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01. Jan. 2015

Rekordwachstum nach Rosskur

Das Ende des harten Sparkurses kam für Irland rechtzeitig

Ist Sparpolitik tatsächlich die falsche Medizin für schwächelnde Volkswirtschaften? Das ist die These von Ökonomen wie Paul Krugman, und der Fall Griechenland scheint sie zu bestätigen. Doch schaut man in andere ehemalige Krisenländer wie Irland, Italien, Portugal oder Spanien, dann verliert sie an Plausibilität. In Irland etwa hat die Austerität nach Lehrbuch funktioniert: Die internationale Kreditfähigkeit des Landes ist wiederhergestellt, der Staatshaushalt nähert sich dem Gleichgewicht.

„Drei Wochen war der Frosch so krank. Jetzt raucht er wieder. Gott sei Dank!“ Selbstverständlich war Irland viel länger krank als Wilhelm Buschs Frosch. Und natürlich ist das Rauchen in Irland seit 2004 fast überall verboten. Trotzdem gilt: Der konjunkturelle Bruch zeichnete sich schon 2007 ab, im Juli 2008 folgte der erste Sonderhaushalt (dessen Maßnahmen aus heutiger Sicht eher eine Alice-im-Wunderland-Qualität haben, derart putzig nehmen sie sich aus), im September darauf kam die umfassende Garantie des irischen Staates für die Verbindlichkeiten der irischen Banken.

Die fünf Jahre zwischen 2009 und 2013 brachten den Kollaps der irischen Binnenwirtschaft einschließlich sämtlicher Banken, und, zeitlich überlappend, eine vollständige Neukonfiguration des Staatshaushalts. Doch inzwischen scheint das Schlimmste überstanden.
Etwa gleichzeitig mit dem formellen Ende des internationalen Hilfsprogramms für Irland im Dezember 2013 – finanziert durch die Europäische Union, den Internationalen Währungsfonds und befreundete Staaten wie Großbritannien, Dänemark und Schweden – kehrte das Land zu kräftigem Wachstum zurück. Für 2014 wird eine Zunahme des Bruttoinlandprodukts von rund 5 Prozent veranschlagt. Das schlug sich auch im Staatshaushalt nieder: Die Einnahmen lagen über den Erwartungen, bei den Ausgaben profitierte man von der schneller sinkenden Arbeitslosigkeit. Für 2014 rechnet man mit einem Fehl-betrag von 3,7 Prozent des BIP anstelle der einst budgetierten 4,8 Prozent.

Noch im Sommer hatten sich internationale Organisationen und Forschungsinstitute darin überboten, dem irischen Finanzminister Michael Noonan eine anhaltende Spardisziplin nahe zu legen. Laut dem mit der Troika der Gläubiger 2010 vereinbarten Plan hätte das Budget für 2015 erneute „Korrekturen“ – also Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen – im Umfang von zwei Milliarden Euro enthalten sollen. Doch die erfreuliche konjunkturelle Entwicklung erlaubte Noonan, diesen Rat in den Wind zu schlagen. Im Oktober legte er zum ersten Mal seit 2007 einen ganz leicht expansiven Haushalt vor: Der Gürtel durfte etwas gelockert werden. Trotzdem wird das Defizit 2015 unter der magischen Marke von 3 Prozent des BIP liegen.

Das Ende der Rosskur kam – politisch betrachtet – keine Sekunde zu früh. Geduldig hatten die Iren immer höhere Abgaben und schrumpfende Leistungen ertragen. Selbst die früher politisch undenkbare Besteuerung von privatem Wohneigentum ließ sich durchsetzen, indem das Diktat der Troika vorgeschoben wurde. Doch jetzt ist das Maß offenbar voll: Über 100 000 Menschen gingen im November auf die Straße, um gegen die Besteuerung von Trinkwasser zu protestieren. Der Unmut entspringt zum einen dem Überdruss an immer neuen Rechnungen, zum anderen allerdings auch der Empörung über das geradezu groteske Maß an Inkompetenz, das sich beim Aufbau der zentralen irischen Wasserbehörde offenbarte. Die bedrängte Regierung verteidigt ihr Festhalten an den neuen Gebühren damit, dass das marode Leitungsnetz der Republik hohe Investitionen verlange. Nur wenn die Konsumenten über die Hälfte der Kosten beisteuerten, könne die Bilanz von „Irish Water“ aus der Staatsrechnung ausgelagert werden. Anderenfalls würde die Staatsschuld anwachsen.

