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01. Juli 2004

Reformstrategien für den „Broader Middle East“

Ansätze und Chancen für Reformen in der arabischen Welt sind durchaus vorhanden, zugleich
aber auch eine Fülle von Problemen. Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen
Ausschusses des Bundestags ist die Initiative für den „Weiteren Mittleren Osten“ ein wichtiger
Schritt in die richtige Richtung; Erfolge würden sich allerdings erst mittel- und langfristig zeigen.

Die Initiative für den „Weiteren Mittleren Osten“ reflektiert beides: den missionarischen Idealismus Amerikas und die neue, schockartig veränderte Bedrohungslage, die durch die Anschläge vom 11. September 2001 für die Menschen in Amerika deutlich geworden ist.

Der „safe haven“ Amerika ist nicht mehr „safe“, sondern im Kern bedroht durch einen neuen, unberechebaren Feind: den islamistischen Terrorismus, der nicht nur Amerika und Israel, den „großen und den kleinen Satan“, sondern den gesamten Westen bedroht; genauer: die westliche Lebensart.

Islamische Fundamentalisten sehen den Westen als Bedrohung für den Islam und die islamische Lebensweise. Sie predigen Widerstand gegen „Kreuzritter“ und Kreuzrittermentalität. Es ist ein ideologischer Kampf, den die Dschihadisten (die Vertreter des Heiligen Krieges) in eine bewaffnete Auseinandersetzung auf globaler Ebene überführen wollen. Die Kriegserklärung richtet sich in erster Linie und vorrangig gegen den Westen, gegen die Politik des Westens in Irak, in Palästina, in Afghanistan und gegen die westliche Führungsmacht USA; sie richtet sich auch gegen eigene (islamische) Regierungen, die mit Amerika kooperieren und ihm „zu Diensten“ sind.

Experten und (korrekte) Kommentatoren weisen immer wieder darauf hin, dass es zu unterscheiden gelte zwischen Islam und Islamismus. Dem ist definitorisch zuzustimmen. In der täglichen Auseinandersetzung kann freilich nicht (mehr) geleugnet werden, dass der Dschihadismus wachsende Zustimmung in den islamischen Gesellschaften findet, bei der Masse der marginalisierten und verarmten Muslime, die für ihre missliche Lage den Westen (die Ausbeutung durch den Westen) und ihre eigenen korrupten Herrscher verantwortlich machen.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass und warum der gewaltbereite islamistische Wille zur Selbstbehauptung wächst. Zugleich wächst das Ansehen all jener, die den Kampf gegen den Westen und seine islamischen „Kollaborateure“ führen. Al Khaïda, das globale Netzwerk des Dschihadismus, hat in den islamischen Ländern, bei dem „Mann auf der Straße“, mehr Sympathien, als wir im Westen uns einzugestehen wagen. Von einem „clash of civilizations“ zu sprechen, wäre gleichwohl verfehlt und gefährlich, weil damit das ideologische Weltbild der Terroristen bestätigt würde. Die Prediger des Dschihad sind – wie man weiß – eifrige Leser von Samuel Huntington.

Von einem Krieg („war against terrorism“) sprechen auch die Amerikaner. Sie haben früher als die Europäer den islamistischen Terrorismus, scheiternde Staaten („failing states“) und die globale Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als die größte Bedrohung ihrer Sicherheit erkannt; und sie sehen und fühlen sich – anders als wir Europäer – seit dem 11. September 2001 „at war“. Die Europäer teilen zwar inzwischen die amerikanische Bedrohungsanalyse; die Bedrohungswahrnehmung ist aber – trotz Madrid – noch immer anders.

Eine gemeinsam verabredete politische und militärische Strategie angesichts der neuen Bedrohungsszenarien gibt es bis heute nicht. Manche Kommentatoren – aber nicht nur sie (man lese die Rede, die der deutsche Außenminister Joschka Fischer auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 gehalten hat1), werten deshalb die jetzt diskutierte und auf dem G-8-Treffen verabredete Reformstrategie für den „Broader Middle East“ auch als Versuch, die transatlantische Kooperation auf eine neue operative Basis zu stellen. Das ist zu begrüßen, vor allem aus europäischer Sicht, weil die Regierung in Washington mit ihrer Reforminitiative zugleich deutlich macht und einräumt, dass der „Krieg gegen den Terror“ mit militärischen Mitteln (allein) nicht zu gewinnen ist. Die Politik ist gefordert. Es geht auch und ganz entscheidend darum, den Nährboden des Terrorismus auszutrocknen.

