Internationale Presse

29. Apr. 2024

Presseschau Frankreich: Macrons Sinneswandel

Wäre der französische Präsident wirklich bereit, Bodentruppen in die Ukraine zu ­entsenden? Äußerungen zur „grenzenlosen“ Unterstützung Kiews und nachfolgende Debatten finden einen breiten Niederschlag in den französischen Medien. 

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Die Verwandlung Emma­nuel Macrons „von der Taube zum Falken“ beschäftigt die französische Presse. Wie Le Monde schreibt, steckt hinter der Bodentruppen-Äußerung bei der Pressekonferenz am 26. Februar 2024 im Élysée-Palast mehr als nur eine Haltung der strategischen Ambiguität. 

So soll der Präsident bereits am 21. Februar dieses Jahres bei einem Empfang nach der posthumen Ehrung der Widerstandskampfgruppe um Missak Manouchian über die Möglichkeit einer Truppenentsendung in die Ukraine sinniert haben – mit einem Glas Whisky in der Hand. „Wie auch immer, im kommenden Jahr werde ich wohl ein paar Jungs nach Odessa schicken müssen“, sagte der Staatschef vor einer Handvoll Gästen. Der Bericht ist vom Élysée-Palast nicht dementiert worden. 

Anlässlich der Parlaments­debatte über das bilaterale Sicherheitsabkommen mit der Ukraine hat Macron die Repräsentanten der im Parlament vertretenen Parteien im Élysée-Palast empfangen. Bei diesem Anlass sagte er, für die Unterstützung der Ukraine gebe es „keine Grenzen“. Dies verstärkte den Eindruck, der Präsident ziehe tatsächlich in Erwägung, französische Soldaten in die Ukraine zu entsenden. 


Reaktionen der Opposition

Die Presse widmete den bestürzten Reaktionen der Opposition viel Raum. „Das war eine Übung, um zu bestätigen und zu bekräftigen, dass fortan alles möglich ist, auch die Entsendung von Truppen“, sagte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Fabien Roussel. „Macron will Frankreich in eine kriegerische Eskalation schicken“, warnte Roussel. Der Präsident habe auf militärische Karten gezeigt, um den Eindruck eines bevorstehenden russischen Durchbruchs bis Kiew und den Fall Odessas zu erwecken, so der KPF-Chef. 

Der Vorsitzende der rechtsbürgerlichen Republikaner (LR), Éric Ciotti, bezeichnete die Haltung des Präsidenten als „unzeitgemäß, unangemessen und sogar unverantwortlich“. Ciotti sagte, er habe Macron in der vertraulichen Runde darauf hingewiesen, dass die französische Armee nicht über die Mittel verfüge, um ein militärisches Kräftemessen mit Russland einzugehen. 

Der Präsident soll sich diese Vorhaltung von einer Partei, die jahrelang den Verteidigungshaushalt gekürzt habe, verboten haben. „Emmanuel Macron hat sich keinen Zentimeter bewegt“, sagte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Olivier Faure. „Der Präsident hat keinerlei strategische Ambiguität geschaffen, als er erklärte, dass auch die Entsendung von Bodentruppen nicht ausgeschlossen sei. Er hat Putin in voller Klarheit vorgeführt, wie gespalten wir sind, und das in einem Augenblick, in dem die Ukraine unsere Unterstützung braucht“, sagte Faure. 

Der Vorsitzende des Rassemblement National (RN), Jordan Bardella, berichtete, dass es einen Konsens am Tisch gegeben habe, die Ukraine zu unterstützen. Er mahnte, „es muss Grenzen geben, wenn eine der Hauptkriegsparteien eine Atommacht ist und Frankreich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht“. Die Haltung des Präsidenten sei zutiefst beunruhigend. „Der Präsident der Republik ist bereit, die Ukraine grenzenlos und, wie es scheint, bis zum Äußersten zu unterstützen. Für ihn gibt es keine Grenze und keine rote Linie“, kritisierte Bardella. 

Der Präsident habe wiederholt gesagt, dass er keine Grenzen setzt, dass man die Ukraine unterstützen muss, „egal, was es kostet“, kritisierte Manuel Bompard für die Linkspartei La France insoumise. Die grüne Partei­­chefin Marine Tondelier schilderte, Macron habe sich in einer „virilen Pose“ des Kriegsherrn gefallen. „Es ist außerordentlich beunruhigend, wenn ein Präsident gegenüber Putin beteuert, der wie wir über Atomwaffen verfügt, es komme darauf an, keine Grenzen aufzuzeigen. Unter Atommächten müsste man stattdessen besonders vorsichtig sein“, sagte die Grünenpolitikerin.


