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03. Jan. 2022

Reform oder Irrelevanz

Die strategische Verteidigungssouveränität der EU bleibt ein Fernziel. Die Mitgliedstaaten aber klammern sich verzweifelt an ein nationales Gestern. So kann das nichts werden.

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Bild: Internationale Soldaten-Übung
Eine starke europäische Säule der NATO wäre ein Weg – dafür aber müssten die Instrumente der Kooperation stärker genutzt werden. Hier die Übung Falcon Leap zur Integration von Luftlandeoperationen.
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Strategische Souveränität nimmt im Koalitionsvertrag der Ampelregierung einen prominenten Platz ein. Bereits in der Präambel bekennt sich die Koalition zum Ziel, die strategische Souveränität Europas ausbauen zu wollen. Damit trägt das Bündnis den immer lauter werdenden Rufen der vergangenen Jahre nach mehr europäischer Autonomie oder strategischer Souveränität Rechnung (die Begriffe werden heute nahezu synonym verwendet). Das Sicherheitsumfeld verschlechtert sich zusehends, gleichzeitig können die Europäer die geopolitische Priorisierung des Indo-Pazifiks der USA nicht länger ignorieren. Dass die Europäer in der Verteidigung mehr gemeinsam tun müssen, ist heute Konsens.



Obwohl das Ziel der strategischen Souveränität älter ist als die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) selbst, hat sich seit der Festlegung des Helsinki Headline Goal im Jahr 1999 erstaunlich wenig getan, um eine effektive verteidigungspolitische Integration in der EU zu erreichen. Militärisch sind sowohl Fähigkeiten als auch Ambitionen der Europäer immer weiter geschrumpft. Vom ursprünglichen Headline Goal, 60 000 Soldatinnen und Soldaten binnen 60 Tagen einsatzfähig haben zu wollen, bleibt laut Medienberichten im neuen Strategischen Kompass nur noch eine Abwandlung der EU-Battlegroup übrig: eine modulare schnelle Eingreiftruppe von 5000 Köpfen.



An optimistischen Initiativen mangelt es nicht. Zuletzt galten der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO) und die Koordinierte Verteidigungsplanung (CARD) als Hoffnungsträger für eine bessere Zusammenarbeit in der europäischen Verteidigung. Diese Initiativen sorgten auch zeitweise für neuen Schwung und verbesserten die Zusammenarbeit. Doch einer tatsächlichen strategischen Souveränität ist Europa nicht nähergekommen – guter Wille kann über die politischen Realitäten nicht hinwegtäuschen. Im Oktober 2021 schlussfolgerte ein Zwischenbericht über die Entwicklung der militärischen Fähigkeiten, dass die EU ihre Ambitionen zumindest für den Moment nicht werde erreichen können.



Für die Zukunft der europäischen Verteidigung gibt es drei Wege:

  1. Europa macht weiter wie bisher und hangelt sich von großen Versprechungen zu kleinen Ini­tiativen. Dies ließe die Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit Europas weiter schrumpfen; die Europäer blieben bei einer Ansammlung militärisch nutzloser „Bonsai-Armeen“.
  2. Die EU wählt den pragmatischen Weg und setzt sich für eine Stärkung der europäischen Säule in der NATO ein. Dies würde zwar europäische Fähigkeiten stärken, stellt aber nicht unbedingt eigenständige Handlungsfähigkeit her.
  3. Die EU nimmt ihre Forderungen nach Souveränität ernst. Das erfordert aber Vertragsänderungen und macht signifikante Mehrinvestitionen in die Verteidigung notwendig.

     

Weg 1: Die „Bonsai-Armeen“

Das stark zusammengestrichene Ambitionsniveau der Europäer kommt nicht von ungefähr. Seit 1999 haben sie ihre militärischen Fähigkeiten radikal reduziert. Dafür gibt es vier Gründe: Erstens war das europäische Sicherheitsumfeld zwischen 1991 und 2014 nicht von militärisch existenziell bedrohlichen Gefahren geprägt. Zweitens führte die Finanzkrise 2008/09 zu einer Beschleunigung des Abbaus von Verteidigungshaushalten und -fähigkeiten; dabei haben die Europäer seit 1999 ca. 35 Prozent ihrer militärischen Fähigkeiten verloren und einen enormen Investitionsrückstau angehäuft. Drittens macht es eine Reihe schwer veränderlicher verteidigungsökonomischer Prozesse immer teurer und schwieriger, in allen Fähigkeiten ausgestattete Streitkräfte aufrechtzuerhalten. Viertens waren die meisten der vielbeschworenen Kooperationen, die genau diesen Entwicklungen entgegenwirken sollten, schlicht Fehlschläge.



