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01. Juni 2007

Recht und Reform in China

Buchkritik

Chinas rasante wirtschaftliche Entwicklung hat sich bislang kaum als Schrittmacher für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit erwiesen. Wie kann, wie sollte der Rechtsdialog mit China heute geführt werden? Übersicht über neue Bücher und Aufsätze zum Thema.

„Der Vorschlag wurde von der Versammlung nicht angenommen“, heißt es in der editorischen Anmerkung zu Li Buyuns erstmals 2002 veröffentlichtem Aufsatz „Several Issues on Judicial Independence“, in dem der chinesische Verfassungsrechtler für eine institutionelle Justizreform zur Sicherung richterlicher Unabhängigkeit eintritt. Die Ablehnung der Parteifunktionäre konnte Li Buyun, heute Direktor des Forschungsinstituts für öffentliches Recht an der eng mit dem Staatsrat verbundenen Chinese Academy of Social Sciences, den Wind offenbar nicht aus den Segeln nehmen. Mit leisem Nachdruck schließt die kurze Kommentierung seines Textes: „Der Verfasser glaubt, dass die Errichtung eines unabhängigen Gerichtssystems als Trend historischer Entwicklung vorgezeichnet ist.“

An dieser hoffnungsvollen Einschätzung kann man mit Gründen zweifeln. Die Lektüre einer Auswahl der seit 1979 publizierten Beiträge Li Buyuns hilft dabei, besser zu verstehen, wo heutige Rechtsstaatsdialoge anknüpfen können. Die 31 Aufsätze behandeln unter anderem Konzeptionen und theoretische Grundlegungen der Menschenrechte, Verfassung und Partei, Staatsbürgerschaft und Gewaltenteilung. Knappe Anmerkungen erlauben die Einordnung in den politischen Kontext und vervollständigen den Band zu einem facettenreichen Panorama chinesischer Rechtspolitik.

Ein zentrales Thema ist die Debatte um Rule of Law und Rule of Man, in der sich Li Buyun schon entschieden auf die Seite der Rechtsstaatlichkeit schlug, als dieser Begriff den Führungskadern in der Parteizentrale noch gänzlich suspekt war. Immer wieder betont der überzeugte Marxist, dass die Gräuel der Kulturrevolution eine Herrschaft der „besten Köpfe“ im Sinne Platons nachhaltig diskreditiert hätten.

Schlüsselmoment der Konstitutionalisierung Chinas ist für den Verfassungsrechtler das dritte Plenum des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, von dem im Dezember 1978 auf Initiative Deng Xiaopings der Anstoß nicht nur zu umfassenden wirtschaftlichen Reformen ausging, sondern auch zu einer Reform des Rechtswesens. „Wir benötigen ein umfassendes und vollständiges Gesetzeswerk von allerhöchster Autorität, welches strikt, zuverlässig und ohne Ausnahmen angewendet wird“, heißt es im Kommuniqué des Plenums. Anders als es bei Li Buyun zuweilen anklingt, stand die Neuordnung des Rechts als Zielvorgabe dabei nicht gleichrangig neben den Wirtschaftsreformen, sondern war dazu bestimmt, diesen zu dienen. Verbindliche Gesetze sollten die Fragmentierung staatlicher Zentralgewalt eindämmen und nach den Willkürexzessen der Kulturrevolution das Vertrauen in die Stabilität der Verhältnisse stärken.

Die sind heute fragiler als je, glaubt man Minxin Pei, dem Direktor des China-Programms des Carnegie Endowment for International Peace. Pei zeichnet ein düsteres Bild des Riesenreichs im Übergang. Hinter der Fassade ungebremsten Wachstums deckt er Korruption, hemmungslose Mitnahmementalität und ein rapides Abbröckeln der Zentralgewalt auf. Ohne politische Reformen werde das neoautoritäre Regime Hu Jintaos seine ökonomische Vitalität bald ausgeschöpft haben. In unvollendeten Reformprozessen steckengeblieben, drohe China zum „handlungsunfähigen Staat“ zu werden, dessen Schwäche auf die Welt übergreife. Statt als neue Supermacht könne sich China als Gigant entpuppen, „der es versäumt hat, die historische Gelegenheit zum Bruch mit seiner autoritären Vergangenheit zu ergreifen und der dafür einen hohen Preis zahlt“. Viel zu pessimistisch sei dieser Ausblick, kritisiert Andrew Nathan, Politikwissenschaftler an der Columbia University, in Foreign Affairs.1 Zu einem differenzierenden Blick mahnt auch der an der University of California lehrende Jurist Randall Peerenboom in seiner so profunden wie provokativen Analyse des chinesischen Wandels. Der bekennende Kommunitarist, der selbst einige Jahre als Wirtschaftsanwalt in Peking praktiziert hat, kritisiert westliche Versuche, ein Demokratie- und Menschenrechtsverständnis gen Osten zu „transplantieren“, das nur ein partikulares sei und die kulturellen Besonderheiten und Traditionen Chinas unberücksichtigt lasse. Für Peerenboom ist es kein Skandal, Wohlstand und innerer Sicherheit Priorität vor Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzuräumen. Über diese These soll und muss gestritten werden, am besten im west-östlichen Dialog. Peerenbooms scharfsinniges und hochaktuelles Buch sei dazu mit Nachdruck empfohlen. Er drängt seinen westlichen Leser, eigene Gewissheiten zu hinterfragen, indem er ihm die Vielschichtigkeit der chinesischen Transformationsprozesse eindringlich vor Augen führt.

