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01. März 2006

Religion und Identität

Vom deutschen Versuch, "Ausländer" zu "Muslimen" zu machen

Nachdem jahrzehntelang die Religion von Zuwanderern überhaupt keine Rolle spielte, wird im derzeitigen Diskurs über Muslime in Deutschland häufig deren religiöse Identität betont. Dies geht einher mit der Konstruktion einer muslimischen Gemeinschaft, die hier als solche bisher gar nicht existiert. Das verkennt die ethnische, religiöse und kulturelle Verschiedenheit von Muslimen – und es grenzt sie von der Mehrheitsgesellschaft ab.

In den vergangenen Monaten haben organisierte und nicht organisierte Musliminnen und Muslime in Deutschland intensiv über Fragen der Repräsentation, der Einbindung und Einbringung in die Gesellschaft diskutiert. In den wichtigsten islamischen Organisationen des Landes wurde über einen Zusammenschluss zu einem Spitzenverband geredet, da die Verbände sich um Anerkennung als Religionsgemeinschaft und Gleichberechtigung in der Glaubenspraxis bemühen; hinzu kamen die Debatten um Einbürgerungstests für Antragsteller aus Staaten der Islamischen Liga in Baden-Württemberg und der Streit um die Mohammed-Karikaturen.

Die Auseinandersetzung um Identität und Gemeinschaft unter Muslimen ist also in vollem Gange. Der Einfluss des öffentlichen Diskurses über den Islam und Muslime in Deutschland und der Welt ist hierbei immens, und er wird nicht mehr nur in an Muslime gerichteten Medien geführt, sondern immer stärker auch in der etablierten deutschen Presse. Neben negativen Ereignissen in der ganzen Welt, die mit dem Islam in Verbindung stehen, und lokalen Diskussionen über Moscheebauten oder muslimische Friedhöfe betrifft Muslime zudem der deutsche Diskurs über Migration, Integration und Änderungen im Staatsbürgerschaftskonzept, da sie meist selbst Migranten oder Nachkommen von Migranten sind. Muslime werden mehr und mehr zum aktiven Teil des Diskurses über sich selbst; sie bemühen sich, das Bild, welches die Gesellschaft von ihnen entwirft, mitzugestalten. Gleichzeitig wird die Definitionsmacht der Mehrheitsgesellschaft als übermächtig empfunden.

Die Entdeckung der Muslime in Deutschland

Obwohl seit Anfang der siebziger Jahre Menschen muslimischen Glaubens aus verschiedenen Herkunftsländern in größerer Anzahl in Deutschland leben, ist die Andersartigkeit von Zuwanderern in religiöser Hinsicht erst seit den späten neunziger Jahren ins Bewusstsein der deutschen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit gerückt. Bis in die neunziger Jahre hinein befassten sich nahezu ausschließlich Migrationssoziologen mit in Deutschland lebenden Gastarbeitern und Flüchtlingen. Hierbei standen in erster Linie Fragen der Lebenssituation, der Schulbildung oder der Erinnerung an Heimat und Migration im Vordergrund der Forschungen – religiöse Zugehörigkeiten kaum. Erste Studien zur islamischen Organisationslandschaft und Fragen der Religiosität entstanden erst Anfang der neunziger Jahre. Dabei gründeten Gastarbeiter schon in den Achtzigern erste Moscheevereine und traten mit Forderungen in Glaubensangelegenheiten an Kommunen und Landesregierungen heran. Es dauerte aber noch fast 20 Jahre, bis Muslime in Deutschland im politischen Diskurs bewusst als solche wahrgenommen wurden. Der Diskurs über diese Gruppen konzentrierte sich vor allem darauf, dass es sich bei ihnen um Ausländer handelte, deren Anwesenheit in Deutschland zudem möglichst zeitlich begrenzt sein sollte. Eine Debatte über Integration begann erst, als ein Konsens darüber erstritten war, dass Migranten das Recht erhalten sollten, auf Dauer in Deutschland bleiben und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden zu können. Dieser Konsens, der in mehreren Änderungen des Staatsangehörigkeitsgesetzes in den neunziger Jahren und dem Zuwanderungsgesetz von 2004 mündete, bildete sich erst zur Jahrtausendwende heraus. Bis dahin stand die Möglichkeit, dass die Mehrzahl der Migranten in ihre Heimatländer zurückkehren würde, zumindest für Teile der deutschen Öffentlichkeit im Raum. Bis Anfang der neunziger Jahre war dies auch noch Ziel und Vision vieler Gastarbeiterfamilien, die ihr Erspartes in Häuser und Wohnungen in der alten Heimat investierten und von der Heimkehr träumten. Nur langsam realisierten sie, dass zumindest für die in Deutschland aufgewachsenen Kinder die Rückkehr kaum mehr eine Option darstellte.

