Gegen den Strich

01. Juli 2015

Papst Franziskus

Fünf Thesen auf dem Prüfstand

Seit mehr als 50 Jahren hat kein Papst so radikale Veränderungen angestoßen wie der Argentinier Jorge Bergoglio. Wird jetzt alles anders im Vatikan? Manches gewiss. Doch gerade da, wo viele Beobachter Neues von Franziskus erwarten, wird der Papst die Erwartungen enttäuschen müssen. Und das hat viel mit seiner Wende zum globalen Süden zu tun.

Mit Papst Franziskus erlebt die katholische 
Kirche endlich ihre Revolution 

Gemach. Natürlich, der Erzbischof von Buenos Aires brachte nicht nur eine offene und direkte Ansprache mit nach Rom, er zeigte sich auch von Beginn seines Pontifikats an weit empfänglicher für die Nöte des Volkes als so mancher seiner Vorgänger. Ähnlich wie einst Johannes XXIII. will der neue Papst ein Hirte sein, an dem der Geruch seiner Schafe haftet – ganz anders als Professor Ratzinger, ganz anders aber auch als „Superpapst“ Johannes Paul II. Mit „Franziskus“ wählte er den Namen des italienischen Nationalheiligen und des Schutzpatrons der Armen. Er fährt Gebrauchtwagen und wohnt nicht in den fürstlichen Papstgemächern, sondern im Gästehaus Santa Marta. Dort begeht er mit Mitarbeitern und wechselnden Gästen die Morgenmesse: Mal sind es Obdachlose, mal Bischofskollegen aus Europa oder Übersee, mal evangelikale protestantische Prediger aus charismatischen und Pfingstkirchen.

Die erste Reise des neuen Papstes führte ihn auf die Insel Lampedusa vor der Küste Nordafrikas – an jenen Ort, an dem die christliche Barmherzigkeit immer wieder strandet und das europäische Gewissen täglich Schiffbruch erleidet. Inmitten der Flüchtlinge feierte er auf einem aus zerschellten Booten gezimmerten Altar die Heilige Messe und bat um Verzeihung für die Trägheit der Herzen unter uns Bewohnern der Festung Europa, vor deren Pforten die Flüchtlinge aus Afrika oder Asien zu Hunderten ertrinken.

„Wer seine 80-jährige Mutter nur einmal im Jahr im Altersheim besucht“, sagt Papst Franziskus, „der begeht eine Todsünde.“ Oder: „Wer bin ich, dass ich über homosexuell Veranlagte den Stab brechen dürfte?“

All das ist gewiss ein radikaler Wechsel in der Amtsführung, im Stil der Ausübung der päpstlichen Autorität. Aber eine Revolution? Wer will, mag von einer „Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe“ sprechen, wie Kardinal Walter Kasper. Ob es am Ende tatsächlich einen Regimewechsel geben wird, ist keineswegs ausgemacht. Die von Franziskus eingesetzte internationale Kardinalskommission zur Verfassungsreform der Weltkirche, genannt „C 9“, hat bislang einige Male getagt; vorgelegt hat sie noch nichts.

Revolution oder nicht, die Wende war überfällig 

Das kann man wohl sagen. Gut, dass ein Lateinamerikaner auf dem Stuhle Petri sitzt. Endlich gibt die Alte Welt ihr Kommando in der Weltgemeinschaft der Katholiken ab – wenigstens symbolisch.

Denn obwohl Europa heute nur noch die Heimat von knapp einem Viertel der Katholiken weltweit ist, hat der alte Kontinent bislang noch stets die Bischöfe von Rom gestellt. Seit dem 11. Jahrhundert konzentrierten die Päpste immer mehr herrschaftliche und lehramtliche Kompetenzen der Gesamtkirche auf sich. Nach dem Verlust der weltlichen Macht nach außen beschränkte man sich ab dem 19. Jahrhundert darauf, innerhalb der Kirche ein zentralistisches Regime zu errichten, in dem bis zur Wahl des Polen Karol Wojtyla im Jahre 1978 die Italiener den Ton angaben.

So lange Europa die Mehrheit der katholischen Christen stellte, mochte das noch angehen. Im 21. Jahrhundert dagegen bilden die Europäer nur noch eine beständig schrumpfende Minderheit der Katholiken in aller Welt. Europa ist die Ausnahme, nicht die Zukunft der Christenheit. Bis zum Jahre 2050 wird die Anzahl der Christen auf weltweit fast drei Milliarden Seelen gewachsen sein. Das ist ein knappes Drittel der dann wohl mehr als neun Milliarden Menschen – fast ebenso viele Menschen werden dann voraussichtlich Muslime sein.

