Buchkritik

01. Juli 2019

Putins Vermächtnis

Auch wenn der Präsident über seinen Zenit ist – sein System aus Korruption, informellen Strukturen und Rechtlosigkeit wird bleiben

Beim Blick in die aktuelle Literatur über Putins Russland wird zweierlei deutlich. Zum einen, dass der russische Langzeitpräsident seinen Machthöhepunkt überschritten hat, zum anderen, dass er und sein politisches System Teil des globalen Macht- und Wirtschaftssystems geworden ist. Putin hat Russland politisch wie ökonomisch stabilisiert und als relevanten Player auf die Weltbühne zurückgeführt. Gleichzeitig ist das „System Putin“ sehr erfolgreich darin, die Diskurse in den USA und der EU zu manipulieren sowie Korruption und Vetternwirtschaft zu exportieren.

Putin als Judoka

Wie Angela Stent, Professorin an der Georgetown Universität in Washington DC, in ihrem Buch „Putins Russland“ deutlich macht, war der Präsident von Anfang an entschlossen, nicht nur die Kontrolle des Staates über die Gesellschaft wieder herzustellen, sondern auch, Russland als Großmacht erneut zu etablieren.

Trotz wirtschaftlicher und militärischer Defizite hat Putin der Autorin zufolge diese Ziele erreicht. Dabei setze er in wachsendem Maße auf die Konfrontation mit den USA und der EU. Für Stent handelt der Präsident wie ein Judoka, der als vermeintlich Schwächerer auf seine innere Stärke und Willenskraft baue, um einen größeren Gegner zu besiegen. Es gehe darum, den Widersacher aus dem Gleichgewicht zu bringen; darum, Momente der Unsicherheit zu nutzen, um ihn zu schlagen. Eben das sei das Erfolgsrezept Putins im Umgang mit dem Westen: Er nutze geschickt die innere Schwäche des Westens, die wachsende Spaltung in den transatlantischen Beziehungen und die Unentschlossenheit vieler westlicher Politiker, um seine Schwächen auszugleichen und zu punkten, sei es im Krieg gegen Georgien 2008 oder in Syrien seit 2015.

Es gibt fast kein Thema, das die Autorin in ihrem mehr als 500 Seiten umfassenden Werk auslässt.

Zwar kommt das Buch zuweilen rein deskriptiv daher und handelt viele Entwicklungen verkürzt ab, anstatt einige zentrale Stränge zu vertiefen. Dennoch merkt man ihm stets die große Expertise einer Autorin an, die sich als eine der wichtigsten amerikanischen Russlandexpertinnen seit Jahrzehnten mit Russland und Putin beschäftigt – sowohl historisch als auch realpolitisch.

Angela Stent zufolge geht es dem Präsidenten darum, Kontinuität mit Blick auf die russische Geschichte zu wahren. Putin stehe für die Rückkehr Russlands zum Autoritarismus nach einer kurzen Phase der Reformen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre. Es ist für Stent eine Illusion zu glauben, dass Russland sich im 21. Jahrhundert deutlich verändern oder gar demokratisieren werde.

Putins Russland hat seine Rolle auf der Weltbühne als Führungsmacht der konservativen Internationale definiert, die Volksaufstände gegen autoritäre Führungen (Farbenrevolutionen) ablehnt und sich als Gegenmodell zur liberalen Demokratie positioniert. Dabei orientiert sich Putin spätestens seit seiner Wiederwahl 2012 nicht mehr am europäischen Modell wie sein großes Vorbild Peter der Große, sondern an der autoritären Modernisierung des chinesischen Staatskapitalismus.

Für westliche Politiker macht das aus Sicht der Autorin eine radikale Neuausrichtung des Umgangs mit Russland nötig. Der Westen solle eine realistische Russlandpolitik betreiben, die Moskau nicht isoliere, sondern da, wo es möglich ist (Syrien, Terrorismus, Ukraine, Rüstungskontrolle) besser anbinde. Sie plädiert für strategische Geduld mit Putin einerseits und verbesserte Abwehrmechanismen gegen russische Übergriffe andererseits. Für sie ist es kein Widerspruch, ein aggressives und antidemokratisches Russland zu beschreiben und gleichzeitig für Kooperation zu werben. Doch kann eine solche Anbindung bei Themen von gemeinsamem Interesse tatsächlich zu einer berechenbaren Kooperation führen? Hier sind Zweifel anzumelden.