Denn diese Generation fühlt sich nirgendwo anders als in Deutschland zu Hause. Die sie umgebende Gesellschaft verhält sich jedoch ihr gegenüber immer ablehnender. Zu den Muslimen gezählt zu werden, die als homogene Gruppe betrachtet werden, wird aufgrund der damit einhergehenden Stigmatisierung häufig eher als Last empfunden. Dies gilt nicht nur für Jugendliche. In den vergangenen zwei Jahren äußerten sich beispielsweise die Schriftsteller Feridun Zaimoglu und Navid Kermani, der Politiker Cem Özdemir, die Schauspielerin Renan Demirkan und einige andere, von der taz als „vorbildlich integriert“ charakterisierte Prominente, ausdrücklich als Muslime zum aktuellen Zeitgeschehen. Einige von ihnen kritisieren den öffentlichen Diskurs über den Islam in Deutschland als Abgrenzungsdiskurs. Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur etwa beschreibt die Empfindungen von Muslimen so: „[A]uch wir fühlen uns zunehmend vor den Kopf gestoßen angesichts der Arroganz und Unkenntnis, mit der über unsere Religion geurteilt wird […].“1 Durch den öffentlichen Diskurs, so Amirpur, fühle sie sich in Zusammengehörigkeiten gedrängt, die sie zuvor nie gespürt habe und in denen sie sich auch nicht wohlfühle. Die Harvard-Professorin Jocelyne Cesari stellt fest, dass Muslime derzeit weniger als andere religiöse Gruppen Herren ihrer eigenen Identität seien. Ein essentialisierender Diskurs über den Islam, der diesem quasi unveränderliche Eigenschaften zuschreibe, wirke von der lokalen bis zur internationalen Ebene der Gesellschaft auf sie ein. Er basiere auf der Idee eines Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen, wobei der Islam als Hindernis für Modernisierung angesehen werde. Dies zwinge alle Muslime – vom säkularisiertesten bis zum frommsten –, ihren Glauben zu hinterfragen und darüber nachzudenken, was es bedeute, Muslim zu sein.

Ein Grund für das Erscheinen einer neuen Kategorie ist sicher das Verschwinden der größten Gruppe der Gastarbeiter aus den Statistiken, weil sie inzwischen deutsche Staatsbürger geworden sind. Nach den Änderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz, das im Jahr 2000 in Kraft trat, wurden jährlich 200 000 bis 300 000 Migranten eingebürgert. Zur gleichen Zeit tauchten Muslime in deutschen Debatten und Statistiken auf. Als die ehemaligen Türken nun nicht mehr der Staatsangehörigkeit nach als anders kategorisiert werden konnten, gewannen Zuschreibungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit an Bedeutung. Die öffentliche Meinung reagierte auf die Bewusstwerdung der Permanenz islamischen Lebens in Europa mit einer Wahrnehmungsverschiebung: vom „Ausländer“ zum „Muslim“.

Während vor dem Jahr 2000 auftretende gesellschaftliche und soziale Probleme dieser Bevölkerungsgruppe im Zusammenhang mit der Kategorie Ausländer bzw. Türke behandelt wurden, steht heute das Muslimsein im Zentrum der Betrachtung. Probleme scheinen vornehmlich „die Muslime“ zu betreffen. Dies birgt die Gefahr, dass sie religiös kodiert und monokausal erklärt werden. Dann wird Religion zum vornehmlichen Erklärungsmuster für positive wie vor allem negative soziale Verhaltensweisen, was andere Ursachen und damit Lösungsansätze verdecken kann.