Das Christentum wächst auf allen Kontinenten – nur in seiner ehemaligen Hochburg Europa geht der Glaube zurück, schwindet die kulturelle Strahlkraft der kirchlichen Tradition. Um die Mitte des Jahrhunderts wird sich das – absolute wie relative – Schwergewicht der drei Milliarden Seelen zählenden Christenheit auf das subsaharische Afrika verschoben haben. Nach Hochrechnungen des amerikanischen Pew-Research-Centers wird sich in den kommenden vier Jahrzehnten die Zahl der Christen Afrikas auf über eine Milliarde Menschen verdoppeln.

Um in einer veränderten Welt zu bestehen, muss sich die katholische Corporate Identity bewähren – oder verändern. Denn die Konkurrenz schläft nicht: Bereits jetzt wird die Wachstumsrate der katholischen Christenheit durch die der neuprotestantischen Pfingstkirchen und der evangelikalen Bewegungen einerseits und durch die des Islam andererseits übertroffen.

Das gescheiterte Pontifikat Benedikts XVI. 
hätte man sich sparen können 

Hinterher ist man immer schlauer. Jorge Bergoglio hatte schon auf dem letzten Konklave 2005 als möglicher Papst gegolten. Doch erst das offenkundige und – immerhin! – mit seinem mutigen Rücktritt selbst eingestandene politische Scheitern Papst Benedikts XVI., dem allseits geachteten Hüter der Tradition, schuf im Kardinalskollegium die vorsichtige Bereitschaft, einen neuen Anfang zu wagen: die gewandelte globale Identität der katholischen Kirche endlich auch in der Papstwahl zum Ausdruck zu bringen.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Kirche nach Wojtylas langem und atemlosem Pontifikat schlichtweg erschöpft war. Papst Johannes Paul II. hatte seine weltweite Kampagne der Evangelisierung weitgehend am vatikanischen Apparat vorbei inszeniert. Der messianische Pole verstand die Kirche als Bewegung, als „ecclesia militans“ im Entscheidungskampf gegen die Mächte des Antichristen: zunächst des kommunistischen, kollektivistischen Atheismus, dann des individualistischen, kapitalistischen Hedonismus.

Dass die Kardinäle anschließend nach Rückversicherung in der Vergangenheit suchten, ist das verwunderlich? Zumal die Kurie weit davon entfernt war, ihre alten Machtpositionen einfach räumen zu wollen. Für ein Pontifikat der Konsolidierung erschien Ratzinger, der erfahrene Chef der Glaubenskongregation, die ideale Wahl. Als Papst scheiterte er jedoch auf der ganzen Linie.

Sein Kirchenbild, biografisch verwurzelt in der tröstlichen Heimat der katholischen Liturgie des Abendlands, bezog sich vorrangig auf das kirchliche Lehramt als „depositum fidei“ – auf den durch die Säkularisierung der westlichen Moderne bedrohten Schatz des Glaubens. Nicht in einer Konkurrenz zwischen Glauben und Vernunft lag für Papst Benedikt XVI. der Schlüssel zur Verkündigung der frohen Botschaft, sondern in ihrer Konkordanz – im Dialog mit Andersgläubigen, Ungläubigen oder Verächtern der Religion. Die katholische Kirche war glücklich im freiheitlichen Westen angekommen; nun galt es, Schnittmengen ihrer Übereinstimmung mit den anderen Religionen, vor allem aber den religiös desinteressiert gewordenen Gesellschaften Westeuropas auszuloten und die „unverhandelbaren“ Punkte dabei festzuschreiben.

Aber wie erfolgversprechend dieser kulturell eher traditionsbewusste und theologisch eher vernunftgläubige Kurs Ratzingers auch immer war – jedwede durchgreifende Initiative scheiterte bereits im Vorzimmer der Implementierung. Das mag damit zu tun haben, dass es Ratzinger an jederlei Sinn für die „Zeichen der Zeit“ mangelte. Das mag aber auch damit zu tun haben, dass seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) eine Reform des römischen Regierungsapparats und des Kommunikationsstils ausgeblieben waren.

