist nun, dass dem Staat eine herausgehobene Rolle zukommt, da sowohl das Funktionieren der anderen Basisinstitutionen als auch die Realisierbarkeit von Kooperationsgewinnen die Existenz des Staates als zentraler rechtlicher Regelungsinstanz voraussetzen. In dieser Funktion als Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsinstanz – und das ist die zweite, uns interessierende Botschaft – wird der Staat konsequenterweise erst ersetzbar sein, wenn diese Basisfunktion der Produktion und Durchsetzung von Rechtsregeln von anderen – möglicherweise quasi- oder nichtstaatlichen – Institutionen übernommen wird.

Rechtsstaatlichkeit als Kulturleistung

In den Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig11 wurde unter anderem diskutiert, ob Staatsgewalt, Gewaltmonopol und rechtsstaatliche Infrastruktur als Kulturleistungen anzusehen seien und ob dann nicht auch die Frage nach der Exportfähigkeit dieser westlichen Kulturleistung gestellt werden müsse. Was die erste Frage angeht, so wurde sie von Georg W. Oesterdieckhoff unter Bezugnahme auf die Zivilisationstheorie von Norbert Elias bejaht: „In der Auffassung von Elias ist der Staat weniger das Resultat einer Kulturleistung, als er es vielmehr ist, der zivilisierte Kultur im neuzeitlichen Sinne schafft. Andererseits kann jedoch … der Staat nur Bestand haben, wenn die Bevölkerung zivilisatorisch psychisch habituell entwickelt ist … Der Staat schafft zivilisierte Kultur und benötigt sie, um existieren zu können.“12

Kann man mit dieser an Ernst-Wolfgang Böckenförde erinnernden Argumentation (der moderne Verfassungsstaat beruht auf Voraussetzungen, die er selbst nicht oder nur bedingt gewährleisten kann) Rechtsstaatlichkeit als Kulturleistung bezeichnen, so stellt sich das Problem der Transferierbarkeit dieses Kulturguts in Gesellschaften von anderer „psychisch-habitueller“ Beschaffenheit. Trutz von Trotha vertritt die These, dass unsere staatszentrierte Sichtweise mit den staatsverknüpften Errungenschaften wie Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit für solche Kulturen gänzlich unangemessen sei, die durch eine ganz andere Konfliktkultur gekennzeichnet sind.13 Solche Kulturen würden auf gut gemeinte, aber notwendig erfolglose Kulturtransfers mit Zurückverweisung reagieren. Ein Befund, für den von Trotha den anschaulichen Begriff „der verweigerte Rechtsstaat“ geprägt und am Beispiel Schwarzafrikas erläutert hat: „Schwarzafrika hat sich in weiten Teilen … im besonderen dem Rechtsstaat verweigert. Die Verweigerung des Rechtsstaats hat in Afrika (mehrere) Seiten … Die eine Seite ist die verbreitete Verachtung für die normativen Seiten des Rechtsstaats – für Grundrechte, die Unabhängigkeit der Justiz, den Nullum- crimen-Grundsatz usw. Die andere Seite ist Teil der geringen Reichweite und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Verwaltung insgesamt, an denen das staatliche Justizwesen nicht weniger Anteil hat.“14

Ein ganz wesentlicher Grund für diese Verweigerung des Rechtsstaats liegt aber offenbar in den unterschiedlichen Konfliktkulturen des westlichen und – in diesem Fall – schwarzafrikanischen Kulturkreises. In der westlichen Konfliktkultur kommt dem staatlichen Recht und der staatlichen Gerichtsbarkeit die Hauptrolle zu, während in anderen Konfliktkulturen nichtstaatliche Einrichtungen zur Streitregelung dominieren. Wenn diese interkulturell vergleichende Argumentation richtig ist, dann wären daraus drei Konsequenzen zu ziehen. Es würde sich erstens bei den Herrschaftsmodellen „Persönliches Netzwerk“ bzw. „Amtsverfassung“ nicht um einen Gegensatz von vormoderner oder moderner Institutionenkultur handeln, sondern um ein „aliud“, also verschiedene Herrschaftsmodelle unterschiedlicher Kulturen.15