Nun stehen die europäischen Staaten vor einer grundlegenden Frage: Welche Art von Streitkräften wollen sie aufstellen? Ein Konflikt unter gleichrangigen Militärmächten ist heute wahrscheinlicher als Anfang der 2000er, die Mittel der Kriegsführung sind technologisch komplexer. Gleichzeitig sind auch nichtstaatliche Akteure besser ausgestattet, was selbst Interventionen und Stabilisierungseinsätze anspruchsvoller macht. Historisch haben militärische Innovationen und Komplexitätssteigerungen dazu geführt, dass nicht mehr alle Staaten modernstes Material bereitstellen und moderne Kriegsführung durchführen konnten. Machtasymmetrien zwischen großen und kleinen Staaten haben sich dabei stets vergrößert. „Die Europäer“ stehen mittlerweile für eher kleine Staaten, egal ob nach Größe der Streitkräfte oder Verteidigungsausgaben (wenn die Daten kaufkraftbereinigt sind). In Zeiten knapper oder gar weiter reduzierter Mittel ergibt sich für alle Europäer ein mehrfaches Investitionsdilemma.



Kein europäisches Land hat den politischen Willen, genügend Ressourcen zu mobilisieren, um gleichzeitig in künftige militärische Fähigkeitsbereiche zu investieren, bestehende Lücken zu schließen, vorhandenes Material zu modernisieren und die Einsatzbereitschaft zu erhöhen. Ähnlich wie in den frühen 2010er Jahren verfolgen die Europäer nun unkoordiniert eigene Wege – und verursachen damit große Fähigkeitslücken aus Sicht einer übergeordneten NATO- oder EU-Perspektive. In Frankreich und Großbritannien fressen die Nuklearfähigkeiten das Budget für die konventionellen Kräfte. Großbritannien reagiert, indem es zukünftige Fähigkeitsbereiche sowie Prestigeobjekte priorisiert und die Wünsche der NATO in Sachen Beitrag zur europäischen Verteidigung weitgehend ignoriert. Deutschland setzt hingegen vor allem auf die Modernisierung bestehender Fähigkeiten – trotz großer entsprechender Lücken und mangelnder Einsatzbereitschaft der Truppe.



Die bisherigen militärischen und rüstungsindustriellen Kooperationen in Europa haben nicht zu nennenswerten Skaleneffekten geführt. Diese sind aber notwendig, will man immer komplexere Streitkräfte und Waffensysteme hervorbringen. Die nationale Politisierung von Kooperationen, Rüstungsindustrien, Streitkräften, Streitkräfteplanungen und Souveränitätsgedanken verhindert Skaleneffekte auf allen Ebenen. Klauseln in gemeinsamen ­Rüstungsprojekten, natio­nale Einsatzdoktrinen, die die Zusammenarbeit „integrierter“ multinationaler Einheiten limitieren, oder inkompatible Kommunikationsgeräte sind nur die auffälligsten Beispiele. Wer nun die Hoffnung auf Instrumente wie Interoperabilität und NATO-Standardisierung setzt, wird enttäuscht. Dieses System reichte im Kalten Krieg, weil nur nationale Großformationen wie Korps oder Divisionen transnational kooperieren mussten. Heute soll auf niedriger Ebene (Kompanie oder Bataillon) militärisch integriert werden. Das erfordert ein starkes Eingreifen in nationale Beschaffungsanforderungen und -standards; dies ist bislang nicht gelungen.



Wer diesen Weg der vergangenen 30 Jahre weitergeht, endet bei nutzlosen „Bonsai-Armeen“ (Christian Mölling). Europäische Souveränität in der Verteidigung ist auf diesem Weg unmöglich.