Wenn es gelänge, die autoritären islamischen Regime in Demokratien zu verwandeln und durch marktwirtschaftliche Reformen den allgemeinen Wohlstand für die Massen zu mehren, würden die Sympathien für die Terroristen abnehmen – so die amerikanische Überzeugung, die inzwischen auch von neokonservativen Intellektuellen geteilt wird. Was ist gut an der arabischen Welt, so wie sie heute ist? fragt z.B. der einflussreiche Journalist William Kristol . Haben wir nicht alle ein übereinstimmendes Interesse, die Zustände auf der Arabischen Halbinsel und im „Weiteren Mittleren Osten“ zu verändern? Kristol spricht von den arabischen Ländern, meint aber islamische. Iran werde zum eigentlichen „Testfall“ für die amerikanisch-europäische Zusammenarbeit, sagt er, ohne sich dazu genauer zu erklären. Andere islamische Staaten nennt er nicht, lässt aber keinen Zweifel daran erkennen, dass die Initiative für den „Weiteren Mittleren Osten“ breit angelegt ist, politisch und geographisch.

Kein Wunder deshalb, dass auch andere Experten, wenn sie von dem „Weiteren Mittleren Osten“ sprechen, implizit alle islamischen Länder einbeziehen („von Marrakesch bis Bangladesch“). Jedenfalls geht es bei der Initiative erkennbar nicht nur um die arabischen Länder. Iran wird genannt (nicht nur von Kristol), desgleichen Afghanistan.

Pakistans Bedeutung

Pakistan wird nicht genannt oder explizit ausgeklammert. Begründung: Für Pakistan stehe der Konflikt mit Indien im Vordergrund, nicht der Mittlere Osten. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass Pakistan (neben Saudi-Arabien) die Taliban und damit mittelbar auch Al Khaïda am nachhaltigsten unterstützt hat (bisweilen wird vermutet, dass die Unterstützung in den mittleren Rängen des pakistanischen Geheimdiensts bis heute anhält). Darüber hinaus sollte gesehen werden, dass Pakistan das bisher einzige islamische Land ist, das über „die Bombe“ verfügt, deren Entwicklung zudem von Saudi-Arabien finanziell gefördert worden ist. Pakistanische Wissenschaftler haben ihrerseits – wie wir heute wissen – Iran bei der Entwicklung seines Atomprogramms geholfen. Der nahöstliche Konnex Pakistans war deshalb in der Vergangenheit eng; er ist es auch heute, wenngleich mit veränderten Vorzeichen.

Pakistan ist nach dem 11.9. im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und dank der couragierten Politik seines Präsidenten Pervez Musharraf ein verlässlicher Partner Amerikas und des Westens geworden. Dass Musharraf es ernst meint, hat er wiederholt und zuletzt durch seinen Beitrag zur Reformdebatte bewiesen. Er plädiert für eine „aufgeklärte Moderation“. Der Westen müsse die Konflikte der Welt auf gerechte Weise lösen, nur er sei dazu in der Lage. Die islamische Welt hingegen brauche eine Renaissance.

Ob Musharraf mit solchen Worten in der islamischen Welt Gehör findet, bleibt abzuwarten. In seinem eigenen Land hat er nicht nur Freunde, sondern auch erbitterte Feinde. Das Land ist noch immer eine Hochburg für Islamisten und Dschihadisten, wozu die Nachbarschaft Afghanistans und insbesondere der ungelöste Kaschmir-Konflikt beitragen. Teile Pakistans (im Grenzgebiet zu Afghanistan) haben sich der Kontrolle durch die Zentralregierung in Islamabad weitgehend entzogen. Mehrere Attentate gegen Musharraf haben stattgefunden; sie sind bisher gescheitert. Es wird weitere geben; sie werden (hoffentlich) auch künftig erfolglos bleiben, wenn und solange die Armee hinter ihrem (Noch-)Oberbefehlshaber und Präsidenten steht. Das scheint derzeit, jedenfalls in den höheren Rängen des Militärs, der Fall zu sein. Wichtiger als die Unterstützung durch die Armee wäre freilich ein beiderseits als gerecht empfundener Ausgleich mit Indien in der Kaschmir-Frage, eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse für die einfachen Menschen sowie eine dauerhafte Stabilisierung Afghanistans, den unruhigen und immer noch instabilen Nachbarn.