Keine akuten Schmerzen mehr

Wenn man die hohen Bargeldreserven des irischen Staates berücksichtigt, ergibt sich derzeit eine Nettoschuld, die ungefähr der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht. 2014 hat die akkumulierte Staatsschuld ihren Höhepunkt mit 110 Prozent des BIP überschritten. Die Rendite auf zehnjährige staatliche Obligationen ist mittlerweile unter 2 Prozent gesunken. Deshalb haben Irlands europäische Partner dem Plan zugestimmt, die Hilfskredite des IWF, die höher verzinst waren, vorzeitig zurückzubezahlen und durch billigere irische Bonds zu ersetzen. Das entlastet den laufenden Haushalt.

Das Hauptziel der Austerität nach Lehrbuch ist somit erreicht: Die internationale Kreditfähigkeit des Landes ist wiederhergestellt, der Staatshaushalt nähert sich dem Gleichgewicht. Sollten die geltenden Wachstumsprognosen zutreffen, wird der Rest des Weges keine akuten Schmerzen mehr bereiten.

Die reale irische Wirtschaft profitiert derzeit davon, dass ihre Hauptmärkte außerhalb des Euro-Raumes liegen und dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch Großbritannien ein kräftiges Wachstum verzeichnen. Der Exportüberschuss bildet diese strukturellen Gegebenheiten ab. Dennoch bleibt die hohe Staatsverschuldung ein Mühlstein und ein Risikofaktor.

Die beiden wichtigsten Komponenten des irischen BIP, der private Konsum und die privaten Bruttoinvestitionen, haben sich nach jahrelangem Rückgang im vergangenen Jahr erholt. Die Erträge der Mehrwertsteuer, PKW-Verkäufe und Indizes für den Bausektor bezeugen diesen Umschwung. Die Beschäftigung hat zu-, die Nettoauswanderung abgenommen.

Die Binnenwirtschaft ist also zu „normaleren“ Werten zurückgekehrt – und der Exportsektor leistet weiterhin einen erheblichen Wachstumsbeitrag. Der Wert der irischen Exporte liegt leicht über dem des BIP. Diese Exporte gehen zu über 80 Prozent auf Firmen in ausländischem Besitz zurück. Deren Wohlbefinden liegt daher im ureigensten Interesse Irlands. Deshalb schlägt die globale Debatte über die Besteuerung multinationaler Konzerne hier besonders hohe Wellen. Dabei geht es – endlich – nicht mehr vorwiegend um den irischen Körperschaftssteuersatz von 12,5 Prozent, sondern um die bisherige Duldung von staatenlosen Firmen, über deren Konten milliardenschwere Profite in karibische oder sonstige exotische Oasen verschoben wurden, ohne direkten Nutzen für den irischen Fiskus.

In seiner Haushaltsrede im Oktober kündigte Finanzminister Noonan deshalb in vorauseilendem Gehorsam den Abschied vom „doppelten Iren“ („double Irish“) an. So werden diese Schachtelfirmen spöttisch bezeichnet. Seit dem 1. Januar dürfen neu in Irland ansässige Firmen dieses Schlupfloch nicht mehr benutzen, bisherige Nutznießer wie Apple, Facebook, Microsoft, Pfizer, Google und viele andere haben noch eine Gnadenfrist bis Ende 2020.