Zweitens wären Gewaltmonopol und Rechtsstaat zwar zentrale Errungenschaften der politischen Kultur. Sie stellen sich aber dem interkulturell vergleichenden Blick als Kulturleistungen westlichen Typs dar, die überall dort nur schwer durchzusetzen sind, wo Despotismus und Nepotismus die Macht begrenzenden und disziplinierenden Wirkungen von Rechtsstaat und Amtsverfassung als hinderlich für die persönliche Machtentfaltung empfinden. Damit wird man auch über eine dritte Konsequenz nachzudenken haben: Wenn die Macht begrenzende Funktion von Rechtsstaatlichkeit und die disziplinierende Wirkung des Zurücktretens der Person hinter das Amt als Kulturleistung begriffen werden, dann liegt darin zugleich eine positive Bewertung einer solchen rechtsstaatlichen politischen Kultur, so dass immer auch die kulturellen Kontextbedingungen reflektiert werden müssen.

Rechtsstaatlichkeit als Standortfaktor

Was die Perspektive von Akteuren des Wirtschaftslebens angeht, so liefert dafür der Bericht der Weltbank über die Rolle des Staates in einer sich ändernden Welt reichhaltiges Material.16 Über 3600 Unternehmen in 69 Ländern wurden nach ihrer Wahrnehmung des Staates befragt. Sie sollten Auskunft geben, ob der Staat eine funktionsfähige Wirtschaft eher fördert oder behindert. Vorausgesetzt wurde die Prämisse, dass zwischen der Qualität der staatlichen Institutionen und der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines Landes ein enger Zusammenhang besteht.

Die befragten Unternehmen betonten die zentrale Bedeutung von Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für ihr Investitionsverhalten und beklagten neben einer mangelnden politischen Stabilität bestimmter Regierungssysteme und „Geißeln von Korruption und Kriminalität“ die Unvorhersehbarkeit rechtlicher Regelungen und die mangelnde Verlässlichkeit der Durchsetzung des Rechts: „Die Umfrage zeigte, dass Unternehmer in einigen Teilen der Welt in steter Furcht vor politischen Überraschungen leben. In der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) berichteten 80 Prozent der Unternehmer, dass unvorhersehbare Änderungen bei Bestimmungen und politischen Maßnahmen ihre Geschäfte ernsthaft beeinträchtigen würden.“17 Eine besonders wichtige Rolle komme einem funktionsfähigen Rechtsschutzsystem zu: „Eine gut funktionierende Justiz ist eine Hauptsäule der Rechtsstaatlichkeit. Leider scheint dies aber in vielen Ländern eher die Ausnahme als die Regel zu sein. In Entwicklungsländern sagten über 70 Prozent der Unternehmer, dass die Unvorhersehbarkeit der Rechtsentscheidungen ein schwerwiegendes Problem für ihre Geschäftstätigkeit wäre.“18

Wie beschreibt die Weltbank selbst Möglichkeiten, mit denen ein Staat ökonomische Entwicklungserfolge fördern und stimulieren kann?19 Indem er

  • „ein makroökonomisches und mikroökonomisches Umfeld schafft, das die richtigen Anreize für effiziente Wirtschaftsaktivitäten setzt;
  • die institutionelle Infrastruktur schafft – Eigentumsrecht, Frieden, Recht und Ordnung und Rechtsnormen – die effiziente, langfristige Investitionen fördern;
  • die Grundschulausbildung, Gesundheitsfürsorge und materielle Infrastruktur bereitstellt, die für die Wirtschaftstätigkeit benötigt wird, und indem er die natürliche Umwelt schützt.“

Interessant an der Darstellungs- und Denkweise des Weltbankberichts ist nicht nur, die klassischen Tugenden des Rechtsstaatsprinzips – Rechtssicherheit, Vertrauensschutz, effektiver Rechtsschutz – als ökonomisch relevante Standortfaktoren in einem globalen Wettbewerb vorgeführt zu bekommen. Hier wird auch die Rolle des Staates mit Begriffen definiert, die als interdisziplinäre Verbundbegriffe taugen und die zentrale Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips als Bestandteil von Recht als Infrastruktur hervorheben.20 Diese auch die moderne Staatsdiskussion stark prägenden Begriffe lauten:

  • Bereitstellungsfunktion der Rechtsordnung
  • Gewährleistungsverantwortung, Gewährleistungsverwaltung, Gewährleistungsstaat
  • Grundversorgung, Infrastrukturverantwortung, Infrastrukturgewährleistung.