Amerika hätte besser daran getan, die Operation „Enduring Freedom“ zu Ende zu führen; mit Unterstützung der Regierung in Islamabad, die heute ruhiger agieren könnte, wenn Afghanistan befriedet wäre. Die Welt könnte ruhiger leben. Denn für uns alle, für die zukünftige Entwicklung in der islamischen Welt und natürlich auch für den Mittleren Osten, ist und bleibt es von entscheidender Bedeutung, ob Pakistan, das islamische Land mit „der Bombe“, berechenbar, stabil und auf der Seite des Westens bleibt. In Washington scheint man sich dieser Tatsache sehr bewusst zu sein. Pakistan wird beachtet, Musharraf gepflegt. Die Einladung zum G-8-Gipfel (die Musharraf ausgeschlagen hat) beweist die Wertschätzung, die der pakistanische Präsident in Washington genießt; sie zeigt aber auch das mangelhafte Fingerspitzengefühl der amerikanischen Regierung im Umgang mit „Freunden“.

Uneinige Araber

Das gilt auch für die „Freunde“ in der arabischen Welt, die Washington für seine Reforminitiative gewinnen möchte. Das dürfte schwierig werden, denn Amerika ist heute in der arabischen Welt nicht nur nicht geachtet, sondern gefürchtet und verhasst. Reformvorschläge Washingtons werden deshalb im Mittleren Osten nicht bejubelt, sondern mit Skepsis und als Drohung auf- und wahrgenommen; zumal sie im konkreten Fall vorzeitig und in wenig akzeptabler Form publik gemacht wurden.

Entsprechend war die Reaktion. Der erste Versuch, eine einheitliche arabische Position zu den amerikanischen Reformvorschlägen zu entwickeln, scheiterte. Die (diesem Thema gewidmete) Konferenz der Arabischen Liga kam erst im zweiten Anlauf zustande. Nur 13 der 22 arabischen Staatsoberhäupter kamen nach Tunis, einige verließen die Konferenz nach kurzer Zeit unter Protest. Die vom Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, vorgelegte Erklärung zu Reformen in der arabischen Welt wurde von der Konferenz ausdrücklich nicht beschlossen, sondern lediglich zur Kenntnis genommen. Sie ist nicht verbindlich und deshalb in den westlichen Medien eher abschätzig kommentiert worden. Von einem „Minimalkonsens“ war die Rede; die Arabische Liga wurde als „jämmerlicher Verein“ bezeichnet. Zu Recht?

Ja und nein. Richtig ist, dass die Reformerklärung des Gipfels unverbindlich und darüber hinaus sehr allgemein gehalten ist. Die Notwendigkeit von Reformen wird bejaht, nicht nur im Bereich der Wirtschaft. Auch von Modernisierung wird gesprochen; zugleich wird aber auf die traditionellen Werte der arabischen Welt und der einzelnen arabischen Länder verwiesen. Der Begriff der Demokratisierung wird mit dem der traditionellen Shura verbunden.

Dennoch sollte die Erklärung nicht einfach beiseite geschoben werden. Dass die Arabische Liga – nach anfänglichem Zögern – überhaupt mit einer solchen Erklärung auf den Anstoß aus Amerika reagiert hat, ist positiv zu bewerten; das Thema der Reformen ist damit offiziell in die inner-arabische Debatte eingeführt; es wird in den Medien der arabischen Staaten aufgegriffen und behandelt. Eine zivilgesellschaftliche Diskussion hat – wenn auch zögerlich – begonnen.