Nicht Kriegspartei werden

Verteidigungsminister Sébas­tien Lecornu hat kurz darauf, am 8. März, im Frühstücksfernsehen die Vorstellung zurückgewiesen, französische Kampftruppen auf ukrainischen Boden zu entsenden. Frankreich sei nicht Kriegspartei und wolle auch nicht Kriegspartei werden. Doch die Äußerungen des Armeeministers haben die Befürchtungen vor einer Ausweitung des Krieges und einer direkten Einbindung der französischen Armee nicht besänftigt. 

Das liegt auch an der verfassungsrechtlichen Vormachtstellung des Präsidenten. Artikel 15 besagt: „Der Präsident der Republik ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er führt den Vorsitz in den obersten Räten und Komitees der nationalen Verteidigung.“ Auslandseinsätze können vom Präsidenten ohne vorheriges Votum der Volksvertretung beschlossen werden. Der Präsident muss das Parlament lediglich innerhalb von drei Tagen über seine Entscheidung informieren.

Er kann eine Parlamentsdebatte ansetzen, aber auch dies liegt in seinem Ermessen. Macrons Vorgänger François Hollande etwa bewirkte, dass die Nationalversammlung und der Senat über den Einsatz der französischen Luftstreitkräfte im Irak im Rahmen der ­Operation Chammal am 24. September 2014 diskutierten. Am 25. September 2015 fand auf sein Geheiß eine Parlamentsdebatte über die Luftschläge in Syrien statt. Aber diese Debatten sind ohne bindende Abstimmungen.

Erst wenn ein Auslandseinsatz länger als vier Monate dauert, wird das Parlament mit der Verlängerungsfrage befasst und stimmt darüber ab. Die Entscheidungen des Präsidenten werden also trotz einer Verfassungsänderung 2008, welche die parlamentarische Kontrolle bei verlängerten Auslandseinsätzen verbessert hat, kaum von den gewählten Volksvertretern eingehegt. Das ist umso problematischer, als Macron seit Juni 2022 nicht mehr über die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt. 

Wie aber erklärt sich die Metamorphose Macrons, der in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament am 9. Mai 2022 vor einer „Demütigung“ oder „Revanche-Geist“ gegenüber Russland gewarnt hatte und noch im Juni 2022 in der Regionalpresse forderte: „Wir dürfen Russland nicht demütigen“? Für die meisten Franzosen bleibt der Sinneswandel unverständlich, zumal das Massaker in Butscha und andere Kriegsverbrechen im Frühjahr 2022 ihn sichtlich unberührt ließen. 

Innenpolitisches Kalkül kann nicht hinter Macrons neuer Positionierung stehen, denn Umfragen belegen mit großer Regelmäßigkeit, dass eine breite Mehrheit der Franzosen eine Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine ablehnt. In der innenpolitischen Debatte überwiegen die kritischen Stimmen. So hat der frühere rechtsbürgerliche Verteidigungsminister Hervé Morin (2007–2010) Macron vorgehalten, wie ein Narziss zu handeln und Krieg zu spielen, weil das in seinen Möglichkeiten läge. 

Ähnlich kritisch äußerte sich der Abgeordnete François Ruffin von der Linkspartei La France ­insoumise, der den Zickzackkurs von Macron beklagte, der dazu führe, dass die Franzosen ihm nicht folgen könnten. Ruffin erinnerte daran, dass der Präsident im Mai 2017 Wladimir ­Putin in Versailles empfing und im August 2018 in seiner Sommer­residenz an der Côte d’Azur, im Fort de Brégançon, um mit ihm eine gemeinsame Sicherheits­partnerschaft für Europa zu schmieden, „obwohl die Krim bereits überfallen und Anna Politkowskaja und andere Oppositionelle ermordet waren“. 