„Rule of law“ als institutionelle Infrastruktur des Regierungs- und Verwaltungshandelns

Im breit gefächerten Good Governance-Diskurs spielt die Weltbank eine wichtige Rolle. Dass die Weltbank den Begriff „Good Governance“ erfunden hat, liegt an der erklärungsbedürftigen Tatsache, dass sich trotz massiver Entwicklungsanstrengungen die ökonomische und soziale Misere im südlichen Teil Afrikas kaum verbesserte, und dass deshalb die institutionellen Defizite in den Nehmerländern zunehmend in den Blick gerieten. Als Ergebnis dieser Ursachenforschung publizierte die Weltbank ihren Sub-Sahara-Report,21 in dem erstmals von „bad“ bzw. „poor“ Governance gesprochen und der folgende rechtsstaatliche Mängelbefund erhoben wurde: „Da es an einer ausgleichenden Macht fehlt, verfolgten Beamte in vielen Staaten ihre eigenen Interessen ohne Furcht, sich dafür rechtfertigen zu müssen. Zur Erhaltung der Macht wird Patronage ausschlaggebend. Im schlimmsten Fall handelt dieser Staat willkürlich und mit Zwangsmaßnahmen. Diesen Trends kann man mit dem Aufbau pluralistischer Strukturen, der Förderung von Respekt für die Herrschaft des Rechts und einem entschlossenen Schutz der Pressefreiheit und der Menschenrechte entgegenwirken.“ Es gehört seither zum Grundkonsens der Entwicklungspolitiker, dass Institutionen wichtig sind und die kritische Variable in der Entwicklung darstellen.22

Rechtsstaatliche Strukturen als Kondition funktionierender Staatlichkeit

In der Literatur über schwache, gescheiterte oder kollabierte Staaten – als Beispiele gelten der Kongo, Angola, Burundi und der Sudan – stößt man auf eine für unser Teilprojekt reiche Fundgrube, und zwar aus zweierlei Gründen: Es muss geklärt werden, worin die „failure“ dieser Staaten besteht, an welchem Maßstab also ihr Versagen gemessen wird. Noch interessanter ist, wer diese Maßstäbe setzt. Zur Entwicklung von Kriterien, anhand derer ein Ranking von Staaten auf einer Skala mit den Endpunkten „starke Staaten“ und „kollabierte Staaten“ vorgenommen werden kann, finden sich bei Robert J. Rotberg klare Auskünfte: Es gehe um die Formulierung internationaler Standards funktionierender Staatlichkeit, wobei vor allem zwei Kriterien von entscheidender Bedeutung seien, nämlich Stabilität and Berechenbarkeit.23

Ein gerader Weg führt von hier zu den klassischen Tugenden des Rechtsstaats. Denn Stabilität und Berechenbarkeit seien umso leichter zu gewährleisten, je mehr eine rechtsstaatliche Infrastruktur bereit stehe, von der diese Leistungen der Verlässlichkeit und Berechenbarkeit erwartet werden könnten: „Die Bereitstellung einer ganzen Reihe wünschenswerter politischer Güter wird möglich, wenn ein vernünftiges Maß an Sicherheit gewährleistet ist. Moderne Staaten verfügen über berechenbare, wiedererkennbare, systematisierte Methoden, Konflikte zu schlichten und zugleich die Normen und die vorherrschenden Sitten einer Gesellschaft oder politischen Gemeinschaft zu regeln. Die Essenz dieses politischen Gutes setzt bestimmte Codes und Verhaltensmaßregeln voraus, die zusammen eine durchsetzbare Herrschaft des Rechts konstituieren, den Schutz des Eigentums und der Unverletzbarkeit von Verträgen garantieren und Werte generieren, die die Auffassung der jeweiligen Gesellschaft von Gerechtigkeit und Fair Play bestätigen und legitimieren.”24