Gleichzeitig kündigte Noonan die Einrichtung einer „Patent-Box“ für die innerbetriebliche Abgeltung von Rechten und Patenten an. Diese soll, so meldeten irische Medien ohne offizielle Bestätigung, lediglich mit 6,25 Prozent besteuert werden. Einzelheiten liegen derzeit noch nicht vor, nicht zuletzt, weil dieser ganze Problembereich derzeit von der OECD, den G-20 und anderen beackert wird. Die irische Regierung will guten Willen zeigen, um den Ruf des Landes zu wahren, möchte aber gleichzeitig keinem Konkurrenten einen Standortvorteil auf dem Silbertablett präsentieren.

Die laufende Untersuchung der EU-Kommission, ob Apple vom irischen Fiskus unstatthaft begünstigt worden sei, hat viel Staub aufgewirbelt; dass die Namen irischer Firmen im Zusammenhang mit Enthüllungen über die Praktiken in Luxemburg auftauchen, ist ebenfalls höchst unwillkommen. Falls es sich aber international durchsetzen ließe, dass globale Firmen – namentlich im digitalen Bereich – ihre Gewinne irgendwo versteuern müssen, dann könnte Irland, das auch andere Standortvorteile bietet, sogar mit Mehreinnahmen rechnen.

Umgestülptes Bankensystem

Ebenfalls keine Steuern zahlten in den vergangenen Jahren die irischen Banken, allerdings aus anderen Gründen. Das Bankensystem ist im Verlaufe der Krise gänzlich umgestülpt worden. Zahlreiche ausländische Firmen haben den Markt mit hohen Verlusten verlassen, einige einheimische Institute sind abgewickelt, andere fusioniert worden.

So bleiben eigentlich nur noch drei Geschäftsbanken übrig. Am besten steht die Bank of Ireland da. Sie hat die staatlichen Einlagen zurückbezahlt und macht Gewinn. Die Steuerzahler besitzen rund 14 Prozent der Aktien. Die Ulster Bank, eine Tochter der nach ihrer Fast-Pleite nahezu staatseigenen britischen Royal Bank of Scotland, rappelt sich nach enormen Verlusten allmählich wieder auf und soll – entgegen anderslautenden Gerüchten – weiterhin in beiden Teilen Irlands aktiv bleiben. Allied Irish Banks schließlich, einst das größte Finanzhaus der Republik, ist 2014 in die Gewinnzone zurückgekehrt. Der Staat hat über 20 Milliarden Euro investiert und bleibt der nahezu alleinige Eigentümer. Die Reprivatisierung der Bank dürfte noch in geraumer Ferne liegen.

Der Gesundheitszustand des irischen Finanzsektors bleibt indessen fragil. Offizielle Statistiken zeigen, dass die Zahl privater Hypothekenschuldner im Verzug abnimmt, weil die Banken (nach langer Indolenz) endlich systematisch aufgelaufene Schulden konsolidieren. Doch der Schein könnte trügen. Solange die verfügbaren Einkommen stagnieren und die Arbeitslosenquote über 10 Prozent bleibt, können auch revidierte Hypothekenverträge wieder faul werden. Das gilt namentlich für den spekulativen Sektor, das heißt jene Hypotheken, die für Mietobjekte aufgenommen wurden.

Die Altlasten der irischen Immobilienblase lassen sich trefflich mit dem regen Handel mit Immobilienkrediten illustrieren. Die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers meldete, dass Irlands Banken 2014 mehr gebündelte Kredit-Portfolios verkauft hätten als Spanien und Großbritannien zusammengenommen. Hinzu kamen die laufenden Verkäufe der staatseigenen „Bad Bank“, Nama. Zahlreiche amerikanische „Geier-Fonds“ („vulture funds“) haben sich massiv engagiert. Sie hoffen auf rasche Profite, was zahlreiche irische Schuldner in Verlegenheit bringen dürfte, weil sie nun mit einem hartherzigen neuen Gläubiger konfrontiert sind. Die Flurbereinigung dauert also an.

Dr. Martin Alioth ist Irland-Korrespondent u.a. für den Schweizer Rundfunk SRF, die Neue Zürcher Zeitung und den Standard.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2015, S. 56-59

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