Partner oder Bedrohung?
Russland und die NATO
Die Kardinalfrage muss beantwortet werden: Will das Bündnis eine sicherheitspolitische Schicksalsgemeinschaft, die Russland einschließt? Dann wäre eine gemeinsame Raketenabwehr ein erster Schritt in diese Richtung. Ulrich Weisser plädiert entschieden für eine Kooperation, während Karl-Heinz Kamp dies eher skeptisch sieht.
Gemeinsame Herausforderungen, gemeinsame Antworten
Ulrich Weisser | Deutschland erfreut sich heute stabiler freundschaftlicher Beziehungen zu Russland – ein politisch-strategisches und auch ökonomisches Kapital, das in seiner Bedeutung für Europa und die Welt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder haben sich um die Pflege der deutsch-russischen Beziehungen besonders verdient gemacht. Im Gegensatz dazu hat Bundeskanzlerin Merkel Chancen vergeben, weil sie die deutsche Russland-Politik anfangs nur halbherzig ins Werk gesetzt hat. Angela Merkel hat sich als Bundeskanzlerin in den deutsch-russischen Beziehungen distanziert zurückgehalten, bis sie schließlich zum intensiven Dialog mit der russischen Staatsführung gefunden hat; dabei hat sie wirtschaftliche Zusammenarbeit als „Modernisierungspartnerschaft“ in den Vordergrund gerückt.
Allerdings fehlt unserer Russland-Politik eine vorwärts drängende sicherheitspolitische Dimension, die den fundamentalen Änderungen der strategischen Bedingungen für europäische Sicherheit Rechnung trägt. Deutschland folgt zwar dem Grundsatz, dass es Frieden, Stabilität und Sicherheit in und für Europa nur mit und nicht gegen Russland geben kann. Allerdings sehen einige der neuen NATO-Staaten in Mittelosteuropa Russland aufgrund ihrer Erfahrungen anders – sie suchen Sicherheit vor und nicht mit Russland. Europäische Union und NATO haben diesen internen Gegensatz bisher nicht auflösen können; auch Deutschland hat hier wenig beigetragen.
Als die NATO aufgrund einer deutschen Initiative begann, sich für neue Mitglieder zu öffnen, sollte dieser Prozess durch eine strategische Partnerschaft zwischen der Allianz und Russland abgefedert werden. Es war aber von Anfang an abzusehen, dass ein sensibler Umgang mit russischen Empfindlichkeiten und strategischen Interessen notwendig würde – und dass die politische Strategie für die Öffnung der Allianz unterlegt werden müsste durch ein ausgewogenes Konzept von Mitgliedschaft und Partnerschaft. Im Gegenzug wollte sich Russland bereit erklären, Integration und Kooperation als komplementäre Elemente einer ganzheitlichen Sicherheitsstrategie zu akzeptieren. Die NATO hat die proklamierte Partnerschaft aber über Jahre nicht mit Leben erfüllt.
Russland hat seine Erwartungen an die NATO seit 1994 im Prinzip nicht verändert und dabei stets deutlich gemacht, worauf es Moskau ankommt: auf die Entwicklung eines bilateralen Verhältnisses besonderer Qualität; die Teilnahme Russlands am Meinungsbildungsprozess der Allianz, wenn es um Fragen europäischer Sicherheit oder um globale Aspekte geht; und um die Beteiligung Russlands an der Lösung europäischer Sicherheitsprobleme.
Die NATO hat damals abschlägig reagiert – dies mit einer Haltung, die sich bis heute nicht grundlegend geändert hat. Das Bündnis definierte schon 1994 seine Position nicht durch konstruktives Entgegenkommen, sondern über „Five No’s“: kein russisches Veto-Recht in Allianz-Angelegenheiten (No Veto); keine Mitentscheidung (No Codecision); kein überwölbender Herrschaftsanspruch von NATO und Russland (No Condominium); keine Regelungen zu Lasten Mittelosteuropas (No New Yalta); keine Zustimmung zu russischen Interessenssphären in unmittelbarer Nachbarschaft (No Near Abroad). Eine strategische Partnerschaft mit Russland konnte aus dieser Haltung heraus schwerlich Innovationsimpulse erhalten.