Der Westen als Feindbild

Golineh Atai, ehemalige ARD-Korres­pondentin in Moskau (2013–2018), zeichnet in ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ einen russischen Präsidenten, der zwar sich zwar rhetorisch flexibel zeigt, im Inneren aber der KGB-Agent geblieben ist, der dem Westen als zentralem Feindbild misstraut. Die systematische Etablierung eines antiwestlichen, rechtsextremen bis rechtskonservativen Milieus mit massivem Einfluss auf die russische Innen- und Außenpolitik habe vor allem seit Putins dritter Amtszeit 2012 rasche Fortschritte gemacht und ihre vorläufigen Höhepunkte in der Annexion der Krim und Russlands Intervention in Syrien erreicht.

Wie die Autorin ausführt, vergifteten die wirtschaftlichen und politischen Milieus aus dem Umfeld des Präsidenten Russlands Politik und Gesellschaft in wachsendem Maße mit reaktionärem und antidemokratischem Gedankengut. Nach außen spiegele sich das in der hybriden und zum Teil privatisierten Kriegsführung im Osten der Ukraine, im Nahen Osten, in Afrika und Venezuela wider.

Damit exportiere Putins Russland erfolgreich Korruption, Aggression und Zynismus über die eigenen Grenzen hinaus. Atai zeichnet die ­Lebenslinien der Personen nach, die bereits auf dem Balkan in den neunziger Jahren sowie in Tschetschenien gekämpft haben und dann als Söldner im Donbas und Syrien oder gar in Afrika wieder auftauchen.

Die systematische Etablierung eines Freund-Feind-Denkens durch russische Medien und Rhetorik ziele nicht nur auf die USA und die NATO als äußere Feinde, sondern auch auf innere Gegner wie russische Oppositionelle, Atheisten, Schwule und Lesben. Dabei gebe es keine ideologischen Barrieren zwischen Nationalisten, Orthodoxen und Kommunisten. Die systematische Verbreitung von Lügen als Instrument der Beeinflussung, Denunziation und Zersetzung des politischen Gegners ist vor diesem Hintergrund eine logische Konsequenz.

Wer sein eigenes Volk mit Wahlfälschungen, Ideologieproduktion, Diskreditierung von Opposition und Medien in eine gelenkte Demokratie steuere, der glaubt laut Atai fest daran, dass alle gesellschaftlichen Entwicklungen von oben gelenkt werden. Das lasse sich auch als eine Schwäche des Systems Putin auslegen: Indem die Gesellschaft als eigenständiger Player unterschätzt werde, stimmten immer wieder Prognosen über politische Dynamiken nicht mit den realen Ereignissen überein. Das führe dazu, dass die russische Führung überrascht werde – wie im Falle der Massendemonstrationen 2011/12.

Westliche Rechtskonservative, aber auch Linke hätten maßgeblich dabei geholfen, reaktionäre Ideen und Narrative russischer Staatsmedien zu verbreiten. Der Aufstieg populistischer und rechtsextremer Parteien ermögliche es dem Kreml, den Gegner von innen weiter zu schwächen. Atai vergleicht Putin und Trump, die beide für staatliche Autorität und uneingeschränkte Souveränität stünden. Beide verträten eine Identitätspolitik, die Menschen nicht mehr als Individuen mit gleichen universellen Rechten sehe, sondern als Teil von Kulturen und Völkern. Beide schürten Angst- und Feindbilder.

Der deutsche Ansatz eines kontinuierlichen Dialogs trifft in Putins dritter Amtszeit auf eine russische Führung, die eine „Kultur der Dialogverweigerung“ pflegt. Auch wenn die Deutschen sich ein anderes Verhältnis zu Russland wünschten, so führe das begrenzte Wissen über die Komplexität russischer Politik zu falschen Annahmen und Hoffnungen und bilde den Nährboden für den Erfolg russischer Propaganda. Unter Putin 4.0 werde sich Russland nicht verändern und nicht öffnen. Als Antwort auf diese Herausforderung empfiehlt die Autorin, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu bewahren und der Verbreitung von Lügen und Propa­ganda entschlossen entgegenzutreten.