Der derzeitige Gebrauch des Begriffs Islam in einigen Diskurssträngen legt nahe, dass dieser von der Mehrheitsgesellschaft als etwas sozusagen Gegenteiliges zum Deutschen wahrgenommen wird. In vielen Dialogveranstaltungen wird beispielsweise von der Vorstellung ausgegangen, die „deutsche Gesellschaft“ und der „Westen“ stünden „dem Islam“ antagonistisch gegenüber. In innermuslimischen Diskussionen wird allerdings ebenfalls entlang dieser Linien diskutiert. Die Vorstellung, dass man als Muslim ein deutscher Staatsbürger mit den dazugehörigen Pflichten und Rechten sein könnte, scheint dabei für einige Muslime relevante Fragen aufzuwerfen. Für andere dagegen ist dies ein schierer Fakt und eine Lebensgrundlage. Für sie stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie man das Leben als Muslim und als deutscher Staatsbürger in Einklang bringt. Eine der wichtigsten von Deutschen mit muslimischem Hintergrund geäußerten Forderungen ist die Gleichbehandlung durch Politik und Gesellschaft, und auf diesen Punkt bezieht sich dann auch die meiste Kritik von Muslimen an der derzeitigen Situation.

Wer ist überhaupt Muslim?

Ein Beispiel für die „Konstruktion“ der muslimischen Bevölkerung in Deutschland ist das Zustandekommen der Zahlenangaben für im Land lebende Muslime. Die Bundesregierung veröffentlichte diese 1999 in der Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion des Bundestags, in der diese umfassende Angaben zur Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime, zu deren religiösen Organisationen, politischen Aktivitäten und Lebenssituation angefordert hatte. Aus dieser Antwort stammt die viel zitierte Angabe, dass in Deutschland circa 2,8 bis 3,2 Millionen Muslime leben.2 Sie ist unter anderem deshalb so interessant, weil sie die Herleitung dieser Zahlen erläutert und damit Aufschluss darüber gibt, wie Muslimsein aus bürokratischer Sicht definiert wird: Denn Deutschland erhebt keine Daten über religiöse Zugehörigkeit. Offizielle Statistiken geben lediglich über die Mitglieder der Katholischen und Evangelischen Kirche Auskunft, da die Kirchensteuer durch die Finanzämter eingezogen wird. Bis auf die Angaben aus dem Zensus von 1987, in dem es möglich, aber nicht verlangt war, Angaben zur Religion zu machen, beziehen sich die Zahlen deshalb auf Schätzungen. Die Anzahl von in Deutschland lebenden Muslimen kann mithin nur aus den Migrationsstatistiken hergeleitet werden. In die Berechnung sind – nach proportionalem Anteil an der Bevölkerung der Herkunftsländer – die Migranten aus Ländern mit muslimischer Bevölkerung eingegangen. Die Anzahl der ausländischen Muslime in Deutschland wurde nach Abzug der geschätzten Zahl an Migranten aus „mehrheitlich muslimischen Ländern“, die einen anderen Glauben haben, auf 2,5 bis 2,7 Millionen geschätzt. Hinzuaddiert wurden ca. eine halbe Million Musliminnen und Muslime mit deutscher Staatsbürgerschaft, die sich wiederum aus Eingebürgerten mit mehrheitlich muslimischem Herkunftsland und der im Zensus von 1987 erhobenen Anzahl Deutscher, die sich zum islamischen Glauben bekannten, ergeben.