Die russische Seite hat seitdem immer wieder eine entscheidende Frage aufgeworfen, die eine redliche Antwort verlangt, nämlich ob Russland von der NATO weiter als Bedrohung oder künftig als gleichberechtigter Partner betrachtet werde. Eine NATO-Politik, die zwar von Partnerschaft spreche, aber zugleich auf Verteidigungsbedürfnisse gegen Russland abgestellt sei – womöglich unter Ausdehnung des Verteidigungsdispositivs auf neue Mitglieder – könne in Russland nur als widersprüchlich gesehen werden. Moskau ist natürlich irritiert, wenn von der NATO ständig über die Intensivierung der Partnerschaft geredet wird, aber zugleich im Baltikum Verteidigungsübungen gegen Russland abgehalten werden – Maßnahmen, die den russischen Verdacht erhärten, gleichzeitig als Partner und als Bedrohung angesehen zu werden.
Für Russland lag der Schlüssel zum Erfolg des Gesamtansatzes mithin darin, dass das bilaterale Verhältnis vom Geiste echter und gleichwertiger Partnerschaft geprägt sein muss, die auch akzeptable Formen der Mitwirkung Russlands bei bestimmten NATO-Entscheidungen ermöglicht. Russland hat sich schließlich mehrfach und konkret beim Management internationaler Krisen auf die Seite des Westens gestellt – selbst wenn solche Entscheidungen in Moskau umstritten waren. Das gilt für die Behandlung des iranischen Nuklearproblems ebenso wie für die -NATO-Intervention in Libyen, aber auch für die Öffnung russischen Territoriums im Hinblick auf den Nachschub, den die NATO-Truppen in -Afghanistan benötigen.
Weiterentwicklung des Bündnisses
Im Zusammenhang mit der Erarbeitung eines neuen strategischen Konzepts der NATO, das im November letzten Jahres in Lissabon verabschiedet wurde, und mit Blick auf russische Vorschläge für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur wächst heute endlich die Einsicht, dass Europa und Russland vor denselben strategischen Herausforderungen stehen. Es ist deshalb geboten, gemeinsame Antworten zu finden und sich von den lange gepflegten Vorbehalten zu lösen.
Der Nahe und Mittlere Osten bleiben als krisenträchtigste Weltregionen eine ständige strategische Herausforderung für Europa und Russland. Aber auch Zentralasien hat alle Ingredienzen für Krisen und Konflikte: immense Energievorräte, ethnische Gegensätze, korrupte Regime, islamische Fundamentalisten und ölbestimmte Gegensätze der Weltmächte. Es ist offenkundig, dass Russland, China und die USA bemüht sind, ihren jeweiligen politischen Einfluss in Zentralasien in diesem Sinn auszuweiten. Dabei gehen die USA heute allerdings vorsichtiger und weniger engagiert vor als die Regierung unter George W. Bush. Wer die Lunte an dieses krisenträchtige Pulverfass legt, kann nur verlieren. Georgien in die NATO aufzunehmen, bedeutet nichts anderes – zumal wir dort kein vitales Interesse haben, das mit Militär verteidigt werden muss. Es verbietet sich also die Aufnahme von Staaten in die NATO, die nicht beitrittsfähig sind und die für das Bündnis keinen Zugewinn an Sicherheit bedeuten.
Die NATO sollte sich deshalb unter Einbeziehung Russlands von einem reinen Verteidigungsbündnis zu einer viel weiter gefassten Sicherheitsgemeinschaft entwickeln. Diese sollte sich im globalen Rahmen so neu verorten, dass sie die gleichgerichteten elementaren Interessen des Westens und Russlands zusammenfasst und strategisch widerspiegelt. Die NATO war bisher aber nicht fähig, einen solchen Ansatz zu verfolgen, der Russland als Gleicher unter Gleichen einbezieht.