Weg 2: Starke europäische NATO-Säule

Sollten die Europäer der eigenen Verzwergung nicht tatenlos zusehen, sich aber nicht zu den ganz großen Veränderungen bereiterklären wollen, bleibt die Flucht in eine stärkere europäische Säule der NATO. Doch auch dafür müssten vorhandene Instrumente zur Kooperation intensiver genutzt werden. Den Anstieg der Verteidigungsausgaben seit 2014 zu verstetigen, ist die erste Aufgabe der europäischen NATO-Mitglieder. Dies bleibt unabhängig von jeder Diskussion um das 2-Prozent-Ziel richtig, frisst doch sonst u.a. die Inflation kleine Erhöhungen direkt auf; real entsteht so keine zusätzliche Kaufkraft für Modernisierung. Damit einher geht der Fokus, die zusätzlichen Ressourcen auch wirklich für Investitionen – Forschung und Entwicklung sowie Beschaffung – auszugeben, was die NATO in ihrem 20-Prozent-Investitionsziel manifestiert hat. Doch eingedenk der geschilderten Probleme, in Zukunft auch für kleine und mittlere Bedarfe rundum ausgestattete Streitkräfte bereitzustellen, kehrt eine weitere ewige Diskussion zurück: die arbeitsteilige Organisation militärischer Fähigkeiten durch nationale Spezialisierung.



Anstatt dass alle Verbündeten sich bemühen, ein möglichst breites Fähigkeitsspektrum zu erhalten, gilt es durch Spezialisierung zumindest auf nationaler Ebene, Skaleneffekte zu generieren – auch wenn das die gegenseitige Abhängigkeit erhöht. Eine engere Bindung nationaler Fähigkeitsplanungen an den NATO Defence Planning Process (NDPP) wird deshalb notwendig. Das gilt vor allem für Staaten wie Großbritannien und Frankreich, die eher nationale Pläne verfolgen; oder auch für Deutschland, das im NDPP viel verspricht und wenig hält. Gleichzeitig sollte der NDPP mehr multinationale Formationen einplanen und so eine bereits begonnene interne Planungsreform fortsetzen. Ein ambitioniertes Beispiel für eine solche Formation wäre die European Joint Force (Christian Mölling/Heinrich Brauß).



Das sogenannte Framework Nation Concept, und die dadurch begonnene horizontale Integration spezieller Fähigkeiten und größerer Truppenverbände, ist eines der Instrumente, solche Formationen umzusetzen. Sowohl der wechselseitige Nutzen von Gerät als auch die Standardisierung technischer Anforderungen und Doktrinen müssen darin allerdings wesentlich konsequenter und auf niedrigeren Ebenen umgesetzt werden. Bestenfalls schlägt sich dies dann in multinationalen standardisierten Beschaffungen nieder.



Auch wenn diese Schritte pragmatisch klingen, sind sie in Anbetracht der Erfahrungen der vergangenen Jahre ambitioniert. Zudem bringt ein solcher Ansatz eine stärkere europäische Säule in der NATO, aber kaum europäische Souveränität. Gerade was wichtige Nischen- und Führungsfähigkeiten anginge, wären die Europäer genauso abhängig von der NATO und den USA, wie sie es jetzt schon sind. Für die EU hieße das ein stark reduziertes Ambitionsniveau, in dem aktuelle Initiativen wie CARD, PESCO und EDF vor allem für ihre finanzielle, aber nicht so sehr für ihre organisatorisch-koordinierende Funktion geschätzt und genutzt würden.



Weg 3: Strategische Souveränität

Um wirklich strategische Souveränität zu erreichen, also unabhängig von den USA und der NATO entscheidungs- und handlungsfähig zu sein, müssten die Europäer viel weiter gehen. Im allgemeinen Diskurs in Deutschland wird gerne suggeriert, es gäbe keinen Widerspruch zwischen Souveränitätsbestrebungen und einer engen Integration in der NATO. Doch historisch diente der Begriff sehr wohl der Abgrenzung von den USA und betonte die Eigenständigkeit Europas in der Sicherheitspolitik. Das hat seit jeher zu transatlantischen Konflikten geführt.