So verhinderten die italienischen Fraktionen innerhalb der römischen Kurie auch die besten der gutgemeinten Initiativen Ratzingers. Er vermochte es nicht einmal mehr, beim Missbrauchsskandal des pädophilen Klerus so hart durchzugreifen, wie er es zweifellos vorhatte. Ohne jegliches Fingerspitzen­gefühl ließ er sich auf endlose Verhandlungen mit reaktionären und teilweise antisemitischen katholischen Traditionalisten ein. Und es machte die Dinge nicht einfacher, dass sich Ratzingers „Regierungschef“ Kardinal Tarcisio Bertone als völliger Versager erwies. Neue Akzente Benedikts hin zu einer theologisch inspirierten Ökologie oder seine Überlegungen zu den Grenzen einer ethisch „blinden“ Demokratie versandeten oder wurden von einer unprofessionellen Öffentlichkeitsarbeit zunichte gemacht.

Franziskus’ kirchliche Perestroika dient allein der Selbsterhaltung des römischen Systems 

Nein – oder nur, wenn er damit scheitern sollte. Revolutionen sind häufig Notbremsen der Geschichte, aber nicht jede Notbremse ist auch eine Revolution. Im Kirchenlatein wäre ohnehin „reformatio“ das bessere Wort, im Sinne der „ecclesia semper reformanda“: einer sich beständig selbst überprüfenden und korrigierenden Kirche. Ohne eine Strukturreform des Vatikans, ohne eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen päpstlicher Richtlinienkompetenz und kirchlicher Hierarchie einerseits sowie der sozialen, kulturellen und politischen Umwelt einer sich weltweit verlagernden Christenheit andererseits wird auch Franziskus’ „Revolution der Zärtlichkeit“ im römischen Apparat versickern.

Bergoglios eigene Terminologie ist noch präziser: Er spricht in seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ wiederholt von der „conversio“ (Umkehr, Bekehrung) der Kirche und sogar des Papstamts, was leider in der deutschen Übersetzung zur „Neuausrichtung“ verballhornt wurde. Die individuelle „conversio“, Bekehrung des Einzelnen, gründet in der „metanoia“, wie der Schlachtruf des Apostels Paulus lautete, einer Umkehr der Herzen. Die „conversio“ von Kirche und Papstamt hingegen verlangt nach einer Restrukturierung der gesamten kirchlichen Binnenkommunikation und „governance“. Es geht darum, jenen „synodalen Prozess“ zwischen örtlichen Bischofskirchen und Weltkirche in Gang zu setzen, wie ihn schon das Zweite Vatikanische Konzil – bislang folgenlos – gefordert hatte.

Während unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Bischofssynoden ohne Entscheidungskompetenz blieben, will Franziskus die horizontale Kommunikation stärken. Einen Neuanfang hat er mit einer zweistufigen Synode zu den „Herausforderungen der Familie“ eingeleitet. Diese außerordentliche Bischofs­synode, der ein außerordentliches Kardinalskonsistorium zum selben Thema und eine weltweite Umfrage unter den nationalen Bischofskonferenzen vorausgingen, fand im Herbst 2014 statt; die ordentliche Synode wird Ende 2015 folgen.

Solange die institutionellen Reformen der römischen Weltkirche hinter verschlossenen Türen der „C-9“-Gruppe verhandelt werden, bleibt die Personal­politik der wichtigste Prüfstein, ob es Franziskus wirklich ernst ist mit seiner „conversio“ der katholischen Weltkirche. Die Richtung von Reform und Erneuerung hat er mit den Kardinalsernennungen im Februar 2015 deutlich vorge­geben: Nur noch drei der 15 neuen Kardinäle entstammen dem alten römischen Apparat – die Mehrheit der neuen Mitglieder des Senats der Weltkirche kommt aus der so genannten „Peripherie“: aus Äthiopien, Vietnam, Mexiko, Myanmar, Thailand, Uruguay, Panama, den Kapverdischen Inseln und dem pazifischen Archipel von Tonga.
Und schließlich scheint Franziskus gewillt, das alte Erbhofprinzip aufzugeben, wonach die Inhaber der großen und mächtigen Bischofssitze wie Turin oder Venedig automatisch mit dem Kardinalspurpur ausgestattet werden. Kein Wunder, dass eine immer größer werdende Minderheit der alten Garde beginnt, sich vor Franziskus’ Courage zu ängstigen.

Also wird nun alles anders? 

