Paradoxon Deutschland
Eine geoökonomische Macht in der Zwickmühle
Die Euro-Krise hat eine neue, bestimmende Bundesrepublik hervorgebracht. Die einstige Zivilmacht Deutschland wird zu einer geoökonomischen Macht. Der Druck, Wirtschaftswachstum vor nicht-wirtschaftliche außenpolitische Interessen zu stellen, wird größer. Das könnte zu Spannungen mit den westlichen Partnern führen.
Zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung werden die Konturen der Berliner Außenpolitik erkennbar. Helmut Kohl hatte es einst noch für „ausgemachten Unsinn“ gehalten, dass Einheit und Umzug nach Berlin Westdeutschland in eine „andere Republik“ verwandeln werden. Während seiner Regierungszeit in den Neunzigern schien es, als behalte der Kanzler Recht. Doch gerade in den vergangenen zwei Jahren ist klar geworden, wie stark die deutsche Außenpolitik sich verändert. In einem Interview mit der IP hielt Kohl es sogar für notwendig zu warnen, „dass wir nicht alles verspielen“.
Es ist vor allem die Euro-Krise, die eine neue, bestimmende Bundesrepublik zum Vorschein gebracht hat. Die deutsche Öffentlichkeit machte andere Euro-Länder für die Krise verantwortlich und fürchtete die Entstehung einer Transferunion. Daher hat Kanzlerin Merkel eine kompromisslose Haltung gegenüber ihren Euro-Partnern eingenommen, besonders gegenüber den Staaten, die von einem Bankrott bedroht sind. So hat sie lange gezögert, ein Sparpaket für Griechenland zu unterstützen – und diesem im vergangenen Mai nur zugestimmt, nachdem sie harte Bedingungen und eine Beteiligung des IWF durchgesetzt hatte. Euro-Bonds, die die Märkte beruhigen, aber eine tiefere ökonomische Integration zur Folge hätten, steht Merkel ebenso kritisch gegenüber. Deutsche Hilfen sind zudem meist an Sparzwänge für die betroffenen Euro-Länder gebunden.
Doch während Deutschland offenbar immer öfter gewillt ist, seine Wirtschaftsmacht in Europa zum Einsatz zu bringen, bleibt es in der restlichen Welt weiterhin äußerst zögerlich. Das gilt gerade für militärische Einsätze, selbst wenn sie in einen multilateralen Rahmen eingebettet sind und humanitäre Katastrophen verhindern sollen, wie die Enthaltung bei der UN-Resolution 1973 im Sicherheitsrat veranschaulicht. Die Euro-Länder kritisieren Berlin also für seine Machtansprüche in der Euro-Krise, indes NATO-Verbündete die deutsche Zurückhaltung in Libyen anprangern. Um deutsche Außenpolitik erklären zu können, muss man diese paradoxe Kombination aus wirtschaftlicher Selbstbehauptung und militärischer Abstinenz verstehen.
Kontinuität und Wandel
Gemeinhin wird Deutschland als Zivilmacht angesehen. Doch das wirtschaftliche Durchsetzungsvermögen der Bundesrepublik passt nicht in dieses Konzept. Außerdem ist Deutschland von einem reflexhaften zu einem bedingten Multilaterismus gelangt und daher weit weniger als noch vor der Wiedervereinigung bereit, Souveränität an supranationale Institutionen abzugeben. Gleichzeitig versucht das Land, in multilateralen Organisationen wie den UN mehr Macht zu erlangen: Seit der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder bemüht sich Deutschland aktiv um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Die Identität der Bundesrepublik als Zivilmacht scheint so in den vergangenen zehn Jahren verwässert worden zu sein.
Einige Beobachter werten dieses Phänomen als Ausdruck einer neuen deutschen Normalität. Aber wenn Deutschland in seiner wirtschaftlichen Bestimmtheit und seinem selektiven Multilaterismus als „normal“ angesehen wird, bleibt es störrisch, vielleicht sogar „anormal“ in seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Interessanterweise war es genau dieser Bereich, in dem Deutschland in den neunziger Jahren die größten Veränderungen durchmachte, weil es anfing, eine größere Rolle im internationalen Krisenmanagement zu spielen. Im Kosovo-Krieg von 1999 und mit der Entsendung von vier deutschen Tornado-Kampfflugzeugen für den NATO-Einsatz schien sich die Bundesrepublik langsam an militärische Gewalt als außenpolitisches Instrument zu gewöhnen.
