Politische Blockade
In Spanien stehen sich zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber: Weder der amtierende sozialdemokratische Ministerpräsident noch sein konservativer Herausforderer können ohne massive Zugeständnisse an andere Parteien eine Regierung bilden.
Selten hatten Parlamentswahlen bei den Spaniern so viele Emotionen geweckt wie die vom 23. Juli. Ursprünglich sollte die Wahl erst im Dezember dieses Jahres stattfinden. Doch nach der schweren Niederlage, die die Sozialistische Partei (PSOE) bei den Regional- und Kommunalwahlen Ende Mai erlitten hatte, versuchte Ministerpräsident Pedro Sánchez einen Befreiungsschlag – nicht zuletzt, um von seineen wirtschaftlichen Erfolgen zu profitieren.
„Mit der Vorverlegung der Wahlen verschießt Sánchez jetzt seine letzte Kugel“, schrieb schon einen Tag nach den Regionalwahlen Spaniens führende Tageszeitung El País. Zumindest, so die linksliberale Zeitung weiter, verkürze Sánchez damit den Freudentanz bei der oppositionellen konservativen Volkspartei (PP). Denn fortan galt es für die Kontrahenten, sich intensiv auf den Wahlkampf zu konzentrieren. Dabei sah es lange nicht gut aus für den amtierenden Regierungschef: Sánchez rutschte in den Umfragen ab, während der PP ein überwältigender Wahlsieg prognostiziert wurde.
Ein bitterer Sieg
Doch es kam anders. Zwar gewann PP-Spitzenkandidat Alberto Núñez Feijóo die Wahlen und brachte es auf 137 Abgeordnete, 48 mehr als sein glückloser Vorgänger Pablo Casado im November 2019. Doch das reicht nicht für eine Regierungsbildung, denn Feijóo kann sich nur auf die 33 Abgeordneten der rechtsextremen Partei Vox sowie eventuell auf zwei Mandate aus Navarra und den Kanarischen Inseln stützen. Damit verfehlt er die absolute Mehrheit von 176 Abgeordneten um vier Stimmen.
Sánchez wiederum ging aus den Wahlen nicht so geschwächt hervor wie erwartet. Mit seinen 122 Abgeordneten könnte er rein theoretisch eine Regierung bilden, wenn er neben der neuen linken Wahlplattform Sumar noch alle übrigen verbleibenden Kräfte im Parlament hinter sich versammeln könnte.
Das sei ein bitterer Sieg für die Konservativen, schreibt denn auch die Tageszeitung El Mundo einen Tag nach den Wahlen. Die PP (Partido Popular) habe zwar gewonnen, aber ihre Erwartung, nach Jahren auf der Oppositionsbank problemlos wieder die Regierung zu stellen, wurde enttäuscht. In der Parteizentrale hatte man mit mindestens 150 Mandaten gerechnet, so El Mundo weiter. Auch El País sprach von einem Pyrrhussieg für Feijóo, bei dem der Gewinner mehr Schaden nimmt als der Besiegte.
„Sánchez geht aus den Wahlen gestärkt hervor“, räumte sogar das konservative Blatt ABC ein, aber warnte zugleich davor, dass die Interessen Spaniens durch die Verhandlungen, die Sánchez nun mit den separatistischen Parteien im Baskenland und in Katalonien führen muss, gefährdet sein könnten. Die Zeitung wundert sich auch, dass das Image der PSOE nach Jahren von Zugeständnissen an die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter offenbar nicht nennenswert gelitten habe. Vor diesem Hintergrund bestünde kein Zweifel, dass Sánchez eine Neuauflage seiner Regierung anstrebe, egal was es koste.
Sánchez braucht die Katalanen
In der Tat machte Sánchez am Wahlabend klar, dass sich seine Sozialdemokraten als Sieger fühlen und versuchen werden, mit „allen progressiven Kräften im Land“ eine Regierung zu bilden. Doch dafür ist er nicht nur angewiesen auf die linksrepublikanische katalanische Partei ERC (Esquerra Republicana), die ihn bereits in der letzten Legislaturperiode unterstützte. Sánchez braucht vielmehr auch die Stimmen der sieben Abgeordneten der bürgerlich nationalistischen Separatistenpartei Junts per Catalunya (Junts), die Sánchez in den vergangenen vier Jahren stets die kalte Schulter gezeigt hatte.
Das wird eine schwere Aufgabe sein, urteilte die führende katalanische Tageszeitung La Vanguardia. Die Linksrepublikaner hätten als Strafe für ihre Kooperationswilligkeit mit der Sánchez-Regierung bei den Wahlen Federn gelassen und dürften deshalb den Preis für ihre Zusammenarbeit erhöhen, schreibt La Vanguardia weiter.