Manches gewiss. Doch gerade da, wo viele Neuerungen von Franziskus erwarten, wird der Papst die Erwartungen enttäuschen müssen. Und das hat viel mit seiner Wende zum globalen Süden zu tun. Auch unter Franziskus werden Frauen keine Priesterämter bekleiden dürfen, wird es keine Schwulenehe als Sakrament geben und keine kirchliche Legitimation für Miet- oder Leihmutterschaften auf dem globalisierten genetischen Weltmarkt. Denn es sind gerade die neuen, jungen Kirchen der früheren „Dritten Welt“, welche „liberale“ Gender-Theologien oder eine Ablösung der biologischen Vater- und Mutterschaft durch neue und beliebig wandelbare symbolische Identitäten radikal ablehnen.

Neben Lateinamerika bildet für Franziskus die Christenheit Asiens den wichtigsten Bezugspunkt für die Zukunft der Kirche. In der Volksrepublik China etwa leben heute fast 70 Millionen Christen und damit mehr, als die Kommunistische Partei Mitglieder hat! Die Globalisierung erfordert eine neue, vielgestaltige, nicht allein auf Rom konzentrierte Ökumene. Für Franziskus wurzelt sie vor allem in der persönlichen Begegnung – auch mit Pastoren und Evangelisten der weltweit wachsenden Pfingstgemeinden sowie der charismatischen und evangelikalen Kirchen. Gleichzeitig wird er versuchen, die horizontale Methode eines synodalen Prozesses auch auf das Verhältnis zu den alten Patriarchaten der Kirchen des Ostens und den Erben der byzantinischen Orthodoxie am Bosporus, in Griechenland, Palästina oder auf dem Balkan auszuweiten.

„Die Leidensgeschichte Eures (des armenischen) Volkes setzt in gewisser Weise die Passion Jesu fort, aber in ihr ruht auch der Keim seiner Auferstehung“, sagte Franziskus Anfang April im Gespräch mit dem armenisch-katholischen Patriarchen Nersos Bedros XIX. Tarmouni, als er des Völkermords an den Armeniern gedachte. Und dem syrischen Volk rief er im September 2013 auf dem Petersplatz zu: „Wie viel Leid, wie viel Zerstörung, wie viel Not hat der Einsatz von Waffen in diesem gemarterten Land mit sich gebracht! Besonders unter Zivilisten und Unbewaffneten! Ich denke an die vielen Kinder, die das Licht der Zukunft nicht erblicken werden!“

Doch was folgt daraus? Papst Benedikt XV. hatte vor 100 Jahren vergeblich versucht, mit einer persönlichen Botschaft an Sultan Mehmet V. auf ein Ende des Genozids an der armenischen Christenheit einzuwirken; auch seine Mahnungen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben ungehört. Johannes Paul II. mobilisierte die europäischen und amerikanischen Friedensbewegungen gegen die westliche Intervention im Irak – aber er forderte den Westen auch dazu auf, der serbischen ethnischen „Säuberung“ an bosniakischen Muslimen Einhalt zu gebieten. Wenn nötig, mit Gewalt!

Später nahm dann Papst Benedikt XVI. Bezug auf die neue UN-Doktrin der Schutzverantwortung. Heute knüpft Bergoglios „Außenminister“ Parolin – vorsichtig – an diesen Diskurs an. Der Papst sieht in einer Legitimation durch die Vereinten Nationen die notwendige Bedingung für jegliche bewaffnete Intervention. Wäre also heute ein Einsatz der Waffen, Drohnen, Panzer gegen den terroristischen Totalitarismus des „Islamischen Staates“ im Irak, in Syrien oder Afrika ein „gerechter“, zu rechtfertigender Krieg?

Eine Strategie für echte Fortschritte im Dialog zwischen den drei „abrahamitischen“ Religionen schließlich hat Franziskus bislang nicht vorzuweisen. Sein Weg bleibt geprägt von persönlichen Freundschaften: Die Umarmung mit dem argentinischen Rabbiner Skorka und dem Leiter des islamischen Zentrums von Buenos Aires Omar Abboud war ein wichtiges Symbol. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Prof. Otto Kallscheuer, Philosoph und Politikwissenschaftler, ist Senior Fellow am Centre for Global Cooperation Research der Universität DuisburgEssen. Im Herbst erscheint „Der Papst in dieser Zeit“.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 58-63

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