Diese Haltung wurde nach dem 11. September beibehalten. Schröder versprach den USA „uneingeschränkte Solidarität“ und steuerte Truppen zur Operation Enduring Freedom sowie zur späteren International Security Assistance Force (ISAF) bei. Die Zustimmung der Deutschen zur Afghanistan-Mission und zu Out-of-area-Einsätzen generell hat allerdings stetig abgenommen.1 Deutschlands strategische Kultur seit 1990 zeigt Zeichen der Kontinuität wie des Wandels.
Eine mögliche Erklärung für diesen Spagat zwischen Kontinuität und Wandel, Normalität und Anormalität ist das Konzept der geoökonomischen Macht. Laut Edward Luttwak nutzt eine solche Macht „hauptsächlich Handelsmethoden“ anstatt militärischen Drucks. Doch im Gegensatz zu einer Zivilmacht folgt diese Machtausübung einer „Logik des Konflikts“ und nicht einer Logik der Kooperation. Auch andere Staaten bedienen sich ihrer Wirtschaftskraft, um außenpolitische Ziele zu erreichen. Besonders zwischen China und Deutschland zeigen sich Parallelen: Beide sind Exporteure, die über große Handelsüberschüsse und private Rücklagen verfügen, und beide üben deflatorischen Druck auf ihre Handelspartner aus. China stützt sich bei seinem Aufstieg zur Weltmacht stark auf seine Wirtschaftskraft. Gleichzeitig aber baut es seine militärische Stärke aus. Deutschland als militärisches Leicht- und wirtschaftliches Schwergewicht ist hingegen das ideale Beispiel für eine moderne geoökonomische Macht.
Umdefiniton der Interessen
Seit etwa zwei Jahren geht die Rede, Deutschland setze seine nationalen Interessen inzwischen an die erste Stelle. Dies impliziert, dass es sie früher den europäischen oder generell westlichen Interessen untergeordnet habe. In Wirklichkeit geht es um eine Umdefinition: Während des Kalten Krieges strebte es nach Rehabilitierung und Sicherheit. Nach 1989 sind diese Ziele größtenteils erreicht worden. Daher haben sich nun auch die außenpolitischen Vorsätze geändert, Deutschland definiert seine Interessen heute vermehrt in wirtschaftlichen Größen und das ist den Entwicklungen nach der Vereinigung geschuldet.
Die Bundesrepublik ist seit 1989 vollständig souverän, aber die Kosten der Wiedervereinigung sowie der globalisierungsbedingte Wettbewerb haben zu größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten geführt. Deutsche Politiker stehen unter Druck, Wirtschaftswachstum den Vorrang vor nicht-wirtschaftlichen außenpolitischen Zielen zu geben, was während Gerhard Schröders Kanzlerschaft besonders deutlich wurde. Weil das nationale Interesse vor allem an den Bedürfnissen der Exportwirtschaft orientiert ist, haben deutsche Exporteure größeren Einfluss auf die Außenpolitik des Landes.
Doch da das Wachstum mitunter durch Exporte in autoritäre Länder wie China und Russland zustande gekommen ist, in denen der Staat die Wirtschaft dominiert, sind deutsche Unternehmen auch auf ihre Regierung angewiesen. Der Exportanteil des BIP ist stetig gewachsen und im Zuge dessen haben Staat und Wirtschaft vermehrt in einer symbiotischen Beziehung zusammengearbeitet. Luttwak nennt dies „gegenseitige Manipulation“. Deutschlands Abhängigkeit von Exportmärkten führte dazu, dass unter Schröder der Schwerpunkt in der Beziehung zu autoritären Staaten wie China und Russland auf dem Handel lag und nicht auf Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Angela Merkel verdient Lob für ihre Bemühungen, nach 2005 wieder eine Balance herstellen zu wollen. Trotzdem bleibt der Druck auf deutsche Politiker, Kritik an Menschenrechtsverletzungen zurückzuhalten, um die Beziehungen zu aufstrebenden nichtwestlichen Wirtschaftsmächten weiter entwickeln zu können. Gleich, ob und wie die Euro-Krise gelöst wird: Deutschlands energisches Vorgehen bei seinen wirtschaftlichen Interessen wird wahrscheinlich weiterhin zu Auseinandersetzungen mit den westlichen Partnern über die jeweilige Wirtschaftspolitik führen. Die Streitigkeiten zwischen den USA und Europas stärkster Wirtschaft auf dem G-20-Gipfel 2010, bei denen es um Konjunkturprogramme und Inlandsnachfrage ging, sind nur ein Beispiel hierfür. Konflikte mit aufstrebenden Volkswirtschaften sind allerdings auch möglich. Gerade China wird zum Konkurrenten deutscher Produzenten, bleibt aber gleichzeitig deren Absatzmarkt. Wie beim Disput um seltene Erden im vergangenen Jahr könnte es auch zu weiteren Kontroversen über Rohstoffe kommen, die sowohl deutsche als auch chinesische Produzenten benötigen.