Doch das wirkliche Problem ist Junts, die Partei des seit sechs Jahren im belgischen Exil lebenden früheren katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont. „Junts hat den Schlüssel, damit Sánchez erneut eine Linksregierung bilden kann“, erklärt die Zeitung und unterstreicht, dass die Partei bereits am Wahlabend ihre Bedingungen vorstellte. Sie fordert ein neues Referendum für die Ablösung Kataloniens von Spanien sowie eine Amnestie für Unabhängigkeitsbefürworter, die für ihre Teilnahme an der ersten Volksabstimmung im Oktober 2017 von der spanischen Justiz verfolgt werden.
Für das konservative Online-Portal El Español ist das „pure Erpressung“. Um an der Macht zu bleiben, könnte Sánchez lieber mit Puigdemont und den Linksrepublikanern paktieren, anstatt gesamtspanische Interessen zu vertreten. „Entweder Puigdemont oder politische Blockade“, titelte denn auch ABC nach der Wahl und fügte hinzu, dass ohne Junts das linke und das rechte Lager gleich stark sind. Nur wenn sich Junts mit Sánchez einige, könnten Neuwahlen vermieden werden. El Español zeigt einen anderen Ausweg aus der Blockade auf: Die Sozialdemokraten von Sánchez müssten mit ihrer Enthaltung ermöglichen, dass Feijóo eine Minderheitsregierung bilden kann – ein Vorschlag, der von der gegnerischen Seite von Anfang an abgelehnt wurde.
Keine große Koalition
Eines der wenigen Medien, das eine große Koalition ins Spiel bringt, ist El Periódico de España, die zweitgrößte Tageszeitung in Katalonien. Solange sich die Konservativen und die Sozialdemokraten nicht an den Verhandlungstisch setzten, sei Spanien zur Instabilität verdammt. Das könnte zu einer Wahlwiederholung führen oder zu volatilen Mehrheiten, die die Legislaturperiode nicht überstehen. Die Zeitung bedauert, dass in Spanien aufgrund seiner polarisierten Gesellschaft eine große Koalition, wie man sie in Deutschland oder anderen Ländern kennt, undenkbar sei.
Das konservative Nachrichtenportal Vozpópuli kommt zum gleichen Schluss. Die fehlende Debattenkultur in Spanien und die hierzulande üblichen harschen Angriffe auf das gegnerische Lager torpedierten schon immer jegliche Chance auf eine Annäherung. Sogar während der Covid-Pandemie hätten PP und PSOE keinen Konsens gesucht, um die Situation in den Griff zu bekommen. In Fragen wie Bildung, Gesundheitswesen oder Justiz klafften unüberwindbare Gräben zwischen den Fronten.
Das Nachrichtenportal erinnert daran, dass Feijóo einen Monat zuvor eine große Koalition ins Spiel gebracht hatte, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Sozialdemokraten Sánchez aus dem Rennen nähmen. Vozpópuli räumt allerdings ein, dass nicht nur die in den Raum geworfene Personalfrage ein unüberwindbares Hindernis sei, sondern auch Feijóos Entschlossenheit, einige der gesellschaftlichen Reformen der vergangenen Jahre – wie das Transgesetz, das neue Euthanasiegesetz oder das Gesetz des historischen Gedenkens, das auf die Aufarbeitung der Gräueltaten während der Franco-Diktatur abzielt – abzuschaffen.
Rechtsruck blieb aus
Die jüngsten Parlamentswahlen waren auch deshalb ein wichtiger Pulsmesser, weil der in Europa befürchtete Rechtsruck ausfiel. So verlor die rechtsextreme und relativ junge Partei Vox, die erst im Jahr 2013 als Abspaltung von der PP gegründet wurde, 19 ihrer zuvor 52 Abgeordneten.
„Spanien stoppt die Meloni-Welle“, schrieb La Vanguardia. Das schlechte Abschneiden von Vox habe dafür gesorgt, dass sich Spanien doch nicht der Riege von EU-Ländern anschließen wird, in denen ultrarechte oder europaskeptische Parteien in der Regierung sitzen, so El País. Das sei auch ein Warnsignal für die Europäische Volkspartei (EVP) und ihren Präsidenten Manfred Weber und zeige, dass eine Annäherung an weniger demokratische Parteien einen politischen Preis habe.
Die Nationalisten in Italien, Polen und Ungarn hatten im Wahlkampf die Kampagne von Vox-Chef Santiago Abascal offen unterstützt, in der Hoffnung, die viertgrößte Volkswirtschaft der EU bald in ihre Reihen aufnehmen zu können. Gemeinsam hätten die vier Länder, die mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, im Europäischen Rat mit ihrer Sperrminorität wichtige Entscheidungen blockieren können. In der EU habe man auf das schlechte Ergebnis von Vox mit Champagner angestoßen, so die Zeitung. Dies sei auch eine gute Nachricht mit Blick auf die Wahlen zum Europaparlament im nächsten Jahr.