Geopolitisches Motiv

Interessant ist, wie der Élysée-Palast die Positionierung Macrons rechtfertigt. Für den Präsidenten sei der Ausgang des Krieges „existenziell“ für Europa. Zugleich wird dem russischen Regime eine größere Aggressivität gegenüber Frankreich attestiert – Cyberattacken, aber auch Drohgebärden gegenüber französischen Kampfflugzeugen, die im internationalen Luftraum über dem Schwarzen Meer patrouillierten, und andere unfreundliche Gesten wie die Beschimpfungen durch Kreml-Propagandisten im russischen Fernsehen. 

Doch neben der persönlichen Verärgerung über Putins Lügen und Angriffe scheint Macrons Haltung von einem geopolitischen Motiv bestimmt zu sein. Frankreich sieht seine militärische Vormachtstellung in der EU durch die Umwälzungen im Zuge des Ukraine-Krieges herausgefordert. Das konnte man schon an den pikierten Reaktionen auf die Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz Ende Februar 2022 und die Karls-Universitäts-Rede in Prag im August 2022 ablesen.


Rolle als Vordenker Europas

Die Ankündigungen des Bundeskanzlers, das Schwergewicht der Europäischen Union werde sich spätestens mit der EU-Erweiterung nach Osten verschieben und Deutschland wolle die stärkste konventionelle Armee Europas aufbauen, haben bei Macron zu Irritationen geführt. Die Vorstellung, Deutschland könne aufgrund seiner zentralen geografischen Lage – und seiner finanziellen Möglichkeiten – zur alleinigen Führungsmacht Europas aufsteigen, weckte allent­halben Unbehagen in Paris. 

Dahinter stand auch der Ärger darüber, dass Scholz Macron den Rang als Ideengeber für Europa ablaufen könnte. Macron beansprucht seit der Sorbonne-Rede im September 2017 die Rolle des europäischen Vordenkers. Noch mehr aber will er die implizite Aufgabenteilung bewahren, die Deutschland eine wirtschaftliche Führungsrolle und Frankreich als Atommacht mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat das militärische Leadership in der EU zubilligte. 

Anfang Juni 2023 holte Macron zu einem ersten verbalen Gegenschlag in Bratislava aus, der als Antwort auf die Prager Rede des Bundeskanzlers verstanden werden sollte. In seiner Rede deutete er – noch etwas verklausuliert – einen Kurswechsel an. Vor dem NATO-Gipfel in Vilnius offenbarte er, dass Frankreich fortan eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine anstrebe. Zuvor waren sich die wechselnden deutschen und französischen Regierungen stets darüber einig gewesen, einen NATO-Beitritt der Ukraine mit Rücksicht auf Russland hinauszuschieben. 

Das stärkere Engagement in der NATO, die er Ende 2019 noch für „hirntot“ erklärt hatte, lässt sich auch am französischen Einsatz in Rumänien ablesen. Im Bewusstsein, dass Bundeskanzler Scholz aufgrund des pazifistischen Flügels seiner Partei sowie der parlamentarischen Checks and Balances ihm nicht folgen kann, spielte er diese Karte aus. Am 12. Juni 2023 bei einem Treffen des Weimarer Dreiecks im Élysée-Palast konfrontierte Macron den Bundeskanzler mit seinem Kurswechsel in Anwesenheit des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, bei dem dieser Schritt auf Anerkennung stieß. 

Macron nahm in Kauf, das deutsch-französische Verhältnis zu belasten. Die Unstimmigkeiten sind Teil einer ausführlichen Presseberichterstattung in Frankreich. Die meisten Kommentatoren kommen jedoch zu dem Schluss, dass eine „Scheidung“ unmöglich sei. 


Zustand der Armee

Zu einem weiteren wichtigen Thema, das in der Öffentlichkeit debattiert wird, hat sich der Zustand der französischen Streitkräfte entwickelt. Während in Deutschland, ausgehend von der Alarmmeldung „Mehr oder weniger blank“ des Heeresinspektors, schon frühzeitig darüber diskutiert wurde, rühmte sich Frankreich noch, eine der besten Armeen Europas zu haben. 

Doch die Selbstsicherheit ist einer kritischen Bestandsaufnahme gewichen, bei der das Buch des Journalisten und Militärexperten Jean-Dominique Merchet „Sind wir bereit für den Krieg“ eine wichtige Rolle spielt. Seine Schlussfolgerung ist dabei an Eindeutigkeit nicht zu überbieten: Nein, Frankreich ist nicht bereit für einen Krieg. 

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 124-127

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Michaela Wiegel

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Michaela Wiegel ist Frankreich-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 

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