Die Quellen für die proportionalen Anteile von Muslimen an Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern sind in dem Bericht nicht veröffentlicht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie von ethnischen Gruppen abgeleitet wurden, wie dies in den meisten Schätzungen zur Religionsverteilung in Zentralasien, Südostasien oder sogar der Türkei der Fall ist.3 Auch hier beruht die zugrundeliegende Definition von „Muslim“ auf Abstammung und nicht auf Glaubenspraxis oder religiöser Überzeugung. Bestimmend ist also, in welche Familie oder Ethnie man hineingeboren wird, und nicht für welche Religion man sich selbst entschieden hat. Dies entspricht durchaus dem islamischen Konzept, dass man Muslim entweder durch Geburt oder Bekenntnis zum Islam wird und die Religion auch nicht wechseln kann. Die saudi-arabische Verfassung bestimmt beispielsweise, dass alle saudischen Staatsbürger Muslime sind.4 Innermuslimisch wird dagegen die Position vertreten, dass lediglich diejenigen gläubige Muslime sind, die die islamischen Rituale auch wirklich vollziehen. Es gibt aber durchaus auch nichtpraktizierende Muslime, die darauf beharren, sich im Islam zu Hause zu fühlen und der muslimischen Kultur verbunden zu sein. Wenn man berücksichtigt, wie fließend und wandelbar Identitäten sein können, wird deutlich, wie schwer es ist, pauschal oder gar von außen festzulegen, wer als Muslim zu zählen ist und wer nicht.

Die den rund drei Millionen zugrunde gelegte Definition für „muslimisch“ basiert demnach auf der Herkunft und nicht auf dem religiösen Bekenntnis oder der Glaubenspraxis des Individuums. Letztlich geben die Zahlen Auskunft über die Anzahl von in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund. Sie werden jedoch im Diskurs nahezu durchweg als Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime verwendet, die zudem teilweise als eine kohärente Gruppe konstruiert werden. So wird quasi allen Menschen mit muslimischem Hintergrund unterstellt, in ihrem Leben spiele der Islam die bestimmende Rolle. Dem liegt eine kulturalistische Auffassung von Religionszugehörigkeit zugrunde, in der unterschiedliche Interpretationen, Religionswechsel, Kulturwandel oder gar die Abkehr von der Religion nicht vorgesehen sind.

Menschen aus muslimischen Ländern werden so immer wieder mit der Frage der religiösen Zugehörigkeit konfrontiert und müssen sich dazu verhalten. Ein Beispiel dafür sind die unzähligen Anfragen zu Stellungnahmen an Prominente türkischer, arabischer oder iranischer Abstammung nach nahezu jedem Ereignis mit Islambezug. Die taz beispielsweise hat es sich zur Angewohnheit gemacht, die Meinungen von „Muslimen“ zu erfragen – selbst wenn sie, wie ein Vertreter der schwulen und lesbischen MigrantInnen, „nach eigenen Aussagen eigentlich Atheist“ sind. Auf diese Weise werden Menschen muslimischer Herkunft als natürlicherweise muslimische, religiöse und damit andersartige Personen definiert; von ihnen wird angenommen, dass sie nicht nur eine religiöse Gemeinschaft bilden, sondern auch kulturelle Eigenheiten teilen. Dabei stammen in Deutschland lebende Migranten mit muslimischem Hintergrund aus den verschiedensten Kulturräumen, von Südeuropa bis nach Südostasien. Diese vermeintliche Gruppe ist zudem von verschiedensten politischen und religiösen Auffassungen bis hin zu verschiedenen nichtreligiösen Haltungen geprägt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint der Ruf von Regierungsvertretern nach einer einheitlichen Repräsentanz für die ca. drei Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund in Deutschland absurd.