Drei Machtzirkel

Für den Ökonomen und Senior Fellow am Atlantic Council Anders Aslund hat Russlands Regierung ihre Reformbemühungen in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft aufgegeben. Putin stehe für eine personalisierte, autoritäre Herrschaft, die auf Machterhalt und Selbstbereicherung abziele. Mit Hilfe loyaler Freunde habe der Präsident in seiner fast 20-jährigen Amtszeit drei Machtzirkel aufgebaut, die sein System zusammenhielten: Staat, Staatsunternehmen und „Kumpelfirmen“.

Mit einem politischen System der Machtvertikale und der Kontrolle über alle wichtigen Organe des Staates einschließlich des Rechtssystems habe Putin die Basis dafür geschaffen, wichtige Staatsfirmen mittels der Einsetzung von Vertrauten zu kontrollieren. Dabei sei der russische Staatskapitalismus an Wettbewerb, Investitionen, technologischer Entwicklung oder Produktivität nicht weiter interessiert. Staatsfirmen dienten als Quelle von Macht und Selbstbereicherung.

Der dritte Machtzirkel umfasst private Firmen, die sich im Besitz von Putins Kumpeln aus seiner Zeit im KGB und in der Stadtverwaltung von Sankt Petersburg befinden: Gennady Timchenko, die Brüder Arkady und Boris Rotenberg oder Juri Kovalchuk. Sie sind aus Sicht Aslunds nicht nur korrupt, sondern kleptokratisch. So habe Arkady Rotenberg mit seinen Firmen die Pipeline Nord Stream 1 gebaut, und er sei auch der wichtigste Vertragspartner für den Bau der Infra­struktur für die Olympischen Spiele in Sotschi 2014 gewesen. Korruption und Ausschreibungen ohne Wettbewerb hätten die Kosten vervielfacht – bis zum Dreifachen der Marktpreise.

Für Anders Aslund kommt ein viertes Element zu diesem Macht- und Bereicherungssystem hinzu, das entscheidend für den Fortbestand des Putinschen Staatskapitalismus sei: die britisch-amerikanischen Offshore-­Zonen. Hier werde das illegal erworbene Geld gewaschen, in den regulären Geldkreislauf gebracht und dann in Immobilien und die reale Wirtschaft investiert. Aslund schätzt den Offshore-Reichtum Russlands auf 800 Milliarden US-Dollar, wovon rund die Hälfte auf private Unternehmer und die andere Hälfte auf Regierungsbeamte entfielen. Dieses System ermögliche es russischen Beamten und Unternehmern, ihre illegal angeeigneten Reichtümer zu legalisieren und damit das System Putin zu stabilisieren. Für Aslund liegt der Schlüssel dieses kleptokratischen Systems im schwachen Eigentumsrecht. Russland sei ein patrimonialer Staat mit schwächeren Eigentumsrechten, als es sie in vielen mittelalterlichen Feudalstaaten gegeben habe. Hier hänge alles von den Launen des Zaren ab.

Vieles in diesem exzellent recherchierten Buch ist bekannt, aber gerade der Part zur Bedeutung der Offshore-Zonen zeigt beeindruckend, wie wichtig der Zugang zur globalen Weltwirtschaft für das System Putin ist – und wie westliche Banken, Anwälte und Regierungen dieses Korruptionssystem unterstützen. Deutlich wird, warum das System Putin im Unterschied zur Sowjetunion kein Interesse an ökonomischer Isolation hat.

Gleichzeitig macht es nochmals deutlich, wie das in den 1990er Jahren gewachsene und unter Putin perfektionierte Korruptions- und Selbstbereicherungssystem ein globales Phänomen geworden ist, das westliche Volkswirtschaften durchdrungen und infiziert hat. Auch wenn Putin seinen politischen Horizont überschritten hat – das von ihm perfektionierte System von Korruption, informellen Strukturen und Rechtlosigkeit wird weiter Bestand haben.

Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist. Berlin: Rowohlt Verlag 2019. 384 S.,18,00 Euro

Angela Stent: Putins Russland. Hamburg: Rowohlt Verlag 2019. 576 Seiten, 25,00 Euro

Anders Aslund: Russia’s Crony Capitalism. The Path from Market Economy to Kleptocracy. New Haven: Yale University Press 2019. 336 S., Englisch. 31,00 Euro

Dr. Stefan Meister, ist seit Juli 2019 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung im Südkaukasus mit Sitz in der georgischen Hauptstadt Tiflis.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2019, S. 128-141

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