Darüber hinaus sollte im Westen anerkannt werden, dass es schon vor dem Gipfel in verschiedenen arabischen Ländern erste Reformschritte gegeben hat. In Marokko zur Stellung der Frauen; in Algerien, wo die Präsidentschaftswahlen vergleichsweise fair verlaufen sind. Jordanien ist auf einem guten Weg. Sogar in Ländern, die gemeinhin als besonders konservativ eingeschätzt werden, gibt es Bewegung, z.B. in Saudi-Arabien. Dort ist – vom Westen fast unbemerkt – vor einiger Zeit ein „Zentrum für den Nationalen Dialog“ eingerichtet worden, das reformorientiert arbeitet: über Wege zu mehr Bürgerbeteiligung, über die Rolle der Justiz, über die Lage der Frauen und – man höre und staune – über eine gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen. Konkrete Umsetzungsmaßnahmen gibt es noch nicht; weder in Saudi-Arabien noch in Ägypten, wo – ebenfalls von oben angestoßen – eine Konferenz von Nichtregierungsorganisationen über mögliche Reformschritte beraten hat. Immerhin war es  Präsident Hosni Mubarak selbst, der diese Konferenz in Alexandria2 eröffnet hat. Sogar aus den Vereinigten Arabischen Emiraten erreichen uns vorsichtige Signale für Veränderungen, wie kürzlich bei dem Besuch einer Parlamentariergruppe in Berlin berichtet wurde. Es gibt also durchaus Ansätze und Chancen für Reformen in der arabischen Welt, aber es gibt zugleich eine Fülle von Problemen, die bedacht werden müssen. Welche?

Chancen für Reformen

So wichtig und dringlich Reformen sein mögen: die arabischen Massen sind – trotz großer Unzufriedenheit mit ihren eher ärmlichen Lebensverhältnissen – politisch auf Reformen nicht eingestimmt. Es sind kleine intellektuelle Minderheiten, die sich an der von außen und oben angestoßenen Reformdebatte beteiligen. Von außen, vom Westen angestoßene Reformen werden zudem als Einmischung in innere Angelegenheiten gewertet, als „Octroi“, dem sich der arabische Stolz widersetzt. Soweit sich arabische Regierungen zu Reformen äußern, tun sie es im Bewusstsein eines offenkundigen Dilemmas: Reformen könnten sehr schnell zu Machtveränderungen führen, die den arabischen Potentaten gefährlich werden. Das lässt viele zögern.

Aber auch der Westen hat guten Grund zur Vorsicht. Demokratische Wahlen könnten in verschiedenen arabischen Ländern kontraproduktiv verlaufen, weil nicht Demokraten, sondern Extremisten gewählt würden; was auch zu tun hat mit der Art und Weise, wie Amerika im Mittleren Osten, gegenüber der arabischen Welt und in den zentralen Konflikten (Israel-Palästina, Irak) agiert. Amerika hat politisch an Einfluss verloren, ist nicht mehr Vorbild, sondern gefürchteter Hegemon. Weil das so ist, können es sich arabische Potentaten gar nicht erlauben, uneingeschränkt positiv auf amerikanische Vorschläge zu reagieren. Sie würden sich damit in Gegensatz zur Gefühlslage der arabischen Massen bringen und das Diktum der Dschihadisten bestätigen, dass die arabischen Regime willfährige Diener Washingtons sind und eben deshalb bekämpft werden müssen. Wahrscheinlich war dies auch ein Grund dafür, dass die Staatsoberhäupter von wichtigen islamischen Ländern die Einladung zum G-8-Gipfel auf Sea Island abgelehnt haben – nicht nur Musharraf, sondern auch der ägyptische Präsident und der Herrscher Saudi-Arabiens.

Reformstrategien

Es waren vor allem solche Bedenken, die zur Entwicklung unterschiedlicher Reformstrategien in Amerika und Europa geführt haben; die Europäer konnten dabei – anders als die Amerikaner – auf sehr konkrete politische Erfahrungen zurückgreifen. Europa hat schon in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Ländern des südlichen Mittelmeers (Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Tunesien und Türkei – Malta und Zypern sind inzwischen EU-Länder) Angebote zur Zusammenarbeit gemacht, die angenommen und in konkrete Projekte umgesetzt worden sind. Dieser so genannte Barcelona-Prozess wird bisweilen als „geographisches Gegenstück“ zur Osterweiterung der EU bezeichnet, allerdings ohne Beitrittsperspektive.