In unserer multipolaren Welt mit den fünf Hauptakteuren Vereinigte Staaten, Europa, Russland, China und Indien verschieben sich die Gewichte zugunsten der asiatischen Staaten. Künftig sollte sich die NATO als strategischer Rahmen für die -Dreiergruppe Nordamerika, Europa und Russland verstehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Russland für uns ein strategischer Partner sui generis ist, dessen Gewicht noch zunehmen wird. Wir brauchen Russland und Amerika überall, wo es kritisch ist: in Afrika, auf dem Balkan, im Iran, in Afghanistan, in Nordafrika, im Nahen Osten, für den Kampf gegen nukleare Proliferation und nicht zuletzt für mehr Energiesicherheit.
Ob es zu einem engen Zusammengehen mit Russland kommen wird, entscheiden aber nicht nur Russland und der Westen. Von Gewicht ist dabei nicht zuletzt die Entwicklung Chinas, dessen Wirtschaftskraft heute etwa viermal größer ist als die Russlands – und das Gewicht verschiebt sich weiter zu Lasten Moskaus. Peking weitet zudem seinen Einfluss im postsowjetischen Raum, vor allem in Zentralasien, aus. Wenn Russland und der Westen in absehbarer Zeit kein strategisches Bündnis schließen, ist es durchaus möglich, dass sich Moskau dazu bereitfinden muss, Juniorpartner Pekings zu werden. Dabei könnte die westliche Politik Moskau durchaus in die Arme Pekings treiben. Es ist gewiss unangebracht, China zu einem Feindbild aufzubauen – eine Anlehnung Russlands an China wäre westlichen Interessen jedoch außerordentlich abträglich.
Die strategische Gesamtkonstellation wird durch die Verschiebung des geopolitischen Gravitationszentrums vom Atlantik zum Pazifik noch komplizierter. Auch die USA wenden sich mehr Asien und dem Pazifik zu als Europa. Barack Obama hat davon gesprochen, dass er Amerikas erster pazifischer Präsident sei. Dabei wird er sich mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass die Aufrüstung Chinas die Pazifik-Anrainer künftig mehr beschäftigen wird und die USA in ihrer Rolle als pazifische Schutzmacht besonders gefordert sein werden.
In dieser grundlegend veränderten politisch-strategischen Situation können es sich die atlantische Gemeinschaft und vor allem Europa nicht leisten, wegen sicherheitspolitischer Zerstrittenheit und unterschiedlicher nationaler Interessen handlungsunfähig zu sein.
Gemeinsame Raketenabwehr
Wir müssen die russische Führung in die Lage versetzen, ihrer Bevölkerung zu verdeutlichen, welche Vorteile sich aus einer engen Kooperation mit der NATO ergeben. Dies geschieht am besten durch konkrete Projekte wie ein gemeinsames Raketenabwehrsystem gegen neue Bedrohungen aus dem Mittleren Osten. Die Experten der Euro-Atlantischen Sicherheitsinitia-tive (EASI) aus Europa, Russland und den USA haben nun Vorschläge vorgelegt, wie die NATO und Russland zu einer gemeinsamen Haltung beim Projekt Raketenabwehr kommen können. Diese Vorschläge, an denen auch der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe und Botschafter Wolfgang Ischinger mitgewirkt haben, sind ebenso visionär wie praktisch und konkret. Sie sind auf das richtige übergeordnete Ziel ausgerichtet, nämlich eine euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft zu begründen, die von einem strategischen Verständnis und einer Bedrohungsanalyse bestimmt ist, die von allen geteilt werden.
Ein Konsens in dieser zentralen Frage wäre ein sensationeller Durchbruch. Das Ergebnis der neuen Initiative besteht darin, durch Zusammenfassung aller Daten und Informationen in gemeinsam besetzten Zentren eine wirksamere Bekämpfung von Raketenangriffen zu ermöglichen, ohne dabei die Souveränität und die operative Kontrolle beim Einsatz von Abwehrwaffen der Beteiligten einzuschränken. Nur solch ein Versuch, zu einem gemeinsamen Ansatz für Raketenabwehr zu kommen, wird darüber entscheiden, ob die NATO tatsächlich das Verhältnis zu Russland grundlegend neu gestalten will und kann.