Der Zwang zur Homogenisierung

Die Annahme, die in Deutschland lebenden Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern entsprächen einer zusammengehörigen Gruppe, deren vermeintlich übereinstimmende Interessen durch eine einzige Vertretung repräsentiert werden könnten, lässt die Vielfalt der Menschen mit muslimischem Hintergrund vollkommen außer Acht. Weder tragen diese die Charakteristika einer Gruppe, noch strebt die Mehrheit von ihnen die Mitgliedschaft in einer islamischen Organisation an. Dennoch wurde der Wunsch nach einer Vertretung für alle in Deutschland lebenden Muslime in den vergangenen Monaten von Politikern immer wieder geäußert.5 Schätzungen besagen, dass maximal 30 Prozent der drei Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Hintergrund eine Moschee besuchen.6 Wir können demnach davon ausgehen, dass ein großer Anteil der aus Ländern mit nennenswerter muslimischer Bevölkerungszahl stammenden Menschen Religion oder gar Religionsausübung nicht als wesentlich für eine Vertretung nach außen hin ansieht. Bundesweite repräsentative Erhebungen zu dieser Frage gibt es bisher nicht. Bestehenden islamischen Organisationen wird dennoch die Legitimation abgesprochen, da sie nur einen so geringen Teil der Muslime repräsentierten.

Aber auch organisierte Muslime in Deutschland fangen gerade erst an, sich miteinander zu identifizieren oder sich gar als eine zusammengehörige Gemeinschaft wahrzunehmen. Nationale, ethnische und sprachliche Barrieren sind stärker als die Gemeinschaftsempfindungen in ihren Organisationen und im Alltagsleben. Die eigene Identität ist für Muslime der ersten Generation häufig untrennbar mit der ursprünglichen Nationalität, mit sprachlichen, regionalen und ethnischen Zugehörigkeiten sowie den Erfahrungen der Migration verbunden. Darüber hinaus bestimmen berufliche Identitäten, politische Einstellungen oder gar Parteimitgliedschaften den Lebensalltag der meisten Menschen weitaus stärker als religiöse Bindungen. Nachkommen derer, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern eingewandert sind, und deutsche Konvertiten begreifen zudem Deutschland als ihre endgültige und einzige Lebenswelt. Sie sehen sich nun vor die Aufgabe gestellt, muslimische Identitäten zu entwickeln, die mit dem Leben in Deutschland im Einklang stehen. Langsam nur etablieren sich Moscheevereine und Zusammenschlüsse von Konvertiten und Migranten der zweiten und dritten Generation, die das Konzept der Einheit der Muslime aufgreifen und in Deutschland Gemeinden auf Grundlage der deutschen Sprache und in Ausrichtung auf das Alltagsleben vor Ort bilden. Einige Anläufe zu Zusammenschlüssen der vergangenen Jahrzehnte wurden vor allem von Konvertiten unternommen. Bis heute war jedoch keiner der Versuche auf Bundesebene erfolgreich. Die meisten Dachverbände sind immer noch entlang ethnischer und religiöser Linien organisiert.

Das hindert Medien und Politiker jedoch nicht daran, Menschen mit muslimischem Hintergrund als Einheit wahrzunehmen, was zur Forderung nach einer einheitlichen Organisation als Ansprechpartner ähnlich den Kirchen oder der jüdischen Gemeinde führt.7 In der Praxis werden islamische Organisationen solange nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt, bis sie sich und ihre Funktion als Ansprechpartner für alle in Deutschland lebenden Muslime aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft ausreichend legitimieren können. Letztlich unterstützt diese Politik so den Einigungsprozess unter organisierten Muslimen und damit auch Zentralisation, Hierarchisierung und Homogenisierung. Der Druck, eine gemeinsame Interessenvertretung zu formieren, reduziert Pluralismus in der muslimischen Community – in jedem Fall grenzt er die Möglichkeiten der offenen Bejahung eines Pluralismus ein.

Muslime in Deutschland haben kaum gemeinsame, über die Forderung nach Gleichstellung und Gleichbehandlung mit den anerkannten Glaubensgemeinschaften hinausgehende Interessen. Nichtpraktizierende Menschen mit muslimischem Hintergrund sind zudem wenig daran interessiert, von einer religiösen Organisation vertreten zu werden. Die wiederholt gestellte Forderung nach der Einbindung nichtpraktizierender Muslime in islamische Organisationen, um alle drei Millionen Muslime zu repräsentieren, schießt daher am Ziel vorbei.8