Zum Weiterdenken verlockt auch das von Gregor Jansen herausgegebene Buch über die chinesische „High-speed-Urbanisierung“, das aus einem Stipendiatenprojekt der Kulturstiftung des Bundes in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Peking und dem ZKM Karlsruhe entstanden ist. Der faszinierende Band ist Ausstellungskatalog und Handbuch zugleich. In Bildern aus dem Lebensalltag der chinesischen Kapitale werden die rasanten Veränderungen der vergangenen Jahre greifbar. Die Texte vertiefen und erklären, sind aber auch Zeugnisse eines rücksichtslosen Wandels, der atemberaubend Neues ermöglicht, indem er – wie beim radikalen Abriss ganzer Altstadtviertel im Vorfeld von Olympia 2008 – Tradiertes zerstört.

Den Versuch einer Versöhnung chinesischer Tradition mit westlichem Staatsdenken unternimmt Guido Mühlemann in seiner Zürcher Dissertation. Wie der Rechtshistoriker selbst bekennt, bleibt sein Zugriff im Detail notwendig knapp, eröffnet aber neue Zugänge zu weitgespannten Fragestellungen der staats- und verfassungstheoretischen Rezeption, die von Rechts- und Politikwissenschaftlern hoffentlich engagiert aufgenommen und weitergeführt werden.

Beim Blick auf das postnationale Modell der EU jedenfalls ist es für chinesische Beobachter weniger die „Rechtsgemeinschaft“ im Sinne Hallsteins, die interessiert. Auch die Verfassungsdebatte und der endlose Streit ums „Demokratiedefizit“ finden deutlich weniger Beachtung als die Rolle Europas in der Welt, wie der Politikwissenschaftler Jing Men von der Freien Universität Brüssel in einer Zeitschriftenschau darlegt.2 Anders als die Beziehungen zu den USA sei Chinas Verhältnis zur EU „frei von geopolitischen Konflikten“, man sehe sich nicht als „strategischer Wettbewerber oder Feind“. Darum gewinnt die EU, größter Handelspartner Chinas, Attraktivität als Partner in einer multipolaren Weltordnung. Die Dreiecksbeziehung zwischen EU, USA und China erscheint als zukunftsträchtige Alternative zur amerikanischen Hegemonie. In ihre neue Rolle als globaler Akteur müssen sich die vielstimmigen Europäer allerdings auch hier erst noch hineinfinden.3

Die Europawissenschaften haben, so erfährt man bei Men, seit Beginn der neunziger Jahre in der Volksrepublik einen rasanten Aufschwung genommen. Mehr als 20 Institute und Zentren beschäftigen sich mit Politik, Recht und Wirtschaft der EU, zusätzlich zu zahlreichen auf einzelne europäische Länder bezogenen Forschungseinrichtungen. Dem besseren Kennenlernen soll auch die neue, von der Europäischen Kommission initiierte „EU-China Law School“ dienen, über deren Struktur und Konzept noch verhandelt wird. Wird man dort Europarecht studieren oder Rechtsreformen diskutieren? Werden neben Wett-bewerbsrecht Menschenrechtsfragen verhandelt? Oder bleibt Grundsätzliches im praxisbezogenen wirtschaftsrechtlichen Curriculum versteckt?

Jedenfalls werde die neue Rechtsakademie „zur Einbindung Chinas und seiner jungen Eliten in das globale Konzert beitragen“, ließ Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner unlängst in Berlin verlauten. Die „EU-China Law School“ sei ein Beispiel für den „Export von Rechtsstaatlichkeit“.4 Dass diese Wendung in selbstbewussten chinesischen Ohren als schriller Misston widerhallen könnte, das hätten die Referenten der Kommissarin bei der Politikwissenschaftlerin Nicole Schulte-Kulkmann nachlesen können. In ihrer akteurszentrierten Untersuchung grenzüberschreitender Rechtszusammenarbeit zwischen China, Deutschland und den Vereinigten Staaten beleuchtet sie ein von außenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen geprägtes Feld. Deutsche Rechtsberatung in der und für die Volksrepublik China werde, so ihr Fazit, ganz überwiegend von staatlicher Seite geleistet, durch die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Sie sei stark formalisiert, eng an die China-Politik der jeweiligen Bundesregierung gekoppelt und finde als Gesetzgebungsberatung vorwiegend auf höherer Ebene statt, im Dialog mit hochrangigen Vertretern der Ministerialbürokratie.