US-Präsident Joe Biden drückte zwar seine Unterstützung für den Ausbau europäischer Verteidigungsfähigkeiten aus, die Komplementarität mit der NATO wird aber bei jeder Gelegenheit unterstrichen. Die Europäer sollten sich daher nichts vormachen: Die USA möchten einen starken europäischen Partner an ihrer Seite, jedoch einen, der sich anpasst und unterordnet. Will man tatsächlich mehr Souveränität, ist ein Streit mit den USA vorprogrammiert. Wer eigenständig handlungsfähig sein will, wird Dopplungen mit der NATO nicht vermeiden können. Ein Beispiel wird von den Koalitionären in ihrem Vertrag angesprochen: gemeinsame europäische Kommandostrukturen und ein zivil-militärisches Hauptquartier der EU.Auch die Frage nach supranationalen Streitkräften gehört wieder auf den Tisch, wenn es den Europäern mit der Souveränität ernst ist. Aus Angst, nationale Souveränität aufzugeben, wird diese Idee immer wieder als utopisch verworfen. Doch mindestens genauso illusorisch ist die Vorstellung, EU-Mitgliedstaaten agierten in der Verteidigung heute noch aufgrund nationaler Souveränität. Siehe oben: Die meisten nationalen Streitkräfte sind so klein, dass sie nur noch im Verbund handlungsfähig sind.



Um tatsächlich als Europäer souverän handeln zu können, reicht es nicht, zwischenstaatlich zu kooperieren. Die EU-Staaten müssen ihre Streitkräfte vertikal auf EU-Ebene integrieren. Nur so können langfristig Dopplungen vermieden werden, Schwierigkeiten der Inter­operabilität und die Investitionsdilemmata bewältigt werden. Wie ein Weg dorthin aussehen könnte, hat die Arbeitsgruppe der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion 2020 mit dem Vorschlag zur 28. Armee aufgezeichnet.



Ohne Vertragsänderungen ist dieser Weg nicht realisierbar. Es müssten neue exekutive Strukturen sowie ein eigenes Verteidigungsbudget der EU geschaffen werden. Das Europäische Parlament müsste erweiterte Kontrollfunktionen erhalten. Die Ampelkoalition hat sich prinzipiell offen für europäische Vertragsänderungen gezeigt. In ihrem Koalitionsvertrag schreibt sie, dass solche Reflektionen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas „zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“ sollen. In diesem Kontext müsste auch die europäische Verteidigung stringent weitergedacht werden.



Nationale Souveränität abgeben

Vor dem Hintergrund limitierter Ausgaben für Verteidigung in ganz Europa, einer sich ändernden Bedrohungslage und dem Wandel der Kriegsführung werden die Europäer in Sachen Verteidigung einen (Souveränitäts-)Tod sterben müssen. Noch können sie selbst entscheiden, welchen.



Sie können nationale Souveränität ­verlieren, indem sie

  • weitermachen wie bisher. Dann werden sie bald kaum mehr abschreckende und funktionale Streitkräfte haben und sich immer mehr in die Abhängigkeit von den USA begeben.
  • die militärische Integration der NATO vertiefen und ihre nationalen Präferenzen zurückstellen. Die Folgen wären eine stärkere europäische Säule der NATO, aber mehr gegenseitige Abhängigkeit und kein selbstständig handlungsfähiges Europa.
  • ihre zunehmend dysfunktionalen Streitkräfte an eine vertikal integrierte EU-Armee abgeben. Diese würde Europas strategische Souveränität steigern und – zusammen mit den anderen ­NATO-Verbündeten – die Erfüllung eines sicherheitspolitischen 360-Grad-­Ansatzes für die Süd- und Ostflanke Europas wahrscheinlicher machen.

Im Moment versuchen die meisten EU- Staaten, sich rhetorisch und operativ zwischen allen Stühlen zu platzieren. Das ist keine kohärente Strategie für mehr Souveränität. Ohne grundlegende Entscheidungen wird das nicht funktionieren.

 

Sophia Becker ist Research Fellow für US-­Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Programm Sicherheit und Verteidigung bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Torben Schütz ist Doktorand an der Helmut- Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg sowie Research Fellow beim Defense AI Observatory und Associate Fellow der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 42-47

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