Schon vor den Wahlen hatte El País gewarnt, dass eine Stimme für Vox einer Stimme für Francisco Franco, Spaniens früheren Diktator, gleichkäme. Nicht einmal zu Beginn der Demokratie in Spanien gab es eine Partei, die sich ideologisch so sehr mit der Franco-Zeit identifiziere wie Vox. Die Partei stünde für einen reaktionären Nationalismus und für eine außenpolitische Isolation, wie sie schon der 1975 verstorbene Diktator pflegte.
Warum Vox scheiterte
Die rechtsextreme Partei Vox suchte nach den Wahlen allerdings nicht die Schuld bei sich, sondern gab sie der konservativen Volkspartei (PP). Wie das große Nachrichtenportal El Confidencial schreibt, richtete sich der Hauptvorwurf gegen dessen Spitzenkandidaten Feijóo. Dieser habe nämlich alle Sánchez-Gegner dazu aufgefordert, seine Partei zu wählen, da nur die PP eine reelle Chance zum Sieg hätte. Der sogenannte „Voto útil“ (nützliche Stimme) habe Vox geschadet, denn der Partei entgingen damit Mandate in Städten wie Sevilla, Tarragona, Burgos und Albacete und auch auf den Balearen, während die PP dort mehr Stimmen bekommen habe, als sie zum Siegen gebraucht hätte.
Selbst konservative Medien wie die Tageszeitung ABC oder El Mundo hatten in der Endphase des Wahlkampfs kritischer über Vox berichtet und einige umstrittene Initiativen der Partei ins Rampenlicht gestellt. Als etwa von einigen Rathäusern, in denen Vox seit den Kommunalwahlen mitregiert, auf den städtischen Bühnen Theaterstücke (etwa den Transgender-Klassiker „Orlando“ von Virginia Woolf), Buchlesungen und einige Filme verboten wurden, schrieb El Mundo, dies erinnere an die allgegenwärtige Zensur während der Franco-Zeit. Hier ginge es nicht um Einzelfälle, sondern darum zu zeigen, wie eine Regierung aussähe, an der Vox beteiligt ist, so El Mundo. Und darauf hätten viele Wählerinnen und Wähler reagiert.
Schon vor den Parlamentswahlen hatten einige wenige Medien, darunter die katalanische La Vanguardia, kritisiert, dass die Konservativen – im Gegensatz zu ihren Kollegen in anderen europäischen Ländern – keine Brandmauer zu den Ultrarechten gezogen hätten, sondern sie sogar salonfähig machten. Das sieht man in den Regionen Valencia, Extremadura und den Balearen, wo die PP nach den Kommunalwahlen vom Mai Allianzen mit Vox schloss, um dort die jeweilige Regionalregierung zu stellen. „Die Ultrarechte bekommt dank der Großzügigkeit der Volkspartei in Spanien politisches Gewicht, und das genau drei Wochen vor den Parlamentswahlen“, schrieb Enric Juliana, stellvertretender Chef der Zeitung, schon damals.
Dass Feijóo jedoch den sicher geglaubten Sieg verspielte, ist laut El Español auch auf seine Doppelzüngigkeit zurückzuführen. Denn während er im Wahlkampf versuchte, sich von Vox zu distanzieren, schlossen seine Parteigenossen immer weitere Pakte mit den Rechtspopulisten, um auch noch Rathäuser wie Toledo oder Burgos unter ihre Kontrolle zu bringen.
Die spanische Ausgabe der Huffington Post sieht nach dem Wahldebakel sogar Feijóos Zukunft an der Parteispitze mittelfristig bedroht. Ein erstes Zeichen gab es schon in der Wahlnacht: Denn die Anhänger der PP jubelten nicht dem Parteichef zu, sondern der Madrider Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso. Die Politikerin, so Huffington Post, hätte schließlich zwei Monate zuvor geschafft, was Feijóo wohl nie gelingen werde: die absolute Mehrheit in der Hauptstadtregion zu gewinnen.
Die Zeitungen fragen sich nun, wie es weitergeht, wenn die gegenseitige Blockade anhält und Spanien in eine Phase der politischen Instabilität rutscht. Mitte August hielt das Parlament seine erste Sitzung ab und danach begannen die Sondierungsgespräche von König Felipe VI. mit den Fraktionsvorsitzenden, um einen Kandidaten für die Wahl zum Ministerpräsidenten zu präsentieren. Ende August schließlich beauftragte Felipe VI. den Oppositionschef Feijóo damit, eine neue Regierung zu bilden. Allerdings wird erst Ende September darüber abgestimmt, wer der neue Ministerpräsident wird.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 116-119
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