In den Vereinigten Staaten hingegen sei die Rechtszusammenarbeit mit China vor allem von nichtstaatlichen Akteuren getragen und erlaube daher ein flexibleres Eingehen auf die Bedürfnisse und Anfragen der jeweiligen Kooperationspartner, unberührt von der politischen Großwetterlage. Gegenüber der großen und ständig wachsenden Zahl im amerikanischen Recht versierter chinesischer Nachwuchsjuristen nimmt sich die Zahl der im Rahmen deutsch-chinesischer Wissenschaftskooperation ausgebildeten „Deutschrechtler“ verschwindend gering aus, auch wenn diese in der Universitäts- und Verwaltungslandschaft Chinas eng miteinander vernetzt sind. Das Erfordernis deutscher Sprachkenntnisse ist eine Barriere, die nur wenige überwinden, wenn sich alternativ die Möglichkeit zur Rechtsausbildung in der englischen Lingua Franca bietet. Angesichts des immer leichteren Zugangs zu amerikanischer Rechtsprechung und Literatur sei auch nicht davon auszugehen, dass die Initiative des DAAD zur Übersetzung von etwa 30 „Standardwerken“ deutscher rechtswissenschaftlicher Literatur großen Einfluss auf die Ausbildung chinesischer Juristen und damit auf die künftige Rechtspraxis haben werde.

Indessen werden auch die „staatsgetragenen“ deutschen Initiativen und Hochschulkooperationen in wachsendem Maße durch private Akteure ergänzt. Bereits zum vierten Mal organisiert die Hamburger Bucerius Law School in diesem Sommer zusammen mit der Chinese Academy of Social Sciences in Peking einen zweiwöchigen Kurs für Nachwuchsjuristen zur Einführung ins internationale und europäische Wirtschaftsrecht. Wie im vergangenen Jahr könnten sich dabei vermeintlich enge ökonomische Perspektiven wieder zu grundsätzlichen Diskussionen über Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte weiten. Erfolgreiche Rechtszusammenarbeit zeichnet sich vor allem durch die Herausbildung von Netzwerken deutscher und chinesischer, amerikanischer und chinesischer Juristen aus, in denen diese selbst zu Schnittstellen für Kontakte zwischen Institutionen werden können. In solchen Netzwerken sei es, so Nicole Schulte-Kulkmann, aufgrund gleichen professionellen Hintergrunds möglich, sensible Themen offen und konstruktiv zu besprechen. Man kann das übrigens auch mit Li Buyun tun, der seit 1988 mehrfach als Gast an der Columbia Law School in New York geforscht hat. In seinen Aufsätzen kommt die EU allerdings so wenig vor wie die postnationale Konstellation. Das -überrascht den westlichen Leser, denn schließlich sind es nicht zuletzt die aktuellen Transformationen klassischer Staatlichkeit, die uns China näher rücken und seine ungewisse Zukunft zum weltbürgerlichen Anliegen machen.

Li Buyun: Constitutionalism and China. Peking: Law Press China 2006. 521 Seiten, 98,00

Yuan Minxin Pei: China’s Trapped Transition. The Limits of Developmental Autocracy. Cambridge, Mass.:Harvard University Press 2006, 306 Seiten, 45,00 $

Randall Peerenboom: China Modernizes. Threat to the West or Model for the Rest? Oxford/New York: Oxford University Press 2007, XV und 406 Seiten, 35,00 $

Gregor Jansen (Hrsg.): Totalstadt. Beijing Case. High-Speed Urbanisierung in China. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2006, 416 Seiten, 38,00 €

Guido Mühlemann: Chinas Experimente mit westlichen Staatsideen. Eine rechtshistorische und zeitgeschichtliche Untersuchung zur chinesischen Rezeption europäischerStaatsideen. Zürich/Basel/Genf: Schulthess 2006, 419 Seiten, 85,00 Sfr

Nicole Schulte-Kulkmann: Rechtszusammenarbeit mit der Volksrepublik China. Deutsche und amerikanische Initiativen im Vergleich. Göttingen: V & R unipress 2005, 344 Seiten, 56,00 €

Alexandra Kemmerer, geb. 1972, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg.
 

  • 1Andrew J. Nathan: Present at the Stagnation, Foreign Affairs, Juli/August 2006, S. 177–182, insbesondere S. 180.
  • 2Jing Men: Chinese Perceptions of the European Union: A Review of Leading Chinese Journals, European Law Journal, November 2006, S. 788–806
  • 3Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament – Die Beziehungen EU-China: Mit der engeren Partnerschaft wächst die Verantwortung, KOM (2006), 631, 24.10.2006. Vgl. auch Pierre Baudin: Chine–Union Européenne: une certitude, des questions, Revue du Marché commun et de l’Union européenne, Januar 2007, S. 27–31.
  • 4Benita Ferrero-Waldner: Europa eine Seele geben, SPEECH/06/749, 18.11.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 146 - 150.

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