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01. März 2004

Parteiendemokratie kontra Kanzlerdemokratie

Von Schröder zu Müntefering

Müntefering, der „Hüter der sozialen Gerechtigkeit“, ist durch sein Doppelamt heute tendenziell
mächtiger als der „innovative Reformkanzler“: die Parteiendemokratie hat an Einfluss gewonnen.

Die SPD wählt schon wieder einen neuen Vorsitzenden. Die Sozialdemokratie neigt ganz offenbar seit den achtziger Jahren dazu, ihre Vorsitzenden zu verschleißen.1 Dabei ist auch die Anfälligkeit sozialdemokratischer Kanzler, über ihre eigene Partei zu stürzen, größer als bei konservativen Kanzlern, wenngleich bei nur sieben Kanzlern die empirische Datenbasis relativ schmal ist. Die SPD als traditionelle Programmpartei, die wie ein Verein durch gemeinsame Interessen zweckgerichtet zusammengehalten wird, engt den Handlungskorridor ihrer Kanzler immer mehr ein als die Unionsparteien. Diese ähneln einer pragmatisch geprägten, durchaus heterogenen Familie, bei der die inhaltliche Übereinstimmung eher die Ausnahme als die Regel darstellt.

Es waren deshalb primär inhaltliche Gründe, die zur Personalrochade zwischen Gerhard Schröder und Franz Müntefering führten. Jede Partei hat einen Vorrat an Selbstverständlichkeiten, der in Regierungszeiten ständig abnimmt. Kompromisse und Pragmatismus bestimmen den Alltag der Kanzler als Integrationsweltmeister. Zur Selbstverständlichkeit der Sozialdemokratie gehörte der Auf- und Ausbau des Sozialstaats als Schutz- und Trutzburg gegen Ungerechtigkeiten. Soziale Konflikte wurden durch den Sozialstaat entschärft. Etatistische Reflexe gehörten zum Demokratieverständnis. Der Kitt derartig ausgerichteter kollektiver Identitäten ist brüchig geworden und damit das Selbstverständnis der SPD radikal betroffen. Schröders Reformagenda –   z.B. massive Kürzungen beim Arbeitslosengeld – musste die Ikonen der Sozialdemokratie beschädigen. Die Agenda 2010 schmerzte das Kernmilieu der SPD.

Da eine begleitende, in sich stimmige und stringente Reformkommunikation der Regierung bisher misslang, konnte auch nicht vermittelt werden, was das gesellschaftspolitische Fernziel der Sozialdemokratie sein könnte. Denn immer schien allein der ökonomische Sachzwang die Logik der Kürzungen zu bestimmen. Weitere Begründungen konnten nur schwach vernommen werden. So war der Kanzler gezwungen, jeden Millimeter seines Kurses von der Partei abzuringen. Als Unterstützer und Mehrheitsbeschaffer agierte dabei stets der Fraktionsvorsitzende im Bundestag Müntefering.

Aus der Sachfrage wurde schließlich die Machtfrage. Denn wie lange kann man dem freien Fall einer Partei zusehen? Tausende Mitglieder schickten aus bitterer Enttäuschung und Totalentfremdung ihr Parteibuch zurück. Wählerwut fegte sozialdemokratische Kandidaten und Regierungen davon. Noch nie wurden derartige Negativwerte bei Umfragen für eine Bundesregierung gemessen.2

Idealtypisch für Darstellungspolitik wechselt die Parteiführung zu Müntefering: er personifiziert angeblich als roter Heilsbringer gefühlte Sozialdemokratie. Vom Habitus her verkörpert er die Seele des SPD-Traditionsmilieus und den Typus des Arbeiterführers. Seine jahrzehntelange Parteiprofilierung ist nicht gegen die SPD, wie bei Schröder, sondern für die Partei entstanden. In der Innensicht der Partei sind bei Müntefering mehr SPD-Selbstverständlichkeiten beheimatet als bei Schröder. Die Sachfragen sind deshalb nach Einschätzung vieler SPD-Mitglieder besser bei ihm aufgehoben, so dass ihm auch mehr Macht zugeteilt werden sollte.

Im Bereich der Entscheidungspolitik hat jedoch der gleiche Müntefering in seiner Rolle als Fraktionsvorsitzender den harten Reformkurs Schröders mitgesteuert.3 Zurzeit ist nicht erkennbar, dass Müntefering davon grundsätzlich abrücken will. Die SPD hat somit im Bereich der Darstellungspolitik einen altbekannten Dualismus wieder hergestellt: Innovation und Gerechtigkeit. Was 1998 mit Schröder und Oskar Lafontaine als Erfolgsrezept tauglich schien, wird neu aufgelegt. Schröder als innovativer Reformkanzler und Müntefering als Hüter der sozialen Gerechtigkeit. Doch die Machttektonik von damals hielt nur sechs Monate. Wie lange trägt die Arbeitsteilung diesmal?