Deutschlands bedingter und nicht mehr reflexhafter Multilateralismus hat auch zur Folge, dass das Land Entscheidungen unabhängig von – oder manchmal entgegengesetzt zu – seinen Alliierten und Partnern trifft. Zukünftig wird die Bundesrepublik wahrscheinlich nur in multilateralen Institutionen mitarbeiten, wenn es ihr passt, und Souveränität nur zögerlich an diese Institutionen abgeben. Während eine Zivilmacht versucht, die internationalen Beziehungen zu „zivilisieren“, indem die internationale Rechtsstaatlichkeit ausgeweitet wird, höhlt eine geoökonomische Macht das internationale System eher aus. Viel hängt von einer Reform des Sicherheitsrats ab und vor allem davon, ob Deutschland einen ständigen Sitz darin bekommt – was momentan eher unwahrscheinlich ist.
Gleichzeitig wird Deutschland wahrscheinlich nur ungern Ressourcen für die Lösung internationaler Konflikte bereitstellen und noch widerwilliger beim Einsatz von militärischer Gewalt sein, es sei denn, seine wirtschaftlichen Interessen wären direkt bedroht. Obwohl auch andere europäische Länder wie Frankreich oder Großbritannien ihre Verteidigungsbudgets kürzen, werden sie dennoch gemessen am BIP mehr ausgeben als Deutschland. Die NATO-Partner könnten sich deshalb abermals beschweren, dass die Bundesrepublik keine zu ihrer Größe und Wirtschaftsmacht passende Rolle bei globalen Sicherheitsfragen spielt.
Eine interessante Frage ist, wie Deutschland auf die französisch-britische Kooperation im Verteidigungs- und Nuklearbereich reagiert, die im vergangenen November vertraglich besiegelt wurde. Einige deutsche Politiker und Beamte sind für eine Beteiligung ihres Landes an dem Pooling-and-Sharing-Experiment der Briten und Franzosen, aber es ist unklar, was Deutschland überhaupt beitragen könnte. Im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien verfügt die Bundesrepublik nicht über nukleare Abschreckungsmittel. Berlin möchte auch nicht mehr unverhältnismäßig hohe Kosten dafür tragen, dass es seine Soldaten lieber aus Gefahrenzonen heraushält. Es besteht also nicht nur das Risiko einer zweigliedrigen NATO, sondern auch das einer zwischen Sicherheitsgebern und -nehmern geteilten EU.
Besondere Beziehungen?
Deutschlands Antwort auf den Arabischen Frühling ist ein besonders gutes Beispiel für das Paradox deutscher Macht. Im Februar besuchte Außenminister Guido Westerwelle den Tahrir-Platz in Kairo, im März verweigerte Deutschland seine Unterstützung für eine Militärintervention in Libyen. Einige Monate danach stellte sich heraus, dass die Bundesregierung 200 Panzer vom Typ Leopard 2 an Saudi-Arabien verkauft hatte – an ein Regime, das half, die Aufstände in Bahrain niederzuschlagen.
Der Nahe Osten ist immer schon eine heikle Region für die Bundesrepublik gewesen. Hier zeigten (und zeigen) sich die Spannungen zwischen politischen Erwägungen, der „besonderen Beziehung“ zu Israel, und wirtschaftlichen Interessen mit arabischen Staaten und dem Iran, die wichtige Öllieferanten sowie Absatzmärkte sind. Durch den Wandel von der Zivil- zur geoökonomischen Macht und weil die Nazivergangenheit für außenpolitische Fragen kaum noch eine Rolle spielt, haben die wirtschaftlichen Interessen im Nahen Osten an Bedeutung gewonnen. Dies zeigte sich auch im Streit um Sanktionen gegen den Iran.