Aber auch in der Literatur, die sich mit der Aufgabe des „State Building“ etwa nach kriegerischen „Befreiungen“ wie in Afghanistan oder im Irak beschäftigt, spielt der Aufbau einer rechtsstaatlichen Infrastruktur eine zentrale Rolle. Repräsentativ dafür etwa ist die Argumentation Fukuyamas, der eine Unterscheidung der „performance-Qualitäten“ von Staaten zwischen „scope“ und „strength“ vorschlägt. Während sich das Kriterium „scope“ auf den Umfang der Staatstätigkeit bezieht (zwischen Minimal- und Wohlfahrtsstaat), hat „strength“ mit der „institutional capacity“ des jeweiligen Staates zu tun, die von ihm für notwendig gehaltene Politik auch durchzusetzen. Als Gradmesser dieser „Staatsstärke“ im Sinne von „State Capacity“ dient Fukuyama die Fähigkeit zur Rechtsetzung und -durchsetzung: „Der in diesem Zusammenhang gebrauchte Begriff von Stärke umfasst die Fähigkeit, Politik zu formulieren und umzusetzen; Gesetze zu verfügen; effektiv und mit einem Minimum an Kontrolle zu verwalten sowie Bestechung und Korruption zu kontrollieren; ein großes Maß an Transparenz und Verlässlichkeit staatlicher Institutionen herzustellen und, am wichtigsten, Gesetze auch umsetzen zu können.“25

Was die Frage nach den Instanzen angeht, die die Maßstäbe für ein Ranking von Staaten formulieren, so handelt es sich dabei um Organisationen, die als Evaluierungsinstanzen fungieren: Dazu gehören Transparency International mit seinem Korruptionsindex, das United Nations Development Program mit seinem Nachhaltigkeitsindex und Freedom House mit seinen Kriterien zur Messung von „Democratic Performance“. Amnesty International mit seinem Menschenrechtsindex zählt ebenso dazu wie die einflussreichen „Rating Agencies“, die die Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht nur von Firmen, sondern auch von Staaten bewerten, und zwar mit weit reichenden Folgen für deren Kreditfähigkeit.

Rechtsstaatlichkeit als Gütesiegel von Staatlichkeit

Was mit diesem Evaluationsdiskurs gemeint ist, lässt sich am besten am Beispiel des „Bertelsmann Transformation Index 2003“ erklären, mit dessen Hilfe die Bertelsmann-Stiftung ein Ranking innerhalb der großen Gruppe von insgesamt 116 Transformationsländern vorgenommen hat. Hier interessiert nicht das Ergebnis dieses Rankings, sondern die Art der Kriterien, die dafür herangezogen wurden.26

Die Bertelsmann-Stiftung schlägt vor, zwischen einem so genannten Status-Index und einem Management-Index zu unterscheiden, wobei sich der Status-Index in zwei Teilbereiche aufgliedert: Demokratie und Marktwirtschaft. Der Bereich Demokratie umfasst neben den Gesichtspunkten „Politische Partizipation“ sowie „Politische und gesellschaftliche Integration“ drei Kriterien, die wegen des unmittelbaren Zusammenhangs mit ihren jeweiligen Unterkriterien kurz aufgelistet werden sollen:

  • Staatlichkeit
  • Inwieweit ist das staatliche Gewaltmonopol auf das gesamte Staatsgebiet ausgedehnt?
  • Besteht grundlegende Einigkeit über Zugehörigkeit zum Staatsvolk?
  • Ist ein Mindestmaß an Säkularisierung, insbesondere die Trennung von Staat und Kirche, gegeben?
  • Existieren arbeitsfähige Verwaltungsstrukturen?
  • Rechtsstaatlichkeit
  • Inwieweit ist die Independenz und Interdependenz der staatlichen Gewalten gegeben?
  • Existiert eine unabhängige Justiz?
  • Wird Amtsmissbrauch von Mandatsträgern rechtlich oder politisch geahndet?
  • Inwieweit sind die bürgerlichen Freiheiten (Menschenrechte, Justizrechte, Diskriminierungsverbot, Religionsfreiheit) gegeben und inwieweit können sie eingeklagt werden?
  • Institutionelle Stabilität
  • Sind die demokratischen Institutionen, inkl. Verwaltungs- und Justizsystem, leistungsfähig?
  • Inwieweit werden die demokratischen Institutionen von den relevanten Akteuren akzeptiert bzw. gestützt?