Für die Praxis des Barcelona-Prozesses war und ist das Prinzip der „gleichberechtigten Teilhabe“ wichtig. Es ging und geht nicht darum, die südlichen Mittelmeer-Anrainer von außen (und von oben herab) zu Reformschritten zu veranlassen. Vielmehr waren sich die Teilnehmer des Prozesses von vornherein einig, dass sie das Ziel von Frieden und Wohlstand rund ums Mittelmeer nur durch gemeinsames Handeln erreichen könnten. Dieser Wille zur Gemeinsamkeit und der damit verbundene wechselseitige Respekt haben bewirkt, dass der Barcelona-Prozess trotz der Belastung und partiellen Lähmung durch den nahöstlichen Dauerkonflikt zwischen Israel und den Arabern doch konkrete Ergebnisse vorweisen kann.

Es war der deutsche Außenminister, der in der schon erwähnten Rede auf der 40. Münchener Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2004 auf den von der EU initiierten Barcelona-Prozess (und den Mittelmeer-Dialog der NATO) hingewiesen und eine gemeinsame transatlantische Reform-Initiative für den Nahen und Mittleren Osten gefordert hat. Es gehe, so Fischer in dieser Rede, um eine „verstärkte Zusammenarbeit und enge Partnerschaft in Sicherheit, Politik, Wirtschaft, Recht, Kultur und Zivilgesellschaft“.3 Den partnerschaftlichen Ansatz betont er immer wieder, wendet sich zugleich gegen eine „paternalistische Haltung“ und plädiert für ein „ernst gemeintes und auf echter Kooperation gründendes Angebot zur Zusammenarbeit mit den Staaten und Gesellschaften der Region“. Fischer nennt zwei Bedingungen, mit denen eine gemeinsame transatlantische Initiative stehe und falle: „Diese Initiative bedarf erstens Durchhaltevermögen und muss langfristig angelegt sein. Und zweitens darf der entscheidende Regionalkonflikt, nämlich der Nahost-Konflikt, weder ausgeklammert werden noch darf er diese Initiative sogleich blockieren.“

Der deutsche Außenminister ist für diese Rede in Washington und in den amerikanischen Medien viel gelobt worden, obwohl oder weil er Grundsätze formulierte, die den ursprünglichen amerikanischen Vorstellungen nicht entsprachen. In Washington gab es sehr wohl paternalistische Ansätze, die auch heute noch spürbar sind. Die schon erwähnte Frage von William Kristol – was ist gut an der arabischen Welt, so wie sie heute ist? – macht das sehr deutlich. Fischer wusste und weiß das. Daher sein Versuch, der Initiative für den „Weiteren Mittleren Osten“ eine andere Grundlage und Richtung zu geben. Seine „Philosophie“ lässt sich – wenn man so will – in drei Punkten zusammenfassen.

–  Der „Weitere Nahe Osten“ wird nach dem Ende des Kalten Krieges auf lange Zeit die strategisch wichtigste Region für Amerika und Europa bleiben. Die Reforminitiative kann dieser Tatsache nur gerecht werden, wenn sie als Angebot zu strategischer Partnerschaft konzipiert und verstanden wird.

–  Strategische Partnerschaften sind dem Prinzip der gleichberechtigten Teilhabe verpflichtet. Die Reform-agenda kann deshalb nicht einseitig im Westen festgelegt, sie muss vor Ort geschrieben, in den einzelnen Staaten von den dort Handelnden realisiert und von den westlichen Partnern unterstützt werden.

–  Gemeinsamkeit lässt sich nur herstellen, wenn Konflikte, die Gemeinsamkeit verhindern, aufgegriffen, entschärft und mittelfristig gelöst werden. Dazu gehört im „Weiteren Mittleren Osten“ vor allem der Konflikt zwischen Israel und den Arabern/Palästinensern. Eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Ländern des südlichen Mittelmeers muss die Lösung dieses nahöstlichen Dauerkonflikts jedenfalls einschließen.

Vergleicht man die Rede Fischers mit der am 9. Juni 2004 auf dem G-8-Gipfel verabschiedeten Entschließung, fallen die Übereinstimmungen sofort auf. Schon in der Überschrift ist von „Partnerschaft“ die Rede. Und im Text heißt es: „Diese Partnerschaft wird auf einer echten Zusammenarbeit mit den Regierungen sowie mit Vertretern der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft der Region mit dem Ziel gründen, Freiheit, Demokratie und Wohlstand für alle Menschen zu stärken.“4 Darüber hinaus wird ausdrücklich festgehalten, dass die Lösung von Konflikten, „insbesondere des israelisch-palästinensischen Konflikts“, ein wichtiges Element für Fortschritt in der Region sei; freilich dürften regionale Konflikte kein Hindernis für Reformen sein.