Rüstungsexporte waren schon für die Zivilmacht Deutschland ein blinder Fleck. Obwohl sie militärische Einsätze als außenpolitisches Instrument ablehnte, verkaufte die Bundesrepublik immer wieder Waffen ins Ausland. Waffenverkäufe an Israel seit 1957 spielten eine wichtige Rolle in der Normalisierung der Beziehungen zum jüdischen Staat. 1981 wiederum kommentierte Kanzler Helmut Schmidt den kontroversen Verkauf von Leopard-2-Panzern an Saudi-Arabien privat mit der Bemerkung, die westdeutsche Außenpolitik dürfe nicht mehr von Auschwitz als Geisel genommen werden. Von dem Deal musste er dennoch absehen. Jetzt, da Deutschlands Rehabilitierung vollzogen ist, verdrängen wirtschaftliche Berechnungen politische Überlegungen.
Im Jahr 2000 verabschiedete Deutschland neue Richtlinien zur Beschränkung von Waffenverkäufen, doch das hat deutsche Rüstungsunternehmen seitdem nicht daran gehindert zu florieren. Nach Angaben des Internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) ist die Bundesrepublik der drittgrößte Exporteur von konventionellen Waffen, mit elf Prozent des globalen Marktes in den vergangenen fünf Jahren (hinter den USA mit 30 Prozent und Russland mit 23 Prozent, vor Frankreich mit 7 Prozent und Großbritannien mit 4 Prozent). Deutschland gibt gemessen am BIP weniger für Verteidigung aus als Frankreich oder Großbritannien, ist in geringerem Umfang an Auslandsmissionen beteiligt, verkauft aber mehr Waffen als diese beiden Länder. Und weil europäische Regierungen ihre Verteidigungsetats kürzen, gehen die Exporte vermehrt an Staaten außerhalb der NATO. Auch in diesem Bereich sind Indien und Brasilien wegen der Erhöhung ihrer Militärausgaben ebenso Wachstumsmärkte wie das undemokratische Saudi-Arabien.
Die große Frage ist, was aus Deutschlands „besonderer Beziehung“ zu Israel wird. Für Kanzlerin Merkel ist sie ein persönliches Anliegen; sie bezeichnete Israels Sicherheit als „Teil deutscher Staatsraison“. Während Merkel in der Euro-Krise aber der öffentlichen Meinung folgte, könnte sie in der Nahost-Problematik gegen die Mehrheitsmeinung stehen, speziell bei jüngeren Deutschen. So spricht sich die Kanzlerin strikt gegen eine volle UN-Mitgliedschaft Palästinas aus. Eine aktuelle Umfrage besagt hingegen, dass 84 Prozent der Deutschen die Staatlichkeit Palästinas befürworten und 76 Prozent möchten, dass Deutschland den Staat anerkennt – das sind höhere Anteile als in Frankreich und Großbritannien.2 Langfristig, unter öffentlichem Druck und durch ein Erstarken von Wirtschaftsinteressen zu Ungunsten politischer Erwägungen, könnte die „besondere Beziehung“ zu Israel geschwächt werden.
Deutschlands Rolle im Nahen Osten zeigt besonders deutlich die wachsende Spannung zwischen den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Landes. Nun mag ein Streben nach Schutz nicht mehr im Vordergrund stehen, sondern einer Definition nationalen Interesses vornehmlich in wirtschaftlicher Hinsicht gewichen sein. Trotzdem wird Deutschland sich nicht vollständig vom Westen trennen. Das Land wird sich weiterhin auf NATO (für Sicherheitsfragen) und EU (für Absatzmärkte) verlassen. Im geopolitischen Ganzen in das Land gutmütig. Dennoch könnte die deutsche Wirtschaft ihrer Umgebung entwachsen sein: Die Nachbarn können nicht mehr mithalten, aber Deutschland ist auch nicht groß genug, um Hegemon zu sein. Eine neue geoökonomische Variante der deutschen Frage steht im Raum.
HANS KUNDNANI ist Editorial Director beim European Council on Foreign Relations in London.
- 1Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung Oktober/November 2009, Kurzbericht, Januar 2010, S. 33–37.
- 2Danna Harmann: Leading EU countries support Palestinian statehood bid in UN, poll says, Haaretz, 12.9.2011.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 62-67