Denn die Vorstellung, dass Menschen mit einem muslimischen Hintergrund aufgrund ihrer religiösen Herkunft so anders sind, dass sie am besten oder gar ausschließlich durch eine religiöse Organisation vertreten werden sollten, verkennt ihre zahlreichen anderen Identitäten, Interessen und häufig auch gegensätzlichen Auffassungen. Menschen mit muslimischem Hintergrund engagieren sich immer stärker in bestehenden politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen; eine Ghettoisierung in religiösen Organisationen ist für sie keine Option mehr. Vielmehr ist neben der zurückhaltenden Unterstützung islamischer Organisationen bei der Herausbildung eines repräsentativen Dachverbands die Partizipation von Muslimen an demokratischen und zivilgesellschaftlichen Prozessen auf allen Ebenen der Gesellschaft anzustreben – je nach den Bedürfnissen der einzelnen Individuen muslimischer Herkunft. Das gilt auch für praktizierende Muslime, die neben ihrem Engagement im Moscheeverein für die Arbeit in politischen Parteien, auf der beruflichen Ebene, in Nachbarschaftsvereinen etc. gewonnen werden sollten. Denn eine Reduzierung auf die religiöse Identität widerspricht nicht zuletzt dem deutschen Verständnis von Demokratie und Zivilgesellschaft.

Zuschreibungen, die einer Selbst- und Fremdwahrnehmung in den antagonistischen Kategorien „Ihr“ und „Wir“, „unsere Gemeinschaft“ und „eure Gemeinschaft“ auf beiden Seiten Vorschub leisten, sind wenig hilfreich. Das Projekt einer deutschen Gesellschaft, die Muslime als einen Teil integriert, hat es in einem solchen Diskurs allerdings nicht leicht, da es seine Berechtigung nach zwei Seiten hin verteidigen muss. In den Debatten um Zwangsehen, Ehrenmorde und mangelnde Bildungserfolge von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund werden komplexe Kausalzusammenhänge, die zu Problemen oder gar Konflikten geführt haben, häufig vereinfacht und auf das Muslimsein reduziert. Muslime selbst sind daran nicht unbeteiligt, verweisen einige von ihnen doch auf ihre Religion als hauptsächliche Motivation für ihr Handeln.

In der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit trägt die Gruppe der Muslime zudem vornehmlich negative Kennzeichen: Es sind Migranten sozioökonomisch benachteiligter Schichten, geprägt durch hohe Arbeitslosigkeit, niedriges Bildungsniveau und patriarchale Strukturen, die zur Benachteiligung und Behinderung von Frauen bei der Selbstentfaltung führen und zudem ein Gefahrenpotenzial hinsichtlich Terrorismus und Extremismus bilden. Die oben beschriebene Vielfalt wird dabei negiert, von dem entworfenen Klischee abweichende Personen werden als Ausnahmen abgetan und gerade die „fremdesten“ Positionen – zumeist extremistische, die auch innermuslimisch keine Mehrheiten haben – zu typischen Wesenszügen islamischer Lebensweise erhoben. Muslime selbst arbeiten zwar an einem Gegenentwurf zu dem öffentlichen Islam- und Muslimbild, indem sie sich auf vielfältige Weise selbst positiv konstruieren. Eine von der Öffentlichkeit zu Recht eingeforderte Selbstkritik erweist sich aber für eine unter so starkem äußerem Druck stehende Gruppe während einer solchen Positivkonstruktion als kaum möglich – was letztlich die Negativbilanz in der Außensicht noch erhöht.

Muslim und deutsch? Muslim und Demokrat?

