Internationale Presse

24. Juni 2024

Presseschau Brasilien: Ein Pferd auf dem Dach

Die Überschwemmungen im Süden Brasiliens dominierten zuletzt die Be­richt­erstattung über das Land. ­Seriöse Medien sprachen von Klimatragödie oder Umweltrassismus und machten politische Versäumnisse und die Erderwärmung als Ursachen aus. Inmitten des ­Unglücks gab es auch die Geschichte einer spektakulären Rettungsaktion – und so wurde ein Pferd zum Sinnbild der Katastrophe.

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So gut wie alle Medien in Brasilien berichteten in den vergangenen Wochen vorrangig über ein Thema: die Überschwemmungen in Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens, der etwas größer ist als das alte Westdeutschland, um die Dimensionen einmal deutlich zu machen. Die Überschwemmungen waren, wenn man nach der Zahl der Opfer geht, eine der drei schlimmsten Umweltkatasttrophen Brasiliens der vergangenen 30 Jahre. Rund 170 Menschen kamen ums Leben, mehr als 80 galten Ende Mai immer noch als vermisst und mehr als zwei Millionen Menschen wurden auf irgendeine Weise geschädigt. 

Interessant ist, dass einige Medien, darunter die staatliche Nachrichtenagentur Agência Brasil, den relativ neuen Begriff „­Klimatragödie“ (­tragédia climática) nutzten, um den Zusammenhang zwischen der Katastrophe und der Erderwärmung zu betonen. 

Auch ein zweiter neuer Begriff fand Einzug in die Berichterstattung großer Medien: „Umweltrassismus“ (racismo ambiental). Er wurde beispielsweise von Congresso em Foco benutzt, einer Webseite aus Brasília. „Die schwarze Bevölkerung von Rio Grande do Sul ist am stärksten vom Klimawandel betroffen“, hieß es dort. „Viele Schwarze leben an Orten am Rande der Gesellschaft, die besonders durch Erdrutsche gefährdet sind. Die dortige Infrastruktur zur Bewältigung der vorhergesagten Tragödie ist unzureichend.“


Investigatives Potenzial

Insgesamt verdeutlichten die unterschiedlichen Schwerpunkte und Perspektiven der Bericht­erstattung, wie vielfältig Brasiliens Medienlandschaft heute ist und welches investigative Potenzial in ihr steckt. 

Die Katastrophe in Rio Grande do Sul nahm Ende April ihren Lauf, als dort ungewöhnlich starke Regenfälle niedergingen. Der Starkregen wurde ausgelöst durch ein Tief mit extrem viel Feuchtigkeit, die aus dem Amazonasbecken, dem vom El-Niño-Effekt aufgewärmten Pazifik sowie dem Südatlantik herangetragen worden war. Das Tief konnte nicht abziehen, weil es wiederum von ungewöhnlich starker Hitze über Brasiliens Zentrum und Südosten blockiert wurde. So erklärte BBC News Brasil seinen Online-Lesern die klimatischen Hintergründe der Katastrophe. 

Der nun folgende tagelang andauernde Starkregen mit Hagel und Sturm ließ ­zahlreiche ­Flüsse über die Ufer treten, Hänge rutschten ab, Ortschaften wurden unter Wasser gesetzt. Die Millionenstadt Porto Alegre, die im Mündungsgebiet des Rio Jacuí sowie am großen Guaíba-
See liegt, wurde großflächig überschwemmt, der Flughafen schloss, der Strom fiel aus und das Trinkwasser wurde knapp. Rund 5,30 Meter stand das Wasser an einigen Stellen in Porto Alegre hoch. 

Laut Gazeta Gaucha, einer Online-Publikation aus Porto Ale­gre, waren 441 der 497 Städte in Rio Grande do Sul von Hochwasser betroffen. Die Regierung des Bundesstaats rief den Notstand aus, das Militär wurde eingesetzt und die Bundesregierung unter Präsident Luiz Inácio Lula da ­Silva versprach schnelle Hilfe. 