Die Übereinstimmung ist groß. Amerika und Europa haben sich bei der Formulierung von „Partnerschaft für Fortschritt und eine gemeinsame Zukunft mit der Region weiterer Mittlerer Osten und Nordafrika“ deutlich aufeinander zu bewegt; und sie haben auf verständige Weise Bedenken aus der Region aufgegriffen. Von Reformen „auf Befehl“ wollte man dort nichts wissen. Und das galt und gilt auch für jene, die dem Reformprojekt im Kern aufgeschlossen und handlungsbereit begegnen und die Reformbotschaft akzeptieren, nicht aber den Botschafter: Washington. Die Sorge, dass dieser „Botschafter“ am Ende ungeduldig reagieren und Reformen möglicherweise erzwingen würde, gab und gibt es. Sie ist durch den Irak-Krieg verstärkt und durch viele, z. T. schreckliche Geschehnisse in Irak nach dem formellen Ende der Kampfhandlungen bestätigt worden. Washington selbst nährt solche Befürchtungen durch das selbstbewusst vorgetragene Argument, die Lage im Irak und in der gesamten Region habe sich durch den militärisch herbeigeführten Regimewechsel verbessert. Damit wird der Krieg, der umstritten war und bleiben wird, als Reformschritt glorifiziert. Ist es völlig ausgeschlossen, dass diesem gewaltsamen Reformschritt andere folgen? Was bedeutet es, wenn Kristol Iran als „Testfall“ für europäisch-amerikanische Zusammenarbeit bezeichnet?

Auch Fischer hat in München über Irak gesprochen und betont, wie wichtig es sei, nach dem Krieg auch den Frieden zu gewinnen. Ein Scheitern würde „für uns alle… negative Konsequenzen haben“. Die Stabilisierung und Demokratisierung Iraks sind aber bei Fischer kein Teil der Reforminitiative; die Aussage zu Irak steht für sich.

In der G-8-Entschließung wird dagegen Irak als Teil der Reforminitiative aufgeführt. „Die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität in Irak ist von entscheidender Bedeutung für das Wohlergehen von Millionen Irakern und die Sicherheit der Region“, heißt es in dem Text, dem dann eine längere Erklärung5 folgt, was das für die Teilnehmer des Gipfels bedeutet. Die einstimmig angenommene Entschließung 1546 des UN-Sicherheitsrats6 wird in diesem Zusammenhang genannt, der Auftrag der „multinational force“ und die Schuldenfrage.

Es scheint, dass bei dieser Formulierung die Amerikaner sich durchgesetzt, andere (Frankreich, Deutschland, Russland) nachgegeben haben; was freilich nicht viel besagt. Denn Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder haben sogleich deutlich gemacht, dass sie auch künftig keine Truppen nach Irak schicken und die irakischen Schulden nur teilweise streichen würden. Im Klartext heißt das: die unterschiedlichen Auffassungen zu Irak bestehen fort. Die Regierungschefs sind aber inzwischen (durch Schaden) klüger geworden und bereit, die für beide Seiten unverzichtbare transatlantische Zusammenarbeit trotz andauernder Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich Iraks fortzusetzen und zu erneuern. Dies zu erreichen war ein, kurzfristig sogar das wichtigere Ziel der Middle-East-Initiative. Der Erfolg für die Region wird sich erst mittel- und langfristig zeigen.

Anmerkungen

1 Vgl. den Text der Rede in der Dokumentation, über:<http://www.internationalepolitik.de&gt;.

2 Vgl. den Text in der Dokumentation, über: s.o. (Anm. 1).

3 Vgl. a.a.O.(Anm. 1.)

4 Vgl. den Text in der Dokumentation des Heftes, S.131ff.

5 Vgl. den G-8-Plan zur Unterstützung von Reformen, über: s.o. (Anm. 1).

6 Vgl. den Text in der Dokumentation des Heftes, S.125ff.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2004, S. 10-17

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