Möglicherweise haben die Werte des Grundgesetzes für die Bundesrepublik deshalb so stark an Bedeutung gewonnen, weil das bisherige Konzept des deutschen Nationalstaats durch die Fakten der Migration in Frage gestellt worden ist. Weder Abstammung noch Religion stehen in einem multiethnischen und multireligiösen Staat noch als gemeinschaftsbildende Elemente zur Verfügung. Die deutsche Debatte über neue Regelungen im Staatsangehörigkeits- und Zuwanderungsgesetz, die nahezu zehn Jahre dauerte, war von der Suche nach neuem Zusammenhalt geprägt. Ein gemeinsamer Wertekonsens kann jeden einbeziehen, unabhängig von Religion, Herkunft, Muttersprache, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Viele Politiker betonten Sprache und demokratische Werte als Voraussetzungen und Maßstäbe für Fortschritte in der Integration von Migranten. Einige führten sie jedoch auch ins Feld, um das Scheitern des Integrationsprojekts zu beweisen. Diese Argumentation gipfelte in der Forderung, die deutsche Staatsangehörigkeit nur im Austausch mit dem Bekenntnis zur deutschen Grundordnung zu verleihen. Der seit Januar 2006 so heiß diskutierte „Muslimtest“ aus Baden-Württemberg, der das Bekenntnis aller Menschen aus 57 islamischen Ländern in Zweifel zieht, enthält zwei Grundannahmen, die seit einiger Zeit immer wieder in Debatten über Muslime deutlich werden: Zum einen stünden islamische Werte denen des Grundgesetzes entgegen, und nur eine Distanzierung vom Islam ermögliche die Übernahme dieser Werte. Zum anderen würden sich Muslime beim Eid auf die Verfassung der Bundesrepublik verstellen, um die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben.

Damit wird Muslimen die Chance, gläubiger Muslim und gleichzeitig aktiver Teilnehmer in einem rechtsstaatlichen und demokratischen System zu sein, in zunehmendem Maße verwehrt – und zwar nicht nur von religiös argumentierenden muslimischen Extremisten, sondern auch von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dies könnte zu einer Strategie des Ausschlusses geraten, vor allem dann, wenn muslimische Gruppen oder Individuen für sich selbst solche Möglichkeiten sehr wohl sehen und aktiv nach Zugängen zur Beteiligung suchen. Bemühungen, die in erster Linie dem Schutz der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfasstheit der Bundesrepublik gelten, könnten so wie ein exklusiver Schutz des eigenen Einflussbereichs wirken, der sich durch die Beteiligung neuer Teilhaber – in diesem Fall mit den Türken einer der größten Migrantengruppen – zu verringern scheint.

Die Darstellung muslimischer Bevölkerungsgruppen als ein einheitlicher Block stellt auf Differenz ab. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die religiösen und kulturellen Konzepte dieser Gruppen unveränderlich sind. Wenn dann auch noch als atypisch wahrgenommenen Personen und Gruppen vermeintlich allgemeingültige negative Charakteristika unterstellt werden, so hemmt dies die Entwicklung eines in Deutschland beheimateten Islams.

Die Notwendigkeit, das demokratische System zu bewahren, steht außer Zweifel. Wenn muslimische Gruppen oder Individuen sich aufgrund eines – wenn auch nur empfundenen – Ausschlusses von der demokratischen Idee abwenden oder erst gar nicht dafür gewonnen werden können, so würde dies jedoch eine ebenso große Gefahr darstellen. Um den Schutz des demokratischen Systems der Bundesrepublik bemühte Menschen befinden sich so in der äußerst schwierigen Situation, abwägen zu müssen: An Inklusion interessierte Kräfte versuchen, diejenigen Stimmen unter den Muslimen zu unterstützen, die einen Einklang von Islam und Demokratie darlegen. Aber damit thematisieren sie gleichzeitig eine mögliche Inkompatibilität praktizierten Islams  mit der gelebten deutschen Demokratie. Die muslimische Seite gerät so unter einen Legitimitätsdruck, den nur wenige andere Gruppen verspüren. Die Suche nach einer deutschen Identität, und damit der Prozess der Integration, wird von Stereotypen gebremst, die diesen Prozess als zum Scheitern verurteilt oder bereits gescheitert darstellen.