Übertragbare Rechtsstaatlichkeit?

Bei aller Unterschiedlichkeit kann man die Erwartung formulieren, dass intensive Analysen dieser Diskurse die Leistungen von Rechtsstaatlichkeit für eine funktionierende Staatlichkeit deutlich werden lassen. Diese Leistungen sind Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, sei es bei der Setzung oder Änderbarkeit von Regeln (Garantiefunktion des Gesetzes) oder bei ihrer Anwendung und Durchsetzung. Es ist diese rechtsstaatlich-institutionelle Infrastruktur, die (weitgehend unabhängig von dem materiellen Gehalt der Rechtsnormen selbst) für jedermann kalkulierbare Rahmenbedingungen ermöglicht, die wiederum das klassische rechtsstaatliche Anliegen auf den Punkt bringen: Der Bürger muss wissen, was er von der Staatsgewalt erwarten kann.

In den Vordergrund rückt eine zentrale Funktion von Recht und Rechtsstaatlichkeit, die Reinhard Koselleck als Wiederholungsstrukturen bezeichnet hat. Das Wechselspiel von Wiederholung und Innovation sei durch Strukturen geprägt, die als Stabilisierungsfaktoren wirken und zu denen auch und gerade das Recht gehörte: „Wie alle Institutionen zehrt vorzüglich das Recht von seiner iterativen Anwendung. Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Vertrauen in das Recht können nur verwirklicht werden, wenn das einmal zur Geltung gebrachte Recht wieder angewendet wird. Freilich bezeugt auch hier die Geschichte, dass immer wieder, von Einzelfall zu Einzelfall, neue Rechtsfindung und Rechtsetzung herausgefordert worden sind. Und unter unseren beschleunigten Lebensbedingungen häufen sich ad hoc erlassene und kürzer währende Verordnungen, die althergebrachte und eingeschliffene Rechtsregeln oder Sitten, die über lange Zeit hinweg in Kraft gewesen sein mochten, verabschieden. Deshalb entstehen, um überhaupt Gerechtigkeit zu wahren, jene dauerhaften Wiederholungsgebote, die einzelne Gesetze im Verfassungsrecht vor Veränderung schützen sollen, also ihre wiederholte Anwendung erzwingen. Dazu gehören in unserem Grundgesetz die Achtung der Menschenwürde sowie die Bestandsgarantie der föderalen Gewaltenteilung.“27

So sehr es sich hierbei um generalisierbare und universelle Eigenschaften von Recht und Rechtsstaatlichkeit handelt, so sehr ist deren Verankerung in den Denkweisen und Traditionen des jeweiligen Kulturkreises dennoch in Rechnung zu stellen. Das wirft die wichtige Frage auf, ob unsere Assoziation mit dem Begriff des Rechtsstaats ohne weiteres auf andere Weltgegenden übertragen werden kann. Oder ob das Phänomen des kulturellen Eingebettetseins von Institutionen es nicht erforderlich macht, sich sehr genau mit der Konsistenz des Nährbodens zu beschäftigen, auf den eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit angewiesen ist und bleibt.

1 Zitiert in Francis Fukuyama: State-Building. Governance and World Order in the Twenty-First Century, London 2004. 2 Derick W. Brinkerhoff und Jennifer M. Brinkerhoff: Governance Reforms and Failed States: Challenges and Implications, International Review of Administrative Sciences, Dezember 2002, S. 515.

3 Ernst Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel, München 1976.

4 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Horst Ehmke (Hrsg.): Festschrift für Adolf Arndt, Frankfurt 1969, S. 53 ff.

5 Peter Badura: Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, München 1996.

6 Ingo Richter, Gunnar Folke Schuppert und Christian Bumke: Casebook Verfassungsrecht, München 2001.

7 Gunnar Folke Schuppert: Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates, in: derselbe (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates. Symposion anlässlich des 60. Geburtstages von Christian Starck, Baden-Baden 1998, S. 105–156.

8 Badura (Anm. 5), S. 464.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2005, S. 24 - 32

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