Vordergründig soll der Kanzler Handlungsspielraum im Arbeitsalltag erhalten. Gerade die Außenpolitik und die internationalen Beziehungen wurden immer wieder als arbeits- und zeitintensive Felder angeführt, die der Kanzler offenbar unterschätzt hatte. Folglich blieb zu wenig Zeit, um sich um die Partei zu kümmern. Das war die offizielle Version. In machtstrategischer Dialektik verzichtete der Kanzler auf die Parteimacht, um Handlungsmacht für das Regieren zu gewinnen. Faktisch ächzte die Partei unter der Bürde, eine Regierungspartei zu sein. Bevor sich die     Sehnsucht nach Oppositionszeiten ausbreiten konnte, half die Personalrochade, um den Glauben an eine dem Sozialstaat verpflichtete Sozialdemokratie zu stabilisieren. Hinter der Kritik am Parteivorsitzenden Schröder steckte immer auch eine Kritik an seinem spezifischen Führungsstil. Fast präsidentiell favorisierte er „going public“ statt Gremienarbeit. Für die angestrebte Neue Mitte verfing diese Strategie. Doch die Traditionsmilieus wenden sich schnell ab, wenn der Erfolg ausbleibt.

Kanzler und Parteiamt

Zeitgeschichtlich einmalig hat mit seinem Rücktritt vom Parteiamt ein amtierender Kanzler sichtbar auf politische Macht verzichtet. Aus Konrad Adenauers Kanzlerdemokratie wurde vollends Schröders Parteiendemokratie. Deutlicher kann kaum dokumentiert werden, wie sich der Einfluss der Parteien auf die Exekutive ausgeweitet hat. Schröders Rückzug stärkt kurzfristig die Regierungspartei und schwächt die Macht der Kanzlers. Denn ihm fehlt nunmehr die Partei als wichtige Quelle seiner Steuerungsmacht. Schröder ist in noch stärkerer Abhängigkeit vom Fraktionsvorsitzenden, wenn er Mehrheiten organisieren will. Zudem regt Machtverzicht stets den Appetit auf mehr an. So erscheint es derzeit nicht mehr völlig ausgeschlossen, dass die SPD auch einen anderen Kanzlerkandidaten 2006 ins Rennen schickt.

Die SPD ist zur Routine im Umgang mit ihren Chefs zurückgekehrt. Denn historisch betrachtet, neigt die SPD zum Sturz ihrer Parteivorsitzenden. Nachdem Willy Brandt 23 Jahre die Partei führte, wechselten die Chefs abrupt. Hans-Jochen Vogel zerrieb sich am Machtkampf mit Oskar Lafontaine. Björn Engholm musste nach einer Falschaussage zurücktreten. Rudolf Scharping verlor in der Auseinandersetzung mit Schröder den vermeintlichen Allianzpartner Lafontaine. Dieser putschte sich an den Parteivorsitz, bis ihn wiederum Schröders Netzwerker aus dem Ministeramt und dem Vorsitz der Partei zum Aufgeben trieben. Diesmal kam Schröder der innerparteilich gewachsenen Sehnsucht nach einem neuen Vorsitzenden mit seinem überraschenden Machtrückzug zuvor.  

Hält so eine Machtteilung viele Jahre, wie noch zu Kanzler Schmidts Zeiten? Unter Schmidt war die Machtbalance gedrittelt: Er war Kanzler, Brandt Parteichef und Herbert Wehner Fraktionsvorsitzender; immerhin konnte dieses Triumvirat acht Jahre lang die Macht sichern.

Müntefering ist durch sein Doppelamt heute tendenziell mächtiger und stärker als Schröder. Die Abhängigkeiten des Kanzlers von der Partei sind noch größer als zu Schmidts Zeiten, gerade weil die Macht nicht dreifach aufgeteilt ist. Sollte die offensichtlich wahrgenommene Distanz der Partei gegenüber ihrem Kanzler größer werden, ist die Gegenmacht heute viel wirkungsmächtiger zu organisieren. Die Kanzlerdemokratie hat gegenüber der Parteiendemokratie an Einfluss verloren. Andererseits geht die parlamentarische Arena gestärkt aus der Personalentscheidung hervor. Was die Opposition mit Müntefering vereinbaren kann, wird langfristig wichtiger sein als jede Abstimmung mit dem Kanzleramt. An der Spitze der parlamentarischen Steuerungszentrale stehen sich nunmehr bei den großen Parteien jeweils Fraktions- und Parteivorsitzende gegenüber. Der Bundestag ist Gewinner der Delegitimierung des Kanzlers.

Anmerkungen

1 Vgl. dazu auch Korte, Königsmörder. Die SPD und ihre Kanzler, in: Internationale Politik, 5/2003, S. 65–67.

2 Dazu z.B. Politikbarometer Februar 2004 der Forschungsgruppe Wahlen.

3 Zur Differenzierung von Darstellungs- und Entscheidungspolitik vgl. Korte/Manuel Fröhlich, Politik und Regieren in Deutschland. Entscheidungen, Prozesse, Strukturen, Paderborn u.a. 2004.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2004, S. 84-68

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