Kulturalistische und essentialistische Erklärungen von Konflikten versperren die Sicht auf Problemlösungen. Vorhandene Probleme gilt es nicht nur zu benennen, sondern sie auf der Grundlage klarer Analysen zu beheben. Dabei reicht es nicht, diese Gründe nur im Islam zu suchen oder auf muslimische Organisationen zu verweisen. Vielfältige Strategien sind nötig, um vollständige Integration zu gewährleisten und eine Partizipation aller Migranten und ihrer Nachkommen sowie der hier lebenden Musliminnen und Muslime zu sichern. Die dem derzeitigen Diskurs unterliegende Annahme, dass die Abkehr vom Islam die meisten vorhandenen Probleme lösen würde, ist fatal. Sie wird weder an den sozialen Problemen der nachwachsenden Generation noch an denen benachteiligter Frauen etwas ändern.

Eberhard Seidel, Journalist und Leiter der zivilgesellschaftlichen Initiative „Schule ohne Rassismus“, bezeichnet den hiesigen Diskurs über Muslime als eine „Selbstverständnisdiskussion der Mehrheitsgesellschaft“: Je mehr des Bösen, Normabweichenden und Inkorrekten auf das Muslimische projiziert werde, desto heller, reiner und entwickelter erscheine das Selbst, schreibt er in einem Kommentar zum Muslimtest in Baden-Württemberg.9 Konstruktive Problemanalysen dürfen sich indessen nicht nur gegen die als „anders“ Wahrgenommenen richten. Versäumnisse der Mehrheitsgesellschaft müssen gleichermaßen wie die der Zugewanderten festgestellt und diskutiert werden. Zukunftsorientiert zu denken heißt, auf Antagonismen „unserer“ und „ihrer“ Kultur zu verzichten. Probleme wie Lösungsansätze sollten von einem Standpunkt der Gemeinsamkeit aus angegangen werden. Nur so kann Deutschland seinem Anspruch an sich selbst gerecht werden, eine Gesellschaft zu sein, die alle ihre Bürger – ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres Geschlechts – gleich behandelt.

RIEM SPIELHAUS, geb. 1974, ist seit 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich „Islamwissenschaft des nichtarabischen Raumes“ am Institut für Asien-Afrika-Wissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist sie Gründungsmitglied der Muslimischen Akademie in Deutschland, einem Forum für inner- und interreligiösen Dialog.

  • 1Katajun Amirpur: Kopftuch und kein Ende, Peripherie, Nr. 95, 2004, Münster S. 361–365.
  • 2Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, Islam in Deutschland, Bundestags-Drucksache 14/4530. 8.11.2000, S. 4 f.
  • 3Die Frage der Erhebung der Religionszugehörigkeit wird ausführlich diskutiert in Peter Heine und Riem Spielhaus: Das Verbreitungsgebiet der islamischen Religion, in: Werner Ende und Udo Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, München 2005.
  • 4Siehe auch Jocelyne Cesari: When Islam and democracy meet. Muslims in Europe and the United States, New York, 2004; S. 9–18, und Jytte Klausen: The Islamic Challenge. Politics and Religion in Western Europe, New York 2005, S. 6 und S. 214–215.
  • 5Philipp Gessler und Barbara Wündisch: Herr Schily macht ein Angebot. Die Idee des Innenministers, muslimische Gemeinden jüdischen und christlichen gleichzustellen, klingt gut. Dahinter steht der Wunsch nach Kontrolle, taz, 13.12.2004.
  • 6Siehe auch Riem Spielhaus: Dialog und Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen. Chancen und Hindernisse, in: Peter Heine und Aslam Syed: Philanthropie und zivilgesellschaftliches Engagement, Berlin 2005, S. 409-424.
  • 7Philipp Gessler und Barbara Wündisch (Anm. 5), und Omid Nouripour, Mitglied des Bundesvorstands von Bündnis90/Die Grünen. Presseerklärung Bündnis90/Die Grünen vom 29.4.2005; www.gruene-partei.de.
  • 8Die Forderung nach einer einheitlichen Vertretung der Muslime in Deutschland ist nicht nur problematisch, weil sie von einer homogenen muslimischen Gruppe ausgeht. Weitere Schwierigkeiten beschreibe ich in dem Artikel: Dialog und Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen. Chancen und Hindernisse, (Anm. 6).
  • 9Eberhard Seidel, taz, 14.1.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2006, S. 28 - 37.

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