Eine gemeinsame Raketenabwehr würde die Sicherheit Russlands und des Westens untrennbar miteinander verbinden. Die Verwirklichung dieses Projekts ist jedoch zweifelhaft. Bisher setzt die NATO noch immer mehr auf Trennendes als auf Gemeinsamkeiten, während die russische Staatsführung dem Expertenvorschlag zumindest inoffiziell zugestimmt hat. Die wechselseitige Unsicherheit, ob der andere wirklich als Partner betrachtet werden könne, sitzt tief. Deshalb muss die Kardinalfrage beantwortet werden: Will die nordatlantische Welt wirklich eine sicherheits-politische Schicksalsgemeinschaft, die Russland einschließt?
ULRICH WEISSER, Vizeadmiral a.D., war von 1992 bis 1998 Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung.
Die USA machen es möglich: Raketenabwehr frei Haus
Karl-Heinz Kamp | Auf ihrem Lissabonner Gipfel im November 2010 beschloss die NATO, eine gemeinsame Raketenabwehr aufzubauen, die das gesamte Allianzterritorium abdeckt und Schutz vor der wachsenden Gefährdung durch ballistische Raketen - möglicherweise mit Massenvernichtungswaffen bestückt – bietet. Der Kern des Systems, nämlich Abfangraketen und Radaranlagen auf so genannten Aegis-Schiffen, wird von den USA bereitgestellt. Die europäischen NATO-Verbündeten sollen zusätzliche Komponenten einbringen, um so aus dem amerikanischen nationalen System eine wirkliche Bündnisabwehr mit Entscheidungsstrukturen in Brüssel zu machen.
Parallel zu diesen Raketenabwehrplänen einigten sich die NATO und Russland darauf, in ihren frostigen Beziehungen den sprichwörtlichen „Neustart“-Knopf zu drücken. Nach dem Georgien-Krieg und den heftigen Auseinandersetzungen über einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine sollte der Neuanfang gewagt werden. Angesichts der schon traditionellen Furcht Russlands vor einer westlichen Raketenabwehr, die nach Moskauer Lesart eher Unsicherheit schaffe, weil sie die russischen Raketenarsenale neutralisieren könne, schien man nun zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Eine NATO-Russland-Kooperation bei der Raketenabwehr wäre ein ideales Betätigungsfeld für den Neuanfang und würde darüber hinaus helfen, wechselseitige Ängste und Verdächtigungen auszuräumen.
Ob aber die Raketenabwehr wirklich zu einem Motor für ein besseres NATO-Russland-Verhältnis werden kann, ist derzeit fraglich. Fünf unangenehme Wahrheiten stehen dem derzeit entgegen.
Erstens wird das NATO-Russland-Verhältnis auf absehbare Zeit holprig bleiben. Zugegeben, in historischer Perspektive sind die Beziehungen positiv: Nie hat Russland einen solch stabilen und wohlgesonnenen westlichen Nachbarn gehabt wie die heutige NATO. Umgekehrt gab es aus westlicher Sicht noch nie so viel Dialog und Partnerschaft wie mit dem Russland des 21. Jahrhunderts – obgleich der Umgang mit Moskau nicht immer einfach ist. Dennoch kommunizieren beide Seiten häufig auf unterschiedlicher Wellenlänge und hegen ihre wohlbekannten wechselseitigen Vorurteile. Russland sieht in der NATO immer noch das willige Instrument amerikanischer Globalstrategie. Dass dies schon im Kalten Krieg und erst recht in der Folgezeit eine Fehleinschätzung war, ficht Moskau nicht an. Umgekehrt sehen NATO-Regierungen „die Russen“ als geeinte Akteure mit klarem Ziel und abgestimmter Strategie. Stattdessen sind die Entscheidungsprozesse in Russland mindestens ebenso vielschichtig und manchmal widersprüchlich wie zwischen den 28 NATO-Partnern.
Zweitens betrachten beide Seiten den Zweck und den Wert ihrer Zusammenarbeit grundlegend verschieden. Für Russland ist die Kooperation mit der NATO – insbesondere in dem dafür vorgesehenen Gremium, dem NATO-Russland-Rat – ein Mittel, um Einfluss auf Entscheidungsprozesse des Bündnisses zu gewinnen. Diskussionen dienen vor allem dazu, die wirklich strittigen Fragen, wie etwa die der Mitgliedschaft, zu lösen. Für das Bündnis ist der NATO-Russland- Rat hingegen eher ein Forum, in dem ausgelotet werden kann, wo überhaupt Spielraum für eine Einigung besteht. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, Probleme wie die Erweiterung als derzeit nicht lösbar schlicht auszuklammern. Beide Sichtweisen sind legitim, führen aber häufig zu Enttäuschung und beiderseitiger Unzufriedenheit. Für die NATO keimt der stetige Verdacht, Russland wolle einen Keil in die Atlantische Allianz treiben. Demgegenüber beklagt sich Moskau, in Verhandlungen stets mit einer vorher abgestimmten Bündnisposition konfrontiert zu sein und nicht – wie erhofft – mit 28 unabhängigen Regierungen zu debattieren.
Daraus folgt drittens ein gewisses Maß an Unehrlichkeit auf beiden Seiten. Die NATO gibt vor, Russland nicht als Bedrohung oder Risiko zu definieren – einige Mitgliedsländer tun dies sehr wohl. Gerade die neuen NATO- Staaten betonen, dass harsche Töne aus Moskau oder russische Militärübungen im Baltikum nicht dazu beitragen, historische Ängste gegenüber Russland abzubauen. Diese Ängste seien schließlich einer der Gründe gewesen, warum man dem Bündnis beigetreten sei. Auf der anderen Seite betont Russland stets, wie viel Gewicht man der Partnerschaft mit der NATO beimessen würde. De facto rangiert die NATO aber relativ weit unten auf Moskaus außenpolitischer Prioritätenliste. Darüber hinaus ist es seit den Enthüllungen von Wikileaks kein Geheimnis mehr, dass Wladimir Putin es als eine historische Mission ansieht, für die Auflösung der NATO zu sorgen, da ja auch der Warschauer Pakt längst Geschichte sei. Viele Beobachter sehen in der auftrumpfenden Rhetorik Putins oder seiner Spitzenmilitärs eher einen latenten Minderwertigkeitskomplex oder den Phantomschmerz des untergegangenen Sowjetimperiums.
Viertens scheint die Raketenabwehr all die Ungereimtheiten und Diskrepanzen im NATO-Russland- Verhältnis widerzuspiegeln. Zwar versichert man sich der engen Kooperation auf diesem Themenfeld. Es ist aber nicht immer leicht zu durchschauen, worauf beide Seiten eigentlich abzielen – außer dass es einen vage definierten gemeinsamen Ansatz geben soll. Russland bevorzugte lange eine wirklich gemeinsame Raketenabwehr, also ein System, das von der NATO und Russland zusammen betrieben wird.
Dabei muss Moskau klar gewesen sein, dass gerade die osteuropäischen NATO-Mitglieder nicht bereit sind, einen russischen Finger am gemeinsamen Auslöseknopf für Abfangraketen zu akzeptieren. Die USA geben sich äußerst kooperationswillig und betonen, Russland bei der Raketenabwehr auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Dabei weiß man in Washington aber sehr wohl, dass sich Russland nicht auf gleicher Augenhöhe befindet – weder militärisch noch technologisch. Russland mag sich von der Kooperation mit Amerika und der NATO einen Technologietransfer erhoffen, hat aber selbst nichts anzubieten, was für das amerikanische Raketenabwehrsystem unverzichtbar wäre.
Deshalb ist die Raketenabwehr entgegen öffentlicher Verlautbarungen alles andere als ein leichtes Feld für die Ost-West-Zusammenarbeit. Stattdessen besteht ein hohes Frustrationspotenzial bis hin zur Gefahr des Scheiterns, trotz vermeintlich gutem Willen auf allen Seiten.
Fünftens ist die Raketenabwehr auch für die NATO selbst ein eher sperriges Projekt. Seit Ronald Reagans Strategischer Verteidigungsinitiative (SDI) arbeiten die USA an dem Konzept einer Raketenabwehr. Die Nachfolger Reagans im Präsidentenamt haben das Projekt zwar mit unterschiedlicher Intensität verfolgt, sie alle haben die Raketenabwehr aber vorangetrieben. George W. Bush plante zuletzt ein System zum Abfangen von Langstreckenraketen, die über Europa hinweg in Richtung USA fliegen würden. Zu diesem Zweck sollten Abfangsysteme und Radaranlagen in Polen und der Tschechischen Republik stationiert werden. Als Nebeneffekt hätten auf diese Weise auch weite Teile der NATO vor Angriffen geschützt werden können – lediglich der Südosten des NATOGebiets wäre aus technischen Gründen ausgespart geblieben. Aufgrund dieser technischen Auslegung war automatisch ein Anreiz für die europäischen NATO-Mitglieder gegeben, sich an einer solchen Abwehr zu beteiligen. Europa hätte sich auf die Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen konzentriert und hätte Systeme für die Regionen bereitgestellt, die nicht unter dem amerikanischen Schutzschirm gestanden hätten. Der Nachteil des Bush-Ansatzes war, dass Russland überaus heftig gegen die geplanten Stationierungen in Polen und Tschechien protestierte.
Eine neues Phasenkonzept
Präsident Obama entfernte diesen Stolperstein für das amerikanisch-russische Verhältnis, indem er eine völlig neue Architektur vorschlug. Sein „Phasenkonzept“ (European Phased Adapted Approach) wird sich zunächst auf die Gefahr durch Mittelstreckenwaffen aus der Golf-Region (Iran) stützen und erst in etwa einem Jahrzehnt auf Langstreckenraketen, welche die USA bedrohen. Die Abfangsysteme sind auf Schiffen – etwa den Aegis-Kreuzern – stationiert und sollen das gesamte NATO-Territorium abdecken können. Mit anderen Worten: Mit Obamas Phasenkonzept bekommt die NATO in den nächsten Jahren eine Raketenabwehr nahezu frei Haus geliefert. Natürlich könnten und sollten die europäischen Verbündeten einen Beitrag leisten, etwa indem sie zusätzliche Radarsysteme aufbauen oder weitere Abfangraketen finanzieren, um damit die Raketenabwehr leistungsfähiger zu machen. Dies scheint allerdings angesichts der drastischen Einschnitte in den NATO- Verteidigungshaushalten völlig illusionär.
Die NATO befürwortet also den Aufbau einer Raketenabwehr, die im Wesentlichen von den USA bereitgestellt wird. Zwar soll es gemeinsame Entscheidungen über ihren Einsatz geben, die Europäer haben aber nicht erkennen lassen, was sie denn einzubringen bereit sind, um diesen Einfluss auf das amerikanische Handeln zu erlangen. Einige europäische NATO-Staaten zweifeln am Sinn der Raketenabwehr insgesamt. Für sie ist sie eher ein Faustpfand, um die USA zum Abzug ihrer Atombomben aus Europa zu bewegen – der einfachen, aber falschen Logik folgend, dass man keine nukleare Abschreckung mehr benötige, wenn man die Raketenabwehr hat.
Die Obama-Regierung wird ihren European Phased Adapted Approach wie geplant umsetzen. Die ersten Aegis-Schiffe sind bereits in europäischen Gewässern stationiert. Damit wird man Schritt für Schritt eine Raketenabwehr zunächst gegen Mittelstrecken- und später gegen Langstreckenraketen aufbauen. Amerika ist bereit, dies zusammen mit den europäischen Verbündeten zu tun und dabei bis zu einem gewissen Grad mit Russland zu kooperieren.
Allerdings wird Washington seine Raketenabwehrpläne weder von europäischer Unterstützung noch von russischer Zustimmung abhängig machen. Wenn Russland ein Partner bei der Raketenabwehr sein will, dann wird es die Bedingungen akzeptieren müssen, die auch für die NATO und die USA tragbar sind. Wenn NATO-Europa einen Einfluss auf die amerikanische Raketenabwehr haben möchte, wird es einen konkreten Beitrag leisten müssen. Konstruktiv-kritische Kommentare von der Seitenlinie dürften kaum ausreichen.
Das Dreieck NATO, Russland und Raketenabwehr bleibt also ein sehr sensibles und es enthält eine weitere Wahrheit: Selbst wenn es Moskau und manchen europäischen NATO-Hauptstädten schwerfällt einzusehen – in der Raketenabwehr sitzt Washington am Steuer.
Dr. KARL-HEINZ KAMP ist der Forschungsdirektor des NATO Defense College in Rom. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 107-115