Sondersendungen

Alle großen nationalen sowie internationalen Medien, etwa die ARD, entsandten Berichterstatter, die in Booten oder Rettungshubschraubern unterwegs waren. Die größte Nachrichtensendung Brasiliens, Jornal Nacional von TV Globo, die allabendlich außer sonntags ausgestrahlt wird, entsandte den Nachrichtensprecher William Bonner, so etwas wie der (noch jüngere) Ulrich Wickert des Landes. 

Es gab Sondersendungen und Spendenaufrufe, wie man es auch aus Deutschland nach Katastrophen kennt. Geschichten über spektakuläre Rettungen fanden viel Anklang und sollten die menschliche Seite der Katastrophe verdeutlichen – beziehungsweise die tierische: Nachdem ein Kamerateam aus einem Hubschrauber ein Pferd auf einem von Wasser umspülten Hausdach gefilmt hatte, wurden die Bilder in den sozialen Netzwerken millionenfach angesehen. Das Pferd habe seit mehreren Tagen nicht gefressen, meldete CNN Brasil.

Verschiedene Influencer, darunter der politisch linke Gamer Felipe Neto, der allein auf Youtube 44 Millionen Abonnenten hat, setzten sich für die Rettung des Pferdes ein. Es wurde auf den Namen „Caramelo“ getauft. Janja Silva, die Ehefrau von Präsident Lula, gab auf der Plattform X bekannt, dass sie den Militärkommandeur der Einsatzkräfte in Rio Grande do Sul um Hilfe gebeten habe. Schließlich holten Feuerwehrleute Caramelo vom Dach. 

In Brasilien wurde das einsame Pferd auf dem Hausdach zum Sinnbild der Katastrophe. Die Sendung „Fantástico“ von TV Globo, die jeden Sonntagabend drei Stunden lang investigative und bunte Reportagen ausstrahlt, brachte einen neunminütigen Bericht über Caramelo und andere gerettete Tiere. Brasiliens Öffentlichkeit mag solche Geschichten, die ein wenig Erleichterung inmitten des Unglücks bieten.


Kritische Nachfragen

Konzentrierte sich die Berichterstattung zunächst auf die unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe – also Opferzahlen, Niederschlagsmengen, Pegelstände, Schäden –, wurde bald kritischer nachgefragt. Die Nachrichtenseite G1 des Globo-Medienkonzerns, dem größten Brasiliens, wollte wissen, warum das Hochwasserschutzsystem von Porto Alegre nicht funktioniert habe, das in den 1970er Jahren gebaut wurde. „Das System, das für Überschwemmungen von bis zu sechs Metern Höhe ausgelegt ist, wurde nicht instand gehalten“, folgerte das Medium. 


Politisches Versagen

Die Zeitschrift Veja aus São Paulo spitzte es zu: „Wenn das Schutzsystem funktioniert hätte, wäre Porto Alegre jetzt trocken.“ Die einflussreiche Zeitschrift zitierte die Architektin Mima Feltrin, die die Tragödie „vorhersehbar“ nannte. Seit mehr als 20 Jahren sei klar, dass die Wahrscheinlichkeit für extreme Überschwemmungen in Rio Grande do Sul sehr hoch sei, sagte sie. Die Trägheit der Behörden sei daher politisches Versagen. „Wir geben etwa 14 Mal mehr für den Wiederaufbau als für die Verhinderung von Tragödien aus.“ 

Tatsächlich sind extreme ­Wetterereignisse in Brasilien keine Neuigkeit mehr – was natürlich auch mit der Größe des Landes und seinen unterschiedlichen Klimazonen zusammenhängt. Besonders im westlichen und südlichen Zentrum ist Brasilien von Hitzewellen und Dürreperioden betroffen. In diesen Landesteilen werden in großem Stil Lebensmittel für den Export produziert: Soja, Mais, Fleisch, Zuckerrohr.

Der auf die Agrarindustrie ausgerichtete TV-Sender Canal Rural aus São Paulo berichtete auf seiner Internetseite besorgt über eine Datenauswertung des Weltraumforschungsinstituts Inpe von 2023. Unter dem Titel „Hitzewellen haben in 60 Jahren um 520 Prozent zugenommen“ heißt es: „1961 verzeichnete Brasilien durchschnittlich nur sieben Hitzetage pro Jahr. 2020 lag diese Zahl bei 52 Tagen.“ 

Hingegen sei der Süden Brasiliens laut Canal Rural von immer heftigeren Regenfällen bedroht: „Zwischen 1961 und 1990 betrug die maximale Niederschlagsmenge in Südbrasilien innerhalb von fünf Tagen etwa 140 mm. Dieser Wert ist auf durchschnittlich 160 mm angestiegen.“

Die Politik hätte also Bescheid wissen und Vorbereitungen treffen müssen. Viele Medien begannen daher nachzuforschen, was in Rio Grande do Sul getan wurde, um die Folgen von Starkregen abzumildern. Das Ergebnis fiel verheerend aus. 

Der Gouverneur von Rio Grande do Sul heißt Eduardo Leite und gehört der Mitte-rechts-Partei PSDB an. Was den 39-Jährigen zu einer außergewöhnlichen Figur macht, ist sein Bekenntnis zur Homosexualität. Dazu gehört großer Mut in Brasiliens enorm konservativem und von Macho-Allüren durchsetztem politischen Betrieb. 

Auf anderem Gebiet war Leite jedoch nicht so fortschrittlich. Die große Nachrichtenseite UOL titelte: „Abholzung und weniger Kontrolle: Wie die Regierung Leite die Überschwemmungen in Rio Grande do Sul begünstigte.“ UOL schrieb: „Seit seinem Amtsantritt 2019 hat Eduardo Leite Dinge gemacht, die laut Experten den Bundesstaat noch anfälliger für Überschwemmungen machen könnten.“ Am schädlichsten seien die Ausnahmen, die für die wirtschaftliche Nutzung von Schutzgebieten einschließlich Flussufern geschaffen wurden. „2020 wurden auf Antrag Leites 480 Umweltvorschriften geändert“, schreibt UOL. Die Zivilgesellschaft sei nicht an der Ausarbeitung beteiligt gewesen. Zudem habe die Entwaldung unter ihm stark zugenommen. Seien 2019 noch 1145 Hektar Vegetation abgeholzt worden, waren es drei Jahre später 5197 Hektar. 

Brasiliens größte und einfluss-
r­­eichste Zeitung, Folha de São Paulo, schaute über die Grenzen von Rio Grande do Sul hinweg. Sie sprach mit Márcio Astrini von der Beobachtungsstelle für das Klima, einem Netzwerk von mehr als 100 sozialen und ökologischen Organisationen. „Wir haben Behörden im Land, die das Gegenteil von dem tun, was getan werden sollte“, zitiert ihn das Blatt. „Sie erlassen Gesetze, um die Abholzung zu fördern und die Kontrollmöglichkeiten zu reduzieren.“ Und weiter: „Eduardo Leite hätte angesichts vorheriger Klimaereignisse in Rio Grande do Sul ein Vorbild dafür sein können, wie man sich auf Extrem­situationen vorbereitet.“


Höherer Preis für Reis

Die bedeutendste Wirtschaftszeitung, Valor Econômico aus São Paulo, beleuchtete die ökonomischen Schäden der Überschwemmungen. „Die Landwirtschaft ist der am stärksten ­beeinträchtigte Sektor“, schrieb sie. Besonders die Reisproduk­tion sei betroffen, ein Verlust von 750 000 Tonnen Reis zu erwarten. Das habe Auswirkungen auf das ganze Land, da 70 Prozent des brasilianischen Reis aus Rio Grande do Sul stammten. Die Vorhersage bestätigte sich. Der Preis für Reis, neben Bohnen hierzulande das typischste Lebensmittel, stieg an, und in einigen Supermärkten wurde darauf hingewiesen, dass es zu Versorgungsengpässen kommen könnte. Die Regierung reagierte und setzte die Import­steuern auf Reis aus.


Konsens in seriösen Medien 

Scharf kritisierte Valor Econômico die schlechte Vorbereitung Brasiliens auf die Folgen der Erd­erwärmung. „Brasilien nimmt bis heute den Klimawandel nicht ernst“, titelte die Zeitung über einem großen Meinungsbeitrag. „Das Klimasekretariat des Umweltministeriums hat festgestellt, dass 66 Prozent der 5700 brasilianischen Gemeinden über eine geringe oder sehr geringe Anpassungsfähigkeit verfügen“, schreibt die Zeitung. „Davon sind fast 2000 stark durch Überschwemmungen, Erdrutsche, Dürren und Brände gefährdet.“ 

Es herrschte Konsens in Brasiliens seriöser Medienlandschaft, dass die Erderwärmung eine entscheidende Ursache für die Überschwemmungskatastro­phe war. Einig war man sich auch in der Ablehnung von gezielten Falschmeldungen, die in den ­bolsonaristischen Netzwerken zirkulierten, also unter Anhängern des ultrarechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, zu dessen Markenzeichen die Wissenschaftsfeindlichkeit gehört. Bolsonaro hatte als Präsident nicht nur die Gefährlichkeit von Covid-19 heruntergespielt, sondern auch den menschengemachten Klimawandel geleugnet. 


Beharrliche Desinformation

In den Netzwerken seiner Anhänger zirkulierte nun der Hinweis, dass es schon 1941 eine große Flut in Porto Alegre gegeben habe, was beweisen würde, dass die jetzigen Überschwemmungen nicht vom Klimawandel ausgelöst worden seien. In anderen Videos, Fotos und Berichten wurde behauptet, dass die Regierung Hilfslieferungen aufhielte und verzögere sowie freiwillige Helfer behindere; oder dass der Staat die wahren Ausmaße der Katastrophe verschweige. Es wurde erzählt, dass das Geld, das für die riesige Show der Pop-Diva Madonna Anfang Mai an Rios Copacabana ausgegeben worden sei, dann gefehlt habe, um den Menschen in Rio Grande do Sul zu helfen. Oder dass der bolsonaristische Konzernchef Luciano Hang mehr für die Opfer tue als der Staat. 

„Desinformation wird zu einer politischen Waffe in der Klima­tragödie“, titelte die Zeitung O Povo aus Fortaleza. „Ein von Influencern und rechtsextremen Abgeordneten organisiertes Netzwerk verbreitet Falschmeldungen mit dem Ziel, den Anti-
Staat-Diskurs zu befördern.“

So sehr jedoch die Medien versuchten, die Falschmeldungen zu entlarven – es gibt einen harten Teil in der Gesellschaft, den sie nicht mehr erreichen. Die Zeitschrift Carta Capital führt eine Studie an, der zufolge einige der Falschmeldungen von 56 Prozent der Befragten geglaubt worden seien. „Für die Forscher zeigt die Akzeptanz, dass das Desinformationssystem davon lebt, sachlichen Informationen ein neues Gewand zu geben“, schreibt Carta Capital

Die Überschwemmungskatastrophe von Rio Grande do Sul hat gezeigt, wie divers Brasiliens Medienlandschaft geworden ist und welche argumentative Stärke der Journalismus hierzulande hat. Dennoch steht die Frage im Raum, wie man Falschmeldungen, Verzerrungen und Halbwahrheiten effektiv entgegentreten kann, wenn ein beachtlicher Teil der Bevölkerung seine In­formationen aus Netzwerken ­bezieht, deren Ziel die Verbreitung von Lügen ist, um Stimmung zu machen und Verunsicherung zu schüren.

 

 

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 116-119

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Philipp Lichterbeck 
lebt und arbeitet in Rio de Janeiro. Als freier Journalist und Autor berichtet er für deutsche, schweizerische und österreichische